Kurz nach Neun klingelte es. De Lapuente nahm sich noch vier, fünf Sekunden Zeit, um einen Satz, über dem er brütete, zu einem glimpflichen, hoffentlich stilsicheren Abschluss zu führen. Der Publizist, Blogger und Schriftsteller saß gerade über einem Manuskript, das vielleicht zu einem Buch taugen könnte, und konnte im Augenblick eigentlich keine Störungen gebrauchen. Und so vollendete sich der Satz, erstmal aus der Konzentration gerissen, nicht mehr - das heißt, ein Ende wies er schon auf, es war nur nicht zufriedenstellend und, hätte man den gesamten Satz nochmals gelesen, so wäre einem die Ungereimtheit in der Syntax aufgefallen. Dazu sollte es jedoch heute nicht mehr kommen - erst Wochen später würde De Lapuente die Datei wieder öffnen, den unstimmigen Satz streichen und mit ihm gleich auch noch das komplette Manuskript, das für ihn zu einem Memento mori geworden war.
Um kurz nach Neun klingelte es und es war der Postbote. Er stieg die sieben Stufen bis zur Haustüre des Empfängers hoch, trug ein microwellengroßes Paket vor sich her. De Lapuente erwartete keine Bestellung, ahnte aber, dass es sich um Naschwerk handeln könnte, das eine treue Leserin ihm gelegentlich zukommen ließ. Und diese mit Nougatrcreme gefüllten Aufmerksamkeiten aß er stets mit Wonne. Freudig kritzelte er seine Unterschrift, ein De mit einem ansatzweisen L, das zu einem geschnörkelten Strich überging, auf das Display eines übergroßen Taschenrechners, dem ihm der Postbote hinhielt, wobei das Plastikstäbchen, das wohl ein Stift sein sollte, nicht richtig anging. De Lapuente, verwickelt in ein Gemisch aus Freude auf Pralinen und geistiger Erarbeitung eines vertrackten Gedankens, den er ins Manuskript bannen wollte, schlurfte in die Küche, las das Etikett und staunte darüber, dass als Absender nicht besagte Leserin, ja ein Name stand, den er überhaupt nicht kannte. Olaf D. Ehlrit las er - den Namen hatte er zuvor noch nie gelesen. Ehlrit aus Zwickau. Sei es, wie es sei, dachte sich der Autor und durchschnitt mit einem Küchenmesser das Klebeband, fummelte die eingeklappten Seitenflügel der Kartonage beiseite, was nicht einfach klappen wollte, vermutlich waren die Flügel fixiert, riss sie sodann gewaltsam auseinander - und flog unter Donnergrollen und Pulverdampf quer durch die Küche, gegen die Anrichte.
Die nicht sehr professionell konzipierte Brief- beziehungsweise Paketbombe, riss dem Publizisten Daumen und Zeigefinger von der rechten, den Ringfinger von der linken Hand. Das Küchenmesser, mit dem er gerade noch das Klebeband durchtrennt hatte, rammte sich wie ein Geschoss in seinen Unterbauch. Das erwies sich als Glück - nur der Unterbauch. Etliche Rippenbrüche, Prellungen und Verbrennungen ersten und zweiten Grades. Beide Trommelfelle geplatzt. Dass die Paketbombe ein relativ stümperhafter Zusammenbau aus Haushaltsutensilien, Plastik und schlecht gelöteten Metallteilen war, teilte die Polizei später mit. Für De Lapuente schien sie gar nicht so unprofessionell - er hatte vermutlich während der Explosion gedacht, einem Bombenexperten höchster Weihen in die Falle geraten zu sein. Wenn er überhaupt gedacht hatte, denn diesen Anschein hatte es zunächst nämlich überhaupt nicht. Denn nach der Detonation irrte er verwirrt durch die Küche, wie die beiden Beamten, die zuerst am Tatort waren, später in ihrem Bericht festhielten.
