"Es ist besser, sichtbar Gutes zu tun, als unsichtbar zum Verbrecher zu werden."
Alexander Rykow
Ihr Lieben,heute möchte ich Euch ein schweizerisches Märchen von German Kolly erzählen:
„Die Tarnkappe“
Ein Knabe eilte jodelnd den Burgerwald herunter. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen und der frohe Gesang erstarb auf seinen Lippen. Auf einem Wurzelstock hart am Wege saß ein Zwerglein. Das lächelte den Knaben freundlich an und ließ sich mit ihm in ein Gespräch ein.-"Büblein, wo kommst du her?"-"Ich habe dem Vater das Mittagessen gebracht."-"Wo bist du daheim?"-"Im Schwand drunten - und du?"-"Da im Berg drinnen. Möchtest du nicht einmal ein bisschen zu uns kommen?"-"Wohl, das möchte ich gern,"-"Eben, so komm!"
Das Zwerglein nahm den Buben bei der Hand und führte ihn durch eine Wirrnis von Gebüsch und Steinblöcken zu einer Felsenspalte.
Dort krochen sie hinein und gelangten in einen riesigen, hell erleuchteten Saal. Inmitten desselben saß auf einem prachtvollen Throne der Zwergkönig. Er trug eine funkelnde Krone auf dem Haupt und einen goldenen Stab in der Hand. Um ihn herum wimmelte es von kleinen Leutchen, Männlein und Weiblein in hübschen, bunten Gewändern. Sie machten fröhliche Spiele und drehten sich im Reigen. Dazu ertönte eine bezaubernde Musik - eine Musik, die Erde und Himmel, Zeit und Wirklichkeit vergessen ließ.
Mit offenem Munde und fiebrig glänzenden Augen stand der Knabe da, geblendet von dem Schauspiele, berauscht von der Musik und schaute und lauschte und staunte. Da traten die Zwerglein zu ihm heran und baten: "Komm, spiel mit uns". Noch bevor er antworten konnte, fühlte er sich an beiden Händen gefasst, in ihren Ring gezogen, und schon jagte er im lusti-gen Reigen um den Thron des Königs. Schneller und immer schneller ging's herum.
Doch, - wie sonderbar - das war kein Laufen, kein Tanzen. Die Füße berührten den Boden nicht mehr. Das war ein weiches Schweben - ein Fliegen. Er hatte dieses wonnige Gefühl im Traume schon oft empfunden. Keine Müdigkeit beschwerte die Glieder, keine Hitze, keine Kälte, kein Hunger, kein Durst hemmte das wundervolle Spiel. Und diese Musik - diese Musik; man schwebte traumselig mit ihr empor.So schwand die Zeit. Der Knabe merkte es nicht. Er vergaß seine Eltern, seine Ziegen, seine Arbeit - vergaß alles und lebte nur der Wonne des Augenblicks. War ein Spiel zu Ende, so begann wieder ein neues. Es riss ihn mit. Von den Klängen der Musik getragen, tanzte, schwebe, tollte, sang und jodelte er ohne Unterlass. Er hätte wohl noch lange mitgetan, aber auf einmal verstummte die Musik. Der König sprach: "So Büblein, jetzt musst du nach Hause.
Komm näher, ich will dir noch ein Andenken mitgeben. Hier hast du ein Käppchen. Es hat eine wunderbare Kraft. Wenn du es auf den Kopf setzest, macht es dich den Menschen unsichtbar. Aber, pass auf, treibe keinen Missbrauch damit. Solltest du mein Geschenk einmal zu einer schlechten Tat gebrauchen, dann würde mein Volk sich furchtbar an dir rächen."
Der Knabe nahm die Tarnkappe dankend in Empfang und verabschiedete sich vom König und dessen Untertanen. Das Männlein, das ihn hereingeführt, begleitete ihn nach Hause. Die Sonne ging eben unter. Der Knabe meinte: "Jetzt habe ich den ganzen Nachmittag bei euch verbracht. Hoffentlich ist der Vater noch nicht zu Hause, sonst wird er mit mir schimpfen".
Es nachtete schon, als sie in den Schwand kamen. Das Zwerglein klopfte an die Türe. Vater und Mutter eilten heraus und als sie ihr Kind sahen, riefen sie beide: "Eh, mein Gott! Bub, wo kommst du her?" Das Männlein antwortete: "Er war bei uns - hat mit uns gespielt - straft ihn nicht". Dann wandte es sich um und eilte rasch davon, dem Bergwald zu.
Drinnen in der Stube hielt der Vater mit seinem Sohne strenges Gericht. "Drei Tage bist du fortgewesen. Drei Tage lang haben wir dich im Walde gesucht und uns fast die Beine abgelaufen. Bald hätte man dir die Totenglocke geläutet. Du aber, du Schlingel, du hast dich unterdessen bei den Zwergen herumgetrieben - mit ihnen gespielt - drei Tage lang. Wart, ich will dir dieses Spielen gründlich verleiden." Mit diesen Worten ging er hin, die Haselrute hinter der Türe zu holen. Dem Jungen war zumute, als stürzte er von der Höhe des Himmels in die Tiefe der Hölle hinunter. "Drei Tage fortgewesen - drei Tage dich gesucht" - so summte es in seinen Ohren.
