Die Tränen der Göttin

Die Tränen der Göttin

Als sie über die Brücke schritt, weinte sie und fing ihre Tränen in einer Kristallschale auf. Sie war so schön, dass sich sogar der Pangolin nach ihr umdrehte, der mit seinem Schwanz am Brückengeländer hing.

„Sie kommt direkt aus dem Paradies“, bemerkte der Gesichtslose an meiner Seite. Nach Wochen voller Geisterträume war ich ihm endlich wieder begegnet. Und natürlich standen wir zusammen am großen Fluss.

„Sie hat wunderschöne Augen“, bemerkte ich. „Ich habe noch nie so schöne Augen gesehen.“

„Sie ist eine Göttin.“

Draußen auf dem Fluss, keinen Steinwurf entfernt, zog eine Barke durch die leichten Nebelschwaden. Ein kleiner Junge mit einer Angelrute saß an ihrem hinteren Ende. Ich konnte mich nicht erinnern, hier jemals einen Fischer gesehen zu haben. Wolkenhändler, Flusspriester und Treibgutsammler waren die häufigsten Reisenden auf dem Fluss, abgesehen von den vielen Schwimmern – aber die zählten nicht. Kaum einer beachtete sie. Höchstens dann, wenn einer von ihnen gegen den Strom schwamm.

„Was fischt der Junge?“, wollte ich gerade meinen Traumbegleiter fragen. Doch dazu kam ich nicht mehr. Die Göttin auf der Brücke wandte sich dem jungen Fischer zu. Der Junge sah auf, und ihre Blicke trafen sich. Die Luft schien zu knistern, es ging etwas Magisches von dieser visuellen Begegnung aus.

„Sie kennen sich“, entfuhr es mir.

„Ja, sie war seine Göttin.“

„Ist sie es denn nicht mehr?“

„Nein, ihre Zeit liegt weit oben am Fluss, bei den Mahlströmen des Vergessens.“

Ein Märchen dachte ich.

Als die Barke die Brücke unterquerte, hob die Göttin ihre Tränenschale und goss deren Inhalt in das Boot. Kristalltropfen schillerten im Licht der roten Abendsonne wie Rubine.

„Es ist ein Abschiedsgeschenk“, sagte der Gesichtslose.

„Ein seltsames Geschenk“, erwiderte ich. „Was kann man denn mit den Tränen einer Göttin schon anfangen?“

„Der junge Fischer wird sie als Köder benutzen.“

Das Märchen war futsch. Tränen als Köder, wie prosaisch. Ich hatte an eine eternelle Liebesgeschichte gedacht, an eine Verbindung zweier Seelen über Raum und Zeit hinweg. Von den Quellen des Flusses bis zu seiner unbestimmten Mündung. Aber Göttertränen als Köder!

„Wer beißt denn schon in eine Götterträne“, frotzelte ich.

„Die Hoffnungslosen, die Versunkenen und Vergessenen. All die, die das wunderbare Ufer nie gesehen haben, die glauben in einem trostlosen Ozean zu treiben, ohne Ziel und ohne Träume.“

„Dann muss dieser Junge ein Priester sein, sonst würde er nicht nach diesen armen Seelen fischen.“

„Nein, er ist kein Priester, er ist ein Bote. Ein Götterbote.“

„Dann bringt er den Hoffnungslosen eine Botschaft, anstatt nach ihnen zu angeln?“

„Die Götter weinen um euch und sie haben das Paradies verlassen um nach euch zu suchen, lautet die Botschaft.“ Der Gesichtslose hustete. Es war das Äquivalent eines feinen Lächelns.

„Der Fluss ist voller Rätsel und Wunder“, staunte ich.

„In der Tat. Darum ist er ein Traum.“

Auch in der Wirklichkeit übertreffen die Rätsel und Wunder die Erkenntnis bei weitem. Euer Traumperlentaucher

Bild: Frühling auf den Lofoten



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