Die Nachbarn alarmierten umgehend die Polizei, die erstmal herbeigeeilt, stürmisch klingelte. Und als niemand öffnete, entschieden die Beamten "Gefahr in Verzug" und brachen die Haustüre ohne richterliche Verfügung auf. In der Küche, die vom Eingangsbereich einblickbar war und ist, fanden sie einen aufräumenden De Lapuente vor. Er musste bereits Kugelschreiber und Notizblöcke, das was davon übrig war, aufgeklaubt haben. Auch Töpfe stapelten sich säuberlich auf dem Küchenboden. Überall lag Küchenrollenpapier über zermatschtem Obst. Scheinbar hatte er auch versucht, zerborstene Flaschen aufzukehren - die Glasscherben lagen noch in der Schaufel, der Besen obenauf. In einer Ecke lag verkohlter Karton, aus dem noch vereinzelt Flammen züngelten. Überall unvollendete Aufräumarbeiten, die das Chaos nur noch vergrößerten. Nur Sekunden bevor die Beamten in der Küche standen, hatte De Lapuente seinen Zeigefinger im Spülbecken gefunden. Erstaunt, schockiert und völlig verwirrt gaffte er den Finger an, nahm noch die Polizisten wahr und brach dann mit kreidebleichem Gesicht in sich zusammen.
Drei Wochen sollte er im Klinikum seiner Heimatstadt bleiben.
BILD Online berichtete noch am selben Tag darüber. Dort konnte man Blicke auf Fotos einer verwüsteten Küche richten. Wer hatte Journalisten dort hineingelassen? War das üblich nach so einem Ereignis? Das sind natürlich Fragen, die sich De Lapuente erst Wochen später, nachdem er die Berichterstattung chronologisch auswertete, stellte. Ominös schien allerdings das Motiv. Wer hatte Interesse daran, einen unbedeutenden Publizisten zu töten, fragten tagsdrauf eine Handvoll Feuilletonisten. Eine "motivarme Tat, die die polizeiliche Arbeit erschwere", urteilte ein Ermittler, Experte für Bombenattentate.
Erst zwei Tage später trudelte dann ein Bekennerschreiber bei der Ingolstädter Polizei ein. Mit Nationalsozialistischer Untergrund war das unterschrieben. Zwar ordnete die Polizei es recht schnell als Trittbrettfahrerei ein, denn der "NSU-Sumpf ist trockengelegt, wie uns das der Verfassungsschutz garantiert", gleichwohl war der rechtsextreme Impetus durchaus nachvollziehbar. Das mit NSU firmierte Blatt sprach davon, dass "ein Exempel statuiert" worden sei. Jemand, der selbst "lediglich der Sohn eines Gastarbeiters" sei und der "fortlaufend anständige Deutsche beschmutzt", ständig Partei für "asoziales Ausländerpack" und "muslimische Parasiten" ergreife, die "rassische Vermischung des Multikulturalismus" predige, täglich gegen "Deutschland hetzt" und damit "dem Vaterlande gezielt schadet", müsse mit jedem nur denkbaren "patriotischem Eifer" zur Einsicht gebracht werden.
Es war die grobe, pathetisch dümmliche Wortwahl, die die Beamten an der Echtheit der NSU zweifeln ließ. Das Milieu aus dem das Paket stammte, schien aber bewiesen. Ein findiger Beamter verwies darauf, dass der Name Olaf D. Ehlrit, ordnet man die Buchstaben in anderer Reihenfolge an, Adolf Hitler bedeuten könnten - dennoch sei der Wohnort des Absenders, Zwickau, kein Hinweis auf die NSU, die man ja auch als Zwickauer Gruppe kenne.
Die Medien berichteten in den ersten Tagen rege darüber. Das Bild der zertrümmerten Küche flimmerte durch die Wohnzimmer des Landes. Der Innenminister schaltete sich ein, besuchte De Lapuente für etwa drei Minuten am Krankenbett, woraus die Presse später "mehr als eine halbe Stunde" machte und stammelte etwas von "rückhaltloser Aufklärung" - nach seiner überstürzten Flucht aus dem Krankenzimmer, die er mit "Termine, Termine" entschuldigte, fing ihn eine Schar Journalisten vor dem Eingangsbereich des Ingolstädter Klinikums ab. Diese fragte wild durcheinander nach "seinen Gefühlen nach diesem Besuch" und nach "den jetzigen Plänen des Innenministeriums". Der Minister beschwichtigte, sprach von einem "bisherigen Einzelfall" und von "Prüfungen, die nun stattfinden müssen, um zu klären, ob es tatsächlich ein rechtsextremes Motiv war, das der Tat zugrunde lag". Zu seinen Gefühle sagte er nichts. Abends dann sah man ihn bei Plasberg, dort er sprach selbstsicher zum Thema "Hier stehe ich, ich kann nicht anders - vom Lohn der Geradlinigkeit".
