Die unbekannte Welt der Jungs

Die unbekannte Welt der Jungs

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Marco war mittlerweile 5 Jahre alt. Er war ein aufgeweckter Junge, der gern und viel erzählte. Abends, wenn ich ihn aus der KiTa abholte, dann berichtete er mir sofort sehr ausführlich über seinen Tag und seine Erlebnisse: wie er einen großen Spielzeug-LKW auseinandergebaut und wieder zusammengebaut hatte - und dieser danach auch tatsächlich wieder fuhr; warum er sich mit dem einen Jungen gekloppt hatte; dass ihm heute das Gemüse nicht geschmeckt hatte und er viel lieber Fleisch gegessen hätte; dass er es traurig fand, dass die meisten anderen Jungs schneller rennen konnten als er; dass er unbedingt einen Gameboy haben wollte: wie toll er Superman und He-Man fand; dass er am weitesten spucken konnte; dass sein Pullermann größer war als der der meisten Jungs... was für Themen! Er ließ mich wortreich an seiner Jungs-Welt teilnehmen, die mir bis dato noch so unbekannt war.
In dieser Zeit dachte ich zum ersten Mal, wie wichtig es für ihn wäre, wenn er seinen Vater hätte,mit dem er solche Gespräche führen konnte. Ich gab mir redlich Mühe, ihm eine gute Zuhörerin zu sein und die Vater- und Mutterrolle gleichsam auszufüllen. Doch als Frau ist das fast unmöglich. Meine Gedankenwelt war eine andere, meine emotionale Welt war eine andere, weiblich eben. Und Marco ging seinen Weg in Richtung Männlichkeit und ich konnte ihn nur bedingt verstehen und ihn dabei unterstützen. Wie erzieht man als Frau einen Jungen, ganz ohne männliche Hilfe? Wie weiß ich, was er braucht, um ein Mann zu werden? Woran orientiere ich mich? Natürlich, in jeder Frau steckt ein Stück weit auch ein Mann und anders herum ebenso, trotzdem war es schwierig. Ich wurde als Mädchen erzogen, dachte weiblich, handelte weiblich, fühlte weiblich. Und ich konnte ihm nur das weiter geben, über was ich selbst verfügte.
Ich denke, das war auch der Grund, warum Marco ganz besonders an seinem Großvater hing. Mein Vater erfüllte ein Stück weit die Vaterrolle für meinen kleinen Sohn. Wenn Marco bei meinen Eltern im Laden war, dann wich er nicht mehr von der Seite seines Großvaters und textete ihn dermaßen voll, dass dieser manchmal regelrecht genervt war von dem Mitteilungsbedürfnis seines Enkels.

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Mein Vater produzierte damals für seine Mineralien- und Fossiliengalerie Wanduhren aus Schieferplatten mit Versteinerungen. Er musste Löcher in die Platten bohren, das Uhrwerk an die Schieferplatte montieren, die Zahlen und Zeiger anbringen. Diese Arbeit faszinierte Marco und so saßen die beiden so manchen Nachmittag zusammen und bohrten und klebten und schraubten gemeisam bis in den Abend.
Es war einfach rührend zu sehen, wie eifrig Marco versuchte, es seinem Großvater gleich zu machen. Mit der Unterstützung seines Opas durfte er sogar mit der Bohrmaschine die Löcher in die Schieferplatten bohren. Was war er jedes Mal stolz und glücklich, wenn er mir erzählen konnte, wie er wieder mit seinem  Opi Uhren gemacht hatte.
Marco schnappte natürlich manchmal auch Worte auf, die er noch nicht verstand, sie aber trotzdem nach eigenem Gutdünken benutzte. So sang er zum Beispiel an einem Sonntag immer das Wort "Schwuli" vor sich hin, immer und immer wieder "Schwuli, Schwuli, Schwuli"... so ging es eine ganze Zeit und er hörte einfach nicht damit auf. Da fragte ich ihn:"Marco, weisst Du eigentlich, was dieses Wort bedeutet?"  Er schaute mich mit seinen großen blauen Augen treuherzig an und sagte voller Überzeugung:"Ja, das weiß ich ganz genau! Schwul ist, wenn ein Mann eine Frau küsst, ohne dass sie miteinander verheiratet sind!"
Tja liebe Leser, so einfach ist das! Hand aufs Herz: waren wir nicht alle schon mal ein bisschen schwul? ;-)
Eigentlich war Marco ein lieber und auch folgsamer Junge. Nur manchmal, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte, dann konnte er recht drastische Maßnahmen ergreifen, um auf diese Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen.