Er konnte es nicht glauben und nicht begreifen - auch nicht als der Vater ihn aufs Knie nahm und den gefürchteten Haselstecken ohne Erbarmen auf den gespannten Hosenboden sausen ließ. Doch plötzlich kam ihm das Käppchen in den Sinn. Er hielt es noch immer in der Hand. Flugs drückte er es auf den Kopf und das Wunder geschah. Des Vaters zornige Hiebe schlugen ins Leere - der Schlingel war verschwunden. So nahm das Strafgericht ein ganz unerwartet jähes Ende.
Der Knabe suchte später noch manches Mal im Walde droben den Eingang zum unterirdischen Saale, fand ihn aber nicht mehr. Die Tarnkappe trug er lebenslang bei sich. Sie war ihm in seiner Kindheit eine unerschöpfliche Quelle der Freude. Bei keinem Spiele durfte sie fehlen, um immer neue Überraschungen wusste er mit ihr zu erfinden. Sie war seine Schützerin in den Mannesjahren.
Drohte ihm eine Gefahr, geriet er in Zank und Streit, verwickelte er sich in eine missliche Lage, dann setzte er einfach seine Kappe auf - und verschwand. Sie war ihm aber auch eine ständige Mahnerin. Nie hätte er gewagt, sie zu einer bösen Tat zu verwenden, obwohl die Versuchung dazu oft nahe lag. Immer tönten des Zwergkönigs Worte in seinen Ohren:
"Pass auf! Treibe keinen Missbrauch damit!"
Ihr Lieben,
das Märchen von der Tarnkappe habe ich als Kind besonders geliebt.
Ich weiß heute nur nicht mehr, wo ich es zum ersten Mal gelesen habe.
Aber als ich es gelesen hatte, hätte ich mich am liebsten sofort auf die Suche nach dieser Tarnkappe gemacht.
Die Tarnkappe erschien mir wie die ideale Lösung aller meiner Probleme:
Immer wenn ich geschlagen, gedemütigt oder mir noch Schlimmeres angetan wurde, dann hatte ich den tiefen inneren Wunsch, weit weg zu sein, unsichtbar zu sein.
Ich bat Gott um eine Tarnkappe, aber er schenkte sie mir nicht!
Dabei wäre sie die ideale Möglichkeit gewesen, in meiner Kindheit all meinem Leid zu entgehen: Ich wäre einfach plötzlich unsichtbar gewesen und das erschien mir damals als die ideale Lösung all meiner Probleme.
Dieser Wunsch nach der Tarnkappe begleitete mich bis in meine Jugend hinein, aber auch in meiner Jugend ging mein Wunsch nicht in Erfüllung.
Und heute bin ich froh, dass mein Wunsch NICHT erfüllt wurde:
Denn sicher hätte mir die Tarnkappe immer dann geholfen, wenn mir einer etwas Böses antun wollte, aber ich entdeckte als Jugendlicher, dass eine Tarnkappe nicht nur Gutes in sich birgt.
Deshalb wird in unserem Märchen auch die Warnung ausgesprochen.
Ich stellte mir nämlich als Jugendlicher vor, dass ich, wenn ich eine Tarnkappe hätte, ich diejenigen, die mich quälten, misshandelten und missbrauchten, bestrafen könnte, ohne dass die etwas dagegen tun könnten.
Ich merkte als Jugendlicher, dass sich dadurch Gedanken des Zorns, der Rache und des Bösen in mir breitmachten.
Ich bin mir sicher, dass ich nicht der fröhliche, lebensbejahende Mensch geworden wäre, der sich mit den Tätern aus seiner Kindheit und Jugend versöhnt hat, wenn mir in der Jugend eine solche Tarnkappe zur Verfügung gestanden hätte.
Heute danke ich Gott dafür, dass er mir KEINE Tarnkappe geschenkt hat, denn sie hätte verhindert, dass ich der Mensch werde, der ich heute bin. Eine echte Tarnkappe hätte mich auf einen sehr bösen Weg geführt, mich zum Verbrecher gemacht.
Ihr Lieben,
Ihr seht, es ist besser, sich mit dem Leben auseinanderzusetzen, als sich eine Tarnkappe zu wünschen. Denn diese könnte uns nicht nur Gutes bringen, sondern uns auch zu Bösem verführen.
Ich wünsche Euch heute einen tarnkappenfreien fröhlichen Tag und grüße Euch herzlich aus dem regnerischen Bremen
Euer sichtbarer fröhlicher Werner
Das Foto wurde von Karin Heringshausen zur Verfügung gestellt