De Lapuente selbst, obwohl ansprechbar, empfing niemanden von der Presse. Erst nach zwei Wochen räumte er zwei Journalisten, einem von der Jungen Welt und einem freien seiner Zunft namens Jens Berger, exklusiv ein Interview ein, das er von seinem Krankenbett aus geben wollte. Die BILD bat bereits am Tag der Explosion um einige Sätze - De Lapuente verweigerte das. Drei Tage später nochmals dieselbe Prozedur. Und als er nach einer Woche abermals ablehnte, gab es im Hause Springer kein Halten mehr und das einstige Opfer, mit dem man mitleidig litt, geriet nun in den Verdacht, "verfassungsfeindliche Texte publiziert" zu haben, "getragen auf einer Welle des Hasses gegen die BILD", wie ein fleißiger BILD-Journalist schrieb, der gleich noch einige Zitate De Lapuentes, die er auf seinem Blog ad sinistram veröffentlicht hatte, feilbot und die unterstreichen sollten, wie sehr der "Hass auf BILD mitwirkte, jemanden, dessen Vater hier als Gastarbeiter alle Chancen und Segnungen des Sozial- und Rechtstaates genossen habe, in die linke, linksextreme Ecke zu bugsieren".
Franz Josef Wagner, der am Tag nach dem Attentat noch seinen täglichen Brief mit "Lieber, Roberto D." überschrieb und der De Lapuente schnelle Genesung wünschte und Solidarität versprach, der schrieb, dass er "weinte, als er davon erfuhr, wie dieser junge Mann den Hass dieser rechten Dreckschweine erleiden musste" und der nachschob, dass er "nochmals weinte", diesmal vor Freude, "als er erfuhr, dass dieser junge Mann es überleben würde" (schrecklich dramatisiert, denn De Lapuente schwebte nicht eine Sekunde in Lebensgefahr!) - derselbe Wagner schrieb nun, dass er es für "eine Vergeudung von Talent - ja, De Lapuente, Sie haben Talent, ich gebe das zähneknirschend zu" halte, wenn man "schmutzige Hasstexte gegen BILD, gegen Sarrazin oder andere Leistungsträger der Gesellschaft" verfasse. "Schreiben Sie Liebesromane, nutzen Sie Ihr Talent, rate ich Ihnen - oder halten Sie Ihr Maul", beschloss er seinen Brief, der diesmal mit "Lieber Hassprediger aus dem Internet" begann. Aus Roberto D. war nun in der Springer-Presse De Lapuente geworden - es gab keinen Grund mehr für die Redaktion, Anonymität oder gar Pietät zu wahren.
Genesungswünsche erreichten den Blogger und Schriftsteller. Von Bekannten und Freunden - von solchen, die sich plötzlich wieder an ihn erinnerten. Natürlich auch Schmähschriften landeten am Krankenbett. Wer aber nun dachte, dass solche ehrabschneidende Zettel, auf denen Sachen standen wie "Verdient hast du es, Kommunistensau!" oder "Du hast dich aufgegeilt als Guttenberg am Boden lag. Jetzt geilen wir uns an deinem Schicksal auf!" oder "Wir beten jeden Abend, dass du noch verrecken tust!" - wer also nun dachte, dass solches Schmierwerk nur anonym auf Zettel gekritzelt wird, der täuschte sich arg. Als das Interview mit De Lapuente in der Jungen Welt und bei den NachDenkSeiten gleichzeitig erschien, was nebenbei gesagt, beiden Webpräsenzen Zugriffszahlen wie nie zuvor bescherte (die Printvariante der jW blieb leider von größeren Verkaufszahlen unbehelligt), da dämmerte das Thema De Lapuente, das bereits vom adenda setting zu verschwinden drohte, wieder herauf. Ein namhafter Kolumnist der BILD, der schon für Bundespräsidenten Bücher schrieb und diese von Vorständen aus Versicherungsgesellschaften finanzieren ließ, schrieb einen Tag nach Veröffentlichung des Interviews, dass dieses Land nun "die Stilisierung einer linken Opfermentalität erlebe" und, was man ehrlich sagen müsse, dass "De Lapuente vielleicht nicht selbst schuld an seinem Schicksal sei, wohl aber mitschuldig". Sicherlich müsse man den "Verbrechern nachjagen, aber nicht nur denen, sondern auch den ehrlosen geistigen Verbrechern, die mit ihren Worten Menschen dazu animieren, Gewalt zu ergreifen".
