Die traumatische Turngala

Es ist Sonntagmorgen. Freue mich auf einen faulen Tag auf dem Sofa, den ich größtenteils mit Lesen und Fernsehen zu verbringen gedenke. Die Freundin hat allerdings andere Vorstellungen bezüglich eines adäquaten sonntäglichen Zeitvertreibs für einen Vater. Sie verkündet, wir hätten drei Karten für eine Turngala. Eigentlich wollte ihre Mutter, diese mit den Kindern besuchen, aber da sie leider kurzfristig verhindert sei, dürfte ich mit den Kindern dort hingehen.

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Verziehe das Gesicht. Obwohl ich im Allgemeinen ein großer Sport-Freund bin – zumindest so lange er im Fernsehen übertragen wird und ich ihn nicht ausüben muss –, bin ich an Kunstturnen nur mäßig interessiert. Ich schaue mir allenfalls alle vier Jahre bei Olympischen Spielen die Turnwettbewerbe an. Sofern nicht parallel Tontaubenschießen, Synchronschwimmen oder Dressur-Reiten läuft.

Möchte die Freundin gerade fragen, warum sie denn nicht die Kinder begleitet, als Tochter und Sohn in Jubel ausbrechen. Es sei total toll, mal etwas mit mir zu unternehmen. Schaue die Freundin misstrauisch an. Ob sie die Kinder mit Süßigkeiten bestochen hat, damit sie diese Sätze sagen? Man darf sie einfach nicht unterschätzen!

Die sorgfältig von der Freundin orchestrierte Gruppen-Dynamik lässt mir keine Zeit, eine einigermaßen plausible Erklärung vorzubringen, warum ich heute unter keinen Umständen die Wohnung verlassen darf. Verdammt! Füge mich also meinem Schicksal, verabschiede mich schweren Herzens vom Sofa und mache mich mit den enthusiastischen Kindern auf den Weg.

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Gut eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn erreichen wir die Halle. Die Kinder sind hungrig und verlangen nach etwas Essbarem. Kaufe drei Brezeln im Wert eines zweiwöchigen all-inclusive Club-Urlaubs. Mit unserem kostbaren Laugengebäck setzen wir uns auf unsere Plätze.

Mustere die anderen Zuschauerinnen und Zuschauer in der Halle. Die Turngala scheint eine eher seniorige Zielgruppe anzusprechen. Zähle mich als Enddreißiger in der Halle zur Enkel-Generation, Tochter und Sohn entsprechend zu den Urenkeln.

Die meisten der Seniorinnen und Senioren machen einen sehr rüstigen Eindruck. Wahrscheinlich hat Turnvater Jahn sie persönlich in die Geheimnisse der gesundheitsfördernden Gymnastik eingeweiht. Habe erst kürzlich gelesen, dass regelmäßiger Sport bei älteren Menschen den Alterungsprozess verlangsamt. Daher obliegt es wahrscheinlich mir, die Altersversorgung dieser Heerscharen von Methusalemen zu erarbeiten und die Rentenkassen zu füllen. Wie konnte Norbert Blüm da nur von den sicheren Renten phantasieren? Wahrscheinlich hat er keinen Sport gemacht. Der soll sich ja auch positiv auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit auswirken.

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Werde aus meinen trübsinnigen Gedanken gerissen, als hunderte von Kindern in Cowboy-Kostümen auf die Bühne stürmen. Kaum haben sie ihre Positionen eingenommen, erschallt aus den Hallenlautsprechern der unsägliche 90er-Jahre-Hit „Cotton Eye Joe“. Es sind Situationen wie diese, in denen ich dem naiven und lebensfremden Sprichwort „Wo gesungen wird, da lass dich nieder, böse Menschen kennen keine Lieder“ nicht uneingeschränkt zustimmen möchte.

Während mir die Gesichtszüge entgleiten und sich juckende Ekzeme an meinem ganzen Körper bilden, klatscht sich der Rest der Halle in einer Mischung aus Musikantenstadl und Reichsparteitag rhythmisch in Ekstase. Auch Tochter und Sohn sind zu meinem Entsetzen mit Feuer und Flamme bei der Sache. Frage mich, ob sich die Investitionen in die musikalische Früherziehung der beiden wirklich gelohnt hat, damit sie jetzt hier sitzen und den Rhythmus von Liedern mitklatschen, die zum Bodensatz der Popmusik zu zählen sind.

Mal wieder macht es sich negativ bemerkbar, nicht über ein Königreich zu verfügen, das ich gegen einen Flachmann mit Hochprozentigem eintauschen könnte, um mir die Musik erträglich zu saufen. Stecke mir stattdessen Stücke der wertvollen Brezeln in die Ohren.

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Nachdem die Kinder die Bühne verlassen haben und die Musik endlich verstummt ist, ergreift ein Funktionär irgendeines Berliner Sportverbandes das Wort und beschwört die Einheit der Turnfamilie. Finde die Familien-Metapher recht passend, erinnern viele der Zuschauerinnen und Zuschauer doch an entfernte Großtanten und –onkel, auf die man gnädigerweise nur alle Jubeljahre auf Familienfeiern trifft, zu denen man aber dennoch nett ist, um sich die Möglichkeit zu bewahren, in ihrem Testament bedacht zu werden.

