Die Tyrannei des Systems

Einmal mehr habe ich einen Artikel gefunden, in dem zutreffend analysiert wird, dass die vor einigen Jahrzehnten gängige und menschenfreundliche These, dass die Menschen dank des technologischen Fortschritts und der damit einhergehenden Rationalisierung der Arbeitsprozesse in der Zukunft weniger arbeiten müssten, kein bisschen zutrifft: Im Gegenteil, obwohl alles immer weiter automatisiert und rationalisiert wird, arbeiten die Menschen neuerdings wieder mehr. Und nicht nur das – die Arbeit an sich wird immer härter, dichter, intensiver – tyrannischer, wie der Mediziner Ulrich Renz es in seinem Buch Tyrannei der Arbeit beschreibt.

Ja, und das liegt natürlich auch daran, dass man den Leuten mit der gängigen Krisenrhetorik klar macht, dass sie verdammt noch mal härter ranklotzen müssen, weil uns Milliarden Inder und Chinesen im Nacken sitzen, die noch viel härter ranklotzen. Und daran, dass die Chefs ihren Mitarbeitern mit raffinierten Management-Techniken einreden, immer noch effektiver sein zu können und sein zu müssen – weil das sich es einfach gut anfühlen würde, erfolgreich zu sein. Dabei ist es letztlich nur gut für die Chefs, weil ihre Mitarbeiter noch mehr fürs gleiche Geld leisten und sie sich am Ende noch mehr selbst in die Taschen stecken können.

Das Irre dabei ist heute aber, dass dermaßen viel Arbeit für das Überleben an sich gar nicht mehr erforderlich wäre – bei der heute erreichten Produktivität könnte man es tatsächlich mit sehr viel weniger Arbeits- und Materialeinsatz gut sein lassen, und doch würden alle Menschen satt. Das schreibt Renz so zwar nicht, aber es könnte so sein, wenn wir nicht alle Sklaven eines tyrannischen Systems wären, das sich Kapitalismus nennt. Hier komme ich nämlich zu ganz anderen Schlüssen als Renz.

Renz schiebt den vom System geforderten Zwang, immer mehr Profit erwirtschaften zu müssen, auf die angebliche Veranlagung des Menschen, immer mehr zu wollen. Der Mensch sei, so postuliert er, nun einmal evolutionsbedingt auf Mangel gepolt – unsere Vorfahren mussten ja ständig damit klar kommen, dass es nicht immer alles gab und entsprechend vorsorgen: Wer größere Vorräte anlegen kann, also mehr hat, steht nun mal besser da, wenn der Winter länger als erwartet dauert. Heutzutage, in Zeiten des Überflusses, kämen wir damit nicht klar und würden halt immer noch mehr haben müssen. Weil wir halt so drauf sind.

Das halte ich für ausgemachten Unsinn, denn ich kenne eine ganze Menge Menschen, die gern weniger von allem hätten – vor allem weniger Arbeit und weniger Stress – wenn man denn mit weniger Arbeit noch seinen Lebensunterhalt bestreiten könne. Aber genau das ist ja das Problem: Wir können es uns nicht aussuchen, wie wir es denn gern hätten. Oder doch nur in einem sehr geringen Maße. Natürlich kann man sich bewusst für ein Leben auf Hartz-IV-Niveau entscheiden und sich dann daran freuen, wie man sich auch ohne Arbeit ein erträgliches Überleben einrichtet – ich kenne einige Hartz-IV-Bezieher, die sich mit dem Leben auf Grundsicherung ganz gut eingerichtet haben. Das geht, wenn man das will, aber es ist schon ein extremer Lebensstil, den man wirklich wollen muss – eine gewisse Leidenschaft für Verzicht und Entsagung sollte schon vorhanden sein. Ein solcher Lebensstil wird fürs gemeine Volk übriges seit Jahrtausenden propagiert – die Kirchen der Welt sind damit ziemlich reich geworden.

Und ja, manchmal denke ich mir schon, dass ich ganz schön bescheuert bin, mich jeden Tag von meiner Firma ausbeuten zu lassen, damit ich meine Miete selbst bezahlen kann. Ich käme durchaus damit klar, den ganzen Tag Bücher zu lesen oder vielleicht sogar welche zu schreiben, gute Filme zu sehen, Sport zu treiben oder auch nur spazieren zu gehen, mit Ruhe und Andacht Mahlzeiten zuzubereiten – ich brauche meinen Job nun wirklich nicht, um die Tage rum zubringen. Ich brauche das Geld. Und zwar nicht, um mir irgendwelchen Luxuskonsum zu finanzieren, sondern für die ganz normalen Dinge: Wohnung, Essen, Kleidung, Internet, Telefon und so weiter. Vor 15 Jahren hat dafür noch ein Teilzeitjob gereicht, jetzt muss ich Vollzeit arbeiten. Und das liegt nicht daran, dass ich jetzt ganz andere Ansprüche hätte oder meine Arbeit so dermaßen geil finde. Sondern alles ist sehr viel teurer geworden. Der Druck von außen wird immer höher.