In der Münchner Runde, ausgestrahlt im Bayerischen Fernsehen, traf der Kolumnist dann auf den Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern Bedford-Strohm, der De Lapuente verteidigte. Man dürfe so nicht argumentieren, richtete er sich durchaus zornig gegen den Kolumnisten, man könne "niemanden Schuld dafür geben, Opfer von Gewalt geworden zu sein". Gleichwohl haben die Nationalsozialisten gesprochen, als sie meinten, dass die "Juden aufgrund ihres Verhaltens selbst schuld seien, dergestalt gehasst zu werden" - wo käme man hin, wenn "Vergewaltiger, sich damit vor Gericht verteidigen könnten, dass das Opfer selbst schuld sei, weil es doch einen Minirock trug"? De Lapuente sei Opfer, meinte Bedford-Strohm weiter. Auf zwei Ebenen sogar. Gewaltopfer und Opfer linker ideologischer Verblendung. Er brauche nun keine Moralpredigt, sondern Hilfe und Verständnis - gesühnt habe er nun wahrlich genug.
Zeitweilig verwiesen dann auch seriösere Blätter darauf, dass das Bombenattentat kein Verbrechen sei wie jedes andere, sondern nur so eine Art "Extremistenkampf, in dem Knallköpfe von rechts einen linken Knallkopf umbringen wollten", wie es ein Kommentator der FAZ schrieb. Natürlich habe die Justiz nun die Aufgabe, die Täter zu verurteilen, doch man müsse "auch die Beweggründe berücksichtigen und damit De Lapuente als Brandstifter des gegen ihn selbst entfachten Brandes entlarven". Solche Kommentare füllten nur noch kleine Spalten und bald schon war das Thema ziemlich abgehakt.
De Lapuente verließ das Klinikum nach drei Wochen. Er schrieb am Tag seiner Entlassung bei ad sinistram, das jetzt höher frequentiert wurde und dauerhaft Thema bei PI war, dass er noch Ruhe brauche, sich aber vornehme, seine Leidenschaft, das Schreiben, weiterzuverfolgen. Die Kommentarfunktion schaltete er ab - die Berge an Boshaftigkeiten, die dort hinterlassen wurden, wurden ihm zunehmend unerträglich.
Die mediale Ausschlachtung des eigenen Schicksals wäre nun der nächste Schritt gewesen, der üblicherweise nach Medienhofprotokoll vollzogen wird. Angebote trudelten auch ein. Angebote, bei Lanz oder Beckmann vorzusprechen, lehnte De Lapuente ab. RTL bat telefonisch darum, er möge in Stern TV auftreten. Woher hatten die eigentlich seine Telefonnummer? Die ARD klopfte an, bei Jauch wäre ein Stuhl frei, auch der Innenminister, der De Lapuente damals so nett besucht hätte, würde da sein. Der Spiegel stellte sich eine Story mit Fotos vor, acht Seiten - nachdem der Blogger auch das ablehnte, schrieb das Magazin einen zweiseitigen Bericht ohne Zutun De Lapuentes und verglich darin das Attentat mit jenem, das im Dezember 1993 dem Wiener Bürgermeister Zilk die Hand kostete. Seine Witwe empörte sich daraufhin öffentlich, weil ihr verstorbener Gatte mit "so einem Menschen" verglichen wurde.
Seit jenen Tagen bloggt De Lapuente nur noch sporadisch. Manuskripte für Bücher ruhen. Das Manuskript, an dem er saß, als der Postbote jenes Paket brachte, hat er, wie schon erwähnt, vernichtet. Denn als er es neuerdings geöffnet hatte und sich hineindachte, da entbrannte die Erinnerung in ihm und er brach geistig und moralisch zusammen.