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Er und Bianca hatten sich mit einem etwas älteren Nachbarsmädchen angefreundet. Mit ihr fuhren meine 2 Kinder gerne mit dem Fahrrad um die Häuserblöcke. Meist war es so, dass die Älteste vorweg fuhr, dann folgte Bianca und Klein-Marco bildete den Schluss des kleinen Fahrrad-Konvois. Das Mädchen fuhr ein altes Klapprad, so ein orangenes aus den 70-iger Jahren, das in der Mitte eine große, weiße Schraube hatte. Wenn man diese Schraube lockerte, dann konnte man das Fahrrad zusammenklappen.
Marco war es leid, immer das Schlusslicht zu sein und so fragte er die Mädchen, ob er auch mal ganz vorne fahren durfte. Doch die Mädchen ließen ihn nicht. Da wurde Marco wütend und als die Kinder keine Lust mehr zum Fahrrad fahren hatten, da schlich er sich unbemerkt an das Klapprad, öffnete die weiße Schraube, entfernte sie und ließ sie verschwinden, indem er sie kurzerhand in die Mülltonne warf. Da lag das Klapprad nun in 2 Teilen und konnte nicht mehr zusammengefügt werden, denn Marco weigerte sich erfolgreich damit heraus zu rücken, wo er die Schraube versteckt hatte. Das hatte zur Folge, dass ein in Tränen aufgelöstes Nachbarsmädchen bei mir klingelte und mich um Hilfe bat. Nach ein paar ernsten Worten, die zwischen Marco und mir hin und her gingen, verriet er mir, dass er die weiße Schraube in die Mülltonne geworfen hatte. So blieb mir nichts anderes übrig, als im Müll zu wühlen und die Schraube, die natürlich ziemlich weit unten war, heraus zu fischen. Das Fahrrad war schnell wieder zusammengeschraubt und fahrbereit. Marco entschuldigte sich nur widerwillig bei dem Mädchen, schließlich war sie seiner Meinung nach selbst schuld, dass er ihr Fahrrad demontiert hatte. Doch ein Gutes hatte seine Aktion: nun wurde er von den größeren Nachbarskindern ernster genommen und ab sofort durfte er auch manchmal den Fahrradkonvoi anführen.
Es folgten noch einige Aktionen von Marco, die man unter "Lausbubenstreiche" ablegen kann. Ein anderes Mädchen hatte ihn mal geärgert, da schraubte er gleich die Ventile des Vorder- und Hinterreifens heraus und versenkte auch diese in der Mülltonne. Diesmal stand nicht  nur ein weinendes Nachbarsmädchen bei mir vor der Wohnungstüre, ihr wütender Vater war gleich mitgekommen. Die kleinen Fahrradventile fand ich nicht mehr in der Mülltonne. Gott sei Dank hatte ich Ventile für die Fahrräder meiner Kinder in Reserve, so konnte ich dem aufgebrachten Vater sofort zwei neue Blitzventile in die Hand drücken. Marco musste sich auch dieses Mal entschuldigen, was er wieder widerwillig tat.
Es folgten eine aufgeschlitzte Plastik-Schutzhaube von dem Auto des Nachbars (so ein rostiger Nagel, den man auf der Straße findet, kann ganz schön zerstörerisch sein) und ein Riesen-Schneeball mit mindestens 50cm Durchmesser, den man so schön in der eigenen Badewanne schmelzen lassen konnte. Leider dauerte das Schmelzen zu lange, die Zeit, bis ich nach Feierabend nach Hause kam, reichte nicht zum kompletten Abschmelzen, auch heißes Wasser, das die Kinder drüber laufen ließen, beschleunigte den Schmelzprozess nur langsam. Was tut man als Kind also, wenn man schnell einen 50cm-Durchmesser-Schneeball verschwinden lassen muss, weil sonst die Mutter eventuell schimpfen würde, weil dieser die Badewanne blockierte? Genau! Man wirft ihn kurzerhand aus dem Fenster! Aus dem Fenster im Dachgeschoss, damit es so richtig laut kracht, wenn der Schneeball unten auf dem Weg zerschellt! Was für ein Glück, dass in diesem Moment niemand auf dem Weg unterwegs war, ich bekomme heute noch eine Gänsehaut, wenn ich darüber nachdenke, was da hätte passieren können.
Einmal brachte Marco einen Tausendfüßler nach Hause. Den wollte er sich als Haustier halten. Nach einer endlosen Diskussion darüber, dass er das Tier nicht in der Wohnung behalten konnte und er endlich bereit war, mit Tränen in den Augen den Tausendfüßler wieder raus zu bringen... war das Tier spurlos verschwunden. Irgendwie war es aus dem Behältnis, in das Marco es getan hatte, entwischt. Eine fieberhafte Suche nach dem Tausendfüßler ging los, wir fanden ihn aber nie wieder. Er war und blieb verschwunden.
Damals war Marcos Welt noch in Ordnung. Er war ein fröhlicher und lieber Lausbub, der ab und an seine Streiche ausübte.
Ich war stolz auf meine beiden Kinder, die so früh schon selbstständig werden mussten, weil ich so wenig Zeit für sie hatte. Alles in allem waren wir eine glückliche Ein-Eltern-Familie mit den ganz normalen Katastrophen, die in jeder anderen Familie auch passieren.


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