Und genau das ist der Punkt, an dem diese Analyse, wie so viele andere auch, einen blinden Fleck hat: Es ist nicht die Evolution, es ist nicht die Gier (zumindest nicht die Gier des Durchschnittsmenschen, sondern höchstens die Gier der Chefs) nach immer mehr und es ist auch nicht die protestantische Arbeitsethik, die die Menschen heutzutage dazu bringt, immer mehr arbeiten zu müssen. Es ist dieses beschissene Wirtschaftssystem, das durch seine wunderbares Funktionieren zu einer Verarmung immer breiterer Schichten führt, und damit natürlich auch zu einer immer härteren Konkurrenz. Es geht darum, in dieser Konkurrenz überleben zum müssen. Genau deshalb lassen sich vernunftbegabte Wesen auf diese ganze Scheiße ein. Deshalb ist es auch kompletter Unsinn, wenn Renz sich hinstellt und sagt, jeder Einzelne müsse sich die Frage stellen, wie er oder sie denn leben wolle. Wer kein “genug” finden könne, würde immer Sklave seiner Arbeit bleiben und seine Träume vor sich her schieben.

Wie soll man das den Millionen Geringverdienern klar machen, die zwischen den zwei bis drei Scheißjobs, die sie für ihr Überleben machen müssen, gar keine Zeit haben, über ihre Träume nachzudenken? Die traurige Realität ist, dass es für die meisten Menschen schon deshalb kein “genug” geben kann, weil sie ohnehin für ein halbwegs anständiges Leben viel zuwenig haben.

Renz argumentiert, dass das Phänomen des Mehr-als-nötig-Arbeitens ja über alle Einkommensklassen verteilt zu beobachten sei. Das mag sein. Bei den Besserverdienern ist der Konkurrenzgedanke wahrscheinlich eher ein sportlicher, während die Geringverdiener tatsächlich keine anderer Wahl haben, also so viel zu arbeiten, wie überhaupt geht. Auch Renz schiebt die Verantwortung dafür, dass es auf dieser Welt irgendwie ganz schön schief läuft, den einzelnen Menschen zu, die faktisch überhaupt nichts zu entscheiden haben. Was passiert denn, wenn ich mich jetzt entscheide: also 10 Stunden pro Woche reichen doch völlig aus, mehr arbeite ich nicht? Dann habe ich ganz schnell gar keinen Job mehr und jede Menge Zeit, meine Träume zu leben. Ein Traumleben wird das dann aber mit Sicherheit nicht.

Insofern lohnt es sich natürlich schon, sich zu fragen, wie man denn leben will. Aber nicht nur als Individuum, sondern als Gesellschaft. Und da muss man sich halt dazu aufschwingen, grundsätzlichere Fragen zu stellen. Etwa: Warum unterwerfen wir uns einem idiotischen Gesellschafts- bzw. Wirtschaftssystem, das uns zu immer mehr und immer härterer Arbeit zwingt, wenn wir das eigentlich gar nicht wollen? Es hilft ja nicht, wenn einzelne aussteigen und sich – in der Regel dann wieder auf Kosten der anderen – ein schönes Leben machen. Arbeit ist nämlich kein Selbstzweck, auch wenn uns das mit diesem ganzen Selbstverwirklichungsgedöns eingeredet wird. Arbeit hat einen Zweck – und in unserer Gesellschaft leider nur diesen einen: Das Erwirtschaften von Profit. Irgendwer wird durch die geleistet Arbeit etwas reicher – in der Regel nicht derjenige, der diese Arbeit tatsächlich leistet. Insofern ist es ziemlich esoterisch, hier die Sinnfrage zu stellen – der Sinn ist klar. Die Frage, die gestellt werden muss, ist die Systemfrage. Und wer der Ansicht ist, dass die Leute doch lieber weniger arbeiten und dafür besser leben sollen, kann sie auch ganz einfach beantworten: Der Kapitalismus muss weg.



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