Die Täter wurden nicht gefasst. Weder der Innenminister noch ein Mitarbeiter seines Stabes hat sich je nochmals bei De Lapuente gemeldet. Auch nicht, als er schriftlich anfragte, ob man bereits Vermutungen hege - darauf bekam er nie Antwort. Auf den Fall De Lapuente angesprochen, äußerte der Innenminister einige Monate später in einem Interview, dass man unter Umständen davon ausgehen müsse, dass das Attentat fingiert war - er sagte das "mit aller gebotenen Vorsicht", aber denkbar wäre schon, dass da jemand versuchte, die "rechte Gewalt zu dramatisieren, indem er sich selbst eine Bombe schickte und ein Bekennerschreiben von einem Komplizen an die Polizei schicken ließ". Beweise habe man keine - man untersuche das noch. Von wirklich rechten Gewalttätern gehe man aber mittlerweile nicht mehr aus...
Um kurz nach Neun klingelte es und es war der Postbote. Er stieg die sieben Stufen bis zur Haustüre des Empfängers hoch, trug ein microwellengroßes Paket vor sich her. De Lapuente erwartete keine Bestellung, ahnte aber, dass es sich um Naschwerk handeln könnte, das eine treue Leserin ihm gelegentlich zukommen ließ. Und diese mit Nougatrcreme gefüllten Aufmerksamkeiten aß er stets mit Wonne. Freudig kritzelte er seine Unterschrift, ein De mit einem ansatzweisen L, das zu einem geschnörkelten Strich überging, auf das Display eines übergroßen Taschenrechners, dem ihm der Postbote hinhielt, wobei das Plastikstäbchen, das wohl ein Stift sein sollte, nicht richtig anging. De Lapuente, verwickelt in ein Gemisch aus Freude auf Pralinen und geistiger Erarbeitung eines vertrackten Gedankens, den er ins Manuskript bannen wollte, schlurfte in die Küche, las das Etikett und staunte darüber, dass als Absender nicht besagte Leserin, ja ein Name stand, den er überhaupt nicht kannte. Olaf D. Ehlrit las er - den Namen hatte er zuvor noch nie gelesen. Ehlrit aus Zwickau. Sei es, wie es sei, dachte sich der Autor und durchschnitt mit einem Küchenmesser das Klebeband, fummelte die eingeklappten Seitenflügel der Kartonage beiseite, was nicht einfach klappen wollte, vermutlich waren die Flügel fixiert, riss sie sodann gewaltsam auseinander - und flog unter Donnergrollen und Pulverdampf quer durch die Küche, gegen die Anrichte.
Die nicht sehr professionell konzipierte Brief- beziehungsweise Paketbombe, riss dem Publizisten Daumen und Zeigefinger von der rechten, den Ringfinger von der linken Hand. Das Küchenmesser, mit dem er gerade noch das Klebeband durchtrennt hatte, rammte sich wie ein Geschoss in seinen Unterbauch. Das erwies sich als Glück - nur der Unterbauch. Etliche Rippenbrüche, Prellungen und Verbrennungen ersten und zweiten Grades. Beide Trommelfelle geplatzt. Dass die Paketbombe ein relativ stümperhafter Zusammenbau aus Haushaltsutensilien, Plastik und schlecht gelöteten Metallteilen war, teilte die Polizei später mit. Für De Lapuente schien sie gar nicht so unprofessionell - er hatte vermutlich während der Explosion gedacht, einem Bombenexperten höchster Weihen in die Falle geraten zu sein. Wenn er überhaupt gedacht hatte, denn diesen Anschein hatte es zunächst nämlich überhaupt nicht. Denn nach der Detonation irrte er verwirrt durch die Küche, wie die beiden Beamten, die zuerst am Tatort waren, später in ihrem Bericht festhielten.
Die Nachbarn alarmierten umgehend die Polizei, die erstmal herbeigeeilt, stürmisch klingelte. Und als niemand öffnete, entschieden die Beamten "Gefahr in Verzug" und brachen die Haustüre ohne richterliche Verfügung auf. In der Küche, die vom Eingangsbereich einblickbar war und ist, fanden sie einen aufräumenden De Lapuente vor. Er musste bereits Kugelschreiber und Notizblöcke, das was davon übrig war, aufgeklaubt haben. Auch Töpfe stapelten sich säuberlich auf dem Küchenboden. Überall lag Küchenrollenpapier über zermatschtem Obst. Scheinbar hatte er auch versucht, zerborstene Flaschen aufzukehren - die Glasscherben lagen noch in der Schaufel, der Besen obenauf. In einer Ecke lag verkohlter Karton, aus dem noch vereinzelt Flammen züngelten. Überall unvollendete Aufräumarbeiten, die das Chaos nur noch vergrößerten. Nur Sekunden bevor die Beamten in der Küche standen, hatte De Lapuente seinen Zeigefinger im Spülbecken gefunden. Erstaunt, schockiert und völlig verwirrt gaffte er den Finger an, nahm noch die Polizisten wahr und brach dann mit kreidebleichem Gesicht in sich zusammen.