Nun fordert der Sportfunktionär das Publikum auf, ihre Zustimmung für eine Berliner Olympiabewerbung 2024 zum Ausdruck zu bringen, indem sie mit eigens dafür ausgelegten Klatschpappen affirmativen Lärm erzeugen. Eigentlich habe ich nicht prinzipiell etwas gegen Olympische Spiele in Berlin einzuwenden, aber diese zentralkommiteehaft von oben verordnete Akklamation ist mir doch suspekt. Insbesondere da der Senior hinter mir penetrant wie ein Staubsaugervertreter und ausdauernd wie der Duracell-Hase in mein Ohr klatscht. So beginnen Amokläufe!

Wenn der Typ hinter mir noch einmal mit seiner Klatschpappe in mein Ohr klatscht, gibt es heute Abend einen ARD-Brennpunkt. #turnfest

— Familienbetrieb (@Betriebsfamilie) 18. Januar 2015

Überlege, ob es wohl sozial akzeptiert ist, einem 80-jährigen Herrn eine Klatschpappe zu entwenden, um ihm damit wie Kasperle dem Krokodil auf den Kopf zu hauen. Wahrscheinlich nicht.

Zum Abschluss seiner Rede wünscht der Verbandsfunktionär viel Spaß bei dem Programm und leistet dazu mit seinem Abgang von der Bühne einen ersten Beitrag.

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In den folgenden zwei Stunden wird tatsächlich das der Veranstaltung den Namen gebende „Feuerwerk der Turnkunst“ zum Besten gegeben und wir bewundern atemberaubende Akrobatik an Reck, Ringen, Seitpferd, Trampolin und mit dem Rhönrad. Auf der Show-Fläche wimmelt es nur so von ausschließlich mit engen Hosen bekleideten Männern, die ihre entblößten muskelbepackten Oberkörper präsentieren. Ihr Körperfettanteil bewegt sich im Promille-Bereich und ihre Muskeln zeichnen sich in einer Deutlichkeit ab, wie man sie allenfalls bei den Plastinatfiguren von Gunther von Hagens sieht. Ich hasse sie dafür. Und mich hasse ich dafür, morgens nicht Laufen gegangen zu sein, dafür aber noch ein zweites Nutella-Brötchen zum Frühstück gegessen zu haben.

Irritierenderweise ist die Tochter hin und weg ob der zur Schau gestellten Six Packs, Bizeps und Trizeps. Weise sie darauf hin, dass der leicht adipöse Clown, der immer in den Umbaupausen auftritt und Quatsch macht, doch auch ganz nett ausschaue. Die Tochter verzieht verächtlich das Gesicht. Sie scheint von der Erotik des Humors nicht überzeugt zu sein.

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Nachdem einer der Turn-Adonisse am Reck mehrere Salti und Schrauben hinlegt, fragt der Sohn ehrfürchtig, ob ich das auch könne. Er scheint sehr unrealistische Vorstellungen von meinen turnerischen Fähigkeiten zu haben. Lasse ihn jedoch in dem Glauben, da es für die kindliche Persönlichkeitsentwicklung wichtig ist, zu den Eltern als Respektfiguren und Vorbildern aufschauen zu können. Verschweige daher ebenfalls, dass ich seinerzeit in der achten Klasse beim Pferdsprung aufgrund meiner mangelnden Athletik und Koordinationsfähigkeit derart spektakulär gegen den Bock knallte, dass die Zeugung der Tochter und des Sohnes als medizinisches Wunder gelten kann.

Auch meine anderen Erinnerungen an den Turnunterricht sind von eher traumatischer Natur. Oberste Maxime war es immer, sich in einer Ecke der Sporthalle rumzudrücken, in der sich der Sportlehrer gerade nicht aufhielt. Spätestens bei der Notengebung war diese Taktik aber nicht mehr durchzuhalten und so kam es zu demütigenden Szenen, in denen ich beispielsweise verzweifelt versuchte, am Reck einen Felgaufschwung zu auszuführen. Dabei schwang aber nur sehr wenig und man hätte Stillleben von mir malen können: „Junge an Reck mit rotem Gesicht“. Die Verwendung der Redewendung „wie ein nasser Sack“ beschriebe die fehlende Anmut und Grazie, mit der ich an der Stange hing, nur unzulänglich und stellte darüber hinaus eine ehrabschneidende Beleidigung für jeden Sack dar.

Alleine der Gedanke an qualvolle Momente an Ringen, am Barren oder im Handstand – den ich nur hinbekam, wenn mich zwei kräftige Klassenkameraden bei der Hilfestellung an den Beinen hochzogen und festhielten –, lassen meine Schweißdrüsen auf Hochtouren arbeiten. Mein Hals wird trocken und ich atme schwer. Der kernige Seniorin neben mir klopft aufmunternd auf meine Schulter. Sie fände es toll, wie ich mit den Akrobaten mitfiebere. Nicke ihr schwach zu.

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Nach 120 quälenden Minuten, die bei mir psychisch schmerzhafte Kindheitstraumata aufbrechen ließen, ist die Veranstaltung endlich zu Ende. Die Kinder haben vor Begeisterung rote Gesichter. Beim Verlassen der Halle erklären sie, dass sie nächstes Jahr auf jeden Fall wieder zur Turngala möchten. Finde das eine hervorragende Idee.


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