Drei Wochen sollte er im Klinikum seiner Heimatstadt bleiben.
BILD Online berichtete noch am selben Tag darüber. Dort konnte man Blicke auf Fotos einer verwüsteten Küche richten. Wer hatte Journalisten dort hineingelassen? War das üblich nach so einem Ereignis? Das sind natürlich Fragen, die sich De Lapuente erst Wochen später, nachdem er die Berichterstattung chronologisch auswertete, stellte. Ominös schien allerdings das Motiv. Wer hatte Interesse daran, einen unbedeutenden Publizisten zu töten, fragten tagsdrauf eine Handvoll Feuilletonisten. Eine "motivarme Tat, die die polizeiliche Arbeit erschwere", urteilte ein Ermittler, Experte für Bombenattentate.
Erst zwei Tage später trudelte dann ein Bekennerschreiber bei der Ingolstädter Polizei ein. Mit Nationalsozialistischer Untergrund war das unterschrieben. Zwar ordnete die Polizei es recht schnell als Trittbrettfahrerei ein, denn der "NSU-Sumpf ist trockengelegt, wie uns das der Verfassungsschutz garantiert", gleichwohl war der rechtsextreme Impetus durchaus nachvollziehbar. Das mit NSU firmierte Blatt sprach davon, dass "ein Exempel statuiert" worden sei. Jemand, der selbst "lediglich der Sohn eines Gastarbeiters" sei und der "fortlaufend anständige Deutsche beschmutzt", ständig Partei für "asoziales Ausländerpack" und "muslimische Parasiten" ergreife, die "rassische Vermischung des Multikulturalismus" predige, täglich gegen "Deutschland hetzt" und damit "dem Vaterlande gezielt schadet", müsse mit jedem nur denkbaren "patriotischem Eifer" zur Einsicht gebracht werden.
Es war die grobe, pathetisch dümmliche Wortwahl, die die Beamten an der Echtheit der NSU zweifeln ließ. Das Milieu aus dem das Paket stammte, schien aber bewiesen. Ein findiger Beamter verwies darauf, dass der Name Olaf D. Ehlrit, ordnet man die Buchstaben in anderer Reihenfolge an, Adolf Hitler bedeuten könnten - dennoch sei der Wohnort des Absenders, Zwickau, kein Hinweis auf die NSU, die man ja auch als Zwickauer Gruppe kenne.
Die Medien berichteten in den ersten Tagen rege darüber. Das Bild der zertrümmerten Küche flimmerte durch die Wohnzimmer des Landes. Der Innenminister schaltete sich ein, besuchte De Lapuente für etwa drei Minuten am Krankenbett, woraus die Presse später "mehr als eine halbe Stunde" machte und stammelte etwas von "rückhaltloser Aufklärung" - nach seiner überstürzten Flucht aus dem Krankenzimmer, die er mit "Termine, Termine" entschuldigte, fing ihn eine Schar Journalisten vor dem Eingangsbereich des Ingolstädter Klinikums ab. Diese fragte wild durcheinander nach "seinen Gefühlen nach diesem Besuch" und nach "den jetzigen Plänen des Innenministeriums". Der Minister beschwichtigte, sprach von einem "bisherigen Einzelfall" und von "Prüfungen, die nun stattfinden müssen, um zu klären, ob es tatsächlich ein rechtsextremes Motiv war, das der Tat zugrunde lag". Zu seinen Gefühle sagte er nichts. Abends dann sah man ihn bei Plasberg, dort er sprach selbstsicher zum Thema "Hier stehe ich, ich kann nicht anders - vom Lohn der Geradlinigkeit".
De Lapuente selbst, obwohl ansprechbar, empfing niemanden von der Presse. Erst nach zwei Wochen räumte er zwei Journalisten, einem von der Jungen Welt und einem freien seiner Zunft namens Jens Berger, exklusiv ein Interview ein, das er von seinem Krankenbett aus geben wollte. Die BILD bat bereits am Tag der Explosion um einige Sätze - De Lapuente verweigerte das. Drei Tage später nochmals dieselbe Prozedur. Und als er nach einer Woche abermals ablehnte, gab es im Hause Springer kein Halten mehr und das einstige Opfer, mit dem man mitleidig litt, geriet nun in den Verdacht, "verfassungsfeindliche Texte publiziert" zu haben, "getragen auf einer Welle des Hasses gegen die BILD", wie ein fleißiger BILD-Journalist schrieb, der gleich noch einige Zitate De Lapuentes, die er auf seinem Blog ad sinistram veröffentlicht hatte, feilbot und die unterstreichen sollten, wie sehr der "Hass auf BILD mitwirkte, jemanden, dessen Vater hier als Gastarbeiter alle Chancen und Segnungen des Sozial- und Rechtstaates genossen habe, in die linke, linksextreme Ecke zu bugsieren".
Franz Josef Wagner, der am Tag nach dem Attentat noch seinen täglichen Brief mit "Lieber, Roberto D." überschrieb und der De Lapuente schnelle Genesung wünschte und Solidarität versprach, der schrieb, dass er "weinte, als er davon erfuhr, wie dieser junge Mann den Hass dieser rechten Dreckschweine erleiden musste" und der nachschob, dass er "nochmals weinte", diesmal vor Freude, "als er erfuhr, dass dieser junge Mann es überleben würde" (schrecklich dramatisiert, denn De Lapuente schwebte nicht eine Sekunde in Lebensgefahr!) - derselbe Wagner schrieb nun, dass er es für "eine Vergeudung von Talent - ja, De Lapuente, Sie haben Talent, ich gebe das zähneknirschend zu" halte, wenn man "schmutzige Hasstexte gegen BILD, gegen Sarrazin oder andere Leistungsträger der Gesellschaft" verfasse. "Schreiben Sie Liebesromane, nutzen Sie Ihr Talent, rate ich Ihnen - oder halten Sie Ihr Maul", beschloss er seinen Brief, der diesmal mit "Lieber Hassprediger aus dem Internet" begann. Aus Roberto D. war nun in der Springer-Presse De Lapuente geworden - es gab keinen Grund mehr für die Redaktion, Anonymität oder gar Pietät zu wahren.
Genesungswünsche erreichten den Blogger und Schriftsteller. Von Bekannten und Freunden - von solchen, die sich plötzlich wieder an ihn erinnerten. Natürlich auch Schmähschriften landeten am Krankenbett. Wer aber nun dachte, dass solche ehrabschneidende Zettel, auf denen Sachen standen wie "Verdient hast du es, Kommunistensau!" oder "Du hast dich aufgegeilt als Guttenberg am Boden lag. Jetzt geilen wir uns an deinem Schicksal auf!" oder "Wir beten jeden Abend, dass du noch verrecken tust!" - wer also nun dachte, dass solches Schmierwerk nur anonym auf Zettel gekritzelt wird, der täuschte sich arg. Als das Interview mit De Lapuente in der Jungen Welt und bei den NachDenkSeiten gleichzeitig erschien, was nebenbei gesagt, beiden Webpräsenzen Zugriffszahlen wie nie zuvor bescherte (die Printvariante der jW blieb leider von größeren Verkaufszahlen unbehelligt), da dämmerte das Thema De Lapuente, das bereits vom adenda setting zu verschwinden drohte, wieder herauf. Ein namhafter Kolumnist der BILD, der schon für Bundespräsidenten Bücher schrieb und diese von Vorständen aus Versicherungsgesellschaften finanzieren ließ, schrieb einen Tag nach Veröffentlichung des Interviews, dass dieses Land nun "die Stilisierung einer linken Opfermentalität erlebe" und, was man ehrlich sagen müsse, dass "De Lapuente vielleicht nicht selbst schuld an seinem Schicksal sei, wohl aber mitschuldig". Sicherlich müsse man den "Verbrechern nachjagen, aber nicht nur denen, sondern auch den ehrlosen geistigen Verbrechern, die mit ihren Worten Menschen dazu animieren, Gewalt zu ergreifen".
In der Münchner Runde, ausgestrahlt im Bayerischen Fernsehen, traf der Kolumnist dann auf den Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern Bedford-Strohm, der De Lapuente verteidigte. Man dürfe so nicht argumentieren, richtete er sich durchaus zornig gegen den Kolumnisten, man könne "niemanden Schuld dafür geben, Opfer von Gewalt geworden zu sein". Gleichwohl haben die Nationalsozialisten gesprochen, als sie meinten, dass die "Juden aufgrund ihres Verhaltens selbst schuld seien, dergestalt gehasst zu werden" - wo käme man hin, wenn "Vergewaltiger, sich damit vor Gericht verteidigen könnten, dass das Opfer selbst schuld sei, weil es doch einen Minirock trug"? De Lapuente sei Opfer, meinte Bedford-Strohm weiter. Auf zwei Ebenen sogar. Gewaltopfer und Opfer linker ideologischer Verblendung. Er brauche nun keine Moralpredigt, sondern Hilfe und Verständnis - gesühnt habe er nun wahrlich genug.
Zeitweilig verwiesen dann auch seriösere Blätter darauf, dass das Bombenattentat kein Verbrechen sei wie jedes andere, sondern nur so eine Art "Extremistenkampf, in dem Knallköpfe von rechts einen linken Knallkopf umbringen wollten", wie es ein Kommentator der FAZ schrieb. Natürlich habe die Justiz nun die Aufgabe, die Täter zu verurteilen, doch man müsse "auch die Beweggründe berücksichtigen und damit De Lapuente als Brandstifter des gegen ihn selbst entfachten Brandes entlarven". Solche Kommentare füllten nur noch kleine Spalten und bald schon war das Thema ziemlich abgehakt.
De Lapuente verließ das Klinikum nach drei Wochen. Er schrieb am Tag seiner Entlassung bei ad sinistram, das jetzt höher frequentiert wurde und dauerhaft Thema bei PI war, dass er noch Ruhe brauche, sich aber vornehme, seine Leidenschaft, das Schreiben, weiterzuverfolgen. Die Kommentarfunktion schaltete er ab - die Berge an Boshaftigkeiten, die dort hinterlassen wurden, wurden ihm zunehmend unerträglich.
Die mediale Ausschlachtung des eigenen Schicksals wäre nun der nächste Schritt gewesen, der üblicherweise nach Medienhofprotokoll vollzogen wird. Angebote trudelten auch ein. Angebote, bei Lanz oder Beckmann vorzusprechen, lehnte De Lapuente ab. RTL bat telefonisch darum, er möge in Stern TV auftreten. Woher hatten die eigentlich seine Telefonnummer? Die ARD klopfte an, bei Jauch wäre ein Stuhl frei, auch der Innenminister, der De Lapuente damals so nett besucht hätte, würde da sein. Der Spiegel stellte sich eine Story mit Fotos vor, acht Seiten - nachdem der Blogger auch das ablehnte, schrieb das Magazin einen zweiseitigen Bericht ohne Zutun De Lapuentes und verglich darin das Attentat mit jenem, das im Dezember 1993 dem Wiener Bürgermeister Zilk die Hand kostete. Seine Witwe empörte sich daraufhin öffentlich, weil ihr verstorbener Gatte mit "so einem Menschen" verglichen wurde.
Seit jenen Tagen bloggt De Lapuente nur noch sporadisch. Manuskripte für Bücher ruhen. Das Manuskript, an dem er saß, als der Postbote jenes Paket brachte, hat er, wie schon erwähnt, vernichtet. Denn als er es neuerdings geöffnet hatte und sich hineindachte, da entbrannte die Erinnerung in ihm und er brach geistig und moralisch zusammen.
Die Täter wurden nicht gefasst. Weder der Innenminister noch ein Mitarbeiter seines Stabes hat sich je nochmals bei De Lapuente gemeldet. Auch nicht, als er schriftlich anfragte, ob man bereits Vermutungen hege - darauf bekam er nie Antwort. Auf den Fall De Lapuente angesprochen, äußerte der Innenminister einige Monate später in einem Interview, dass man unter Umständen davon ausgehen müsse, dass das Attentat fingiert war - er sagte das "mit aller gebotenen Vorsicht", aber denkbar wäre schon, dass da jemand versuchte, die "rechte Gewalt zu dramatisieren, indem er sich selbst eine Bombe schickte und ein Bekennerschreiben von einem Komplizen an die Polizei schicken ließ". Beweise habe man keine - man untersuche das noch. Von wirklich rechten Gewalttätern gehe man aber mittlerweile nicht mehr aus...