Günter Wallraff wird aktuell als Denkmal aktuell kompromisslos demontiert. Nicht etwa deswegen, weil es wirklich jemand darauf anlegt, sondern schlicht deswegen, weil er die nächste Medien-Sau darstellt, die gerade durchs Dorf getrieben werden soll. Hauptsache Skandal mit prominenten Namen. Egal wie. Egal mit welchen Methoden. Und ganz besonders egal, was das Endergebnis der Kampagne ist. Durchaus möglich, dass Günter Wallraff persönlich einen Teil dieser Rechnung bezahlen wird. Sicher ist aber jetzt schon, dass alle diejenigen die Rechnung zahlen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen und froh darüber sind, wenn Ausbeutung und menschenunwürdige Lebensumstände angeprangert werden.
Dieser Artikel, der ausdrücklich eine Verteidigung der Arbeit des Enthüllungs-Journalisten darstellt, wird viel Wirbel verursachen, das ist schon vor der Veröffentlichung klar. Er muss aber sein, um die Dinge endlich von zwei verschiedenen Seiten zu beleuchten nach allem, was ich in den vergangenen Tagen gelesen habe. Wenn dieser Text dazu beiträgt, der medialen Dreckschleuder-Kampagne ein wahrnehmbares Gegengewicht zu verpassen, ist das Ziel schon erreicht. Da ich mit Günter Wallraff zusammen gearbeitet habe und ihn seit etlichen Jahren kenne, darf ich mich dazu äussern – und ich darf ihn deswegen auch kritisieren innerhalb der Verteidigung seines Lebenswerkes.
Gehen wir also die Vorwürfe der Reihe nach durch. Zuerst und vor allem ist da der ehemalige Wallraff-Mitarbeiter André Fahnemann, der in seinem Blog im “Brief an Wallraff” seiner Enttäuschung Luft macht über die Zusammenarbeit. Weil er enttäuscht ist, hat er den Kölner Erfolgsautor jetzt angezeigt. Wallraff muss sich vor Gericht verantworten; er habe Sozialabgaben nicht gezahlt und Steuern hinterzogen, so der Vorwurf. Das mag sein oder nicht. Wer will schon entscheiden, was alles passiert ist in den vier Jahren, die Fahnemann für Wallraff gearbeitet haben will. Welche Versprechungen gemacht oder nicht eingehalten wurden. Sind Wallraffs Reportagen aus der Arbeitswelt nun weniger glaubwürdig, wenn er André Fahnemann wirklich schwarz bezahlt haben sollte, vielleicht sogar auf dessen eigenes Verlangen hin? Ganz sicher nicht.
Fahnemann hat einen sehr konfliktreichen Lebenslauf, aus dem er kein Geheimnis macht. Und er ist masslos enttäuscht von Wallraff. Beides macht ihn als Zeugen nicht besonders glaubwürdig. Seine Vorwürfe beispielsweise, Günter Wallraff habe auf Schnorrer-Art Luxusartikel abgesahnt bei grossen Produktmarken, sind geradezu lächerlich. Der Kölner Autor würde so etwas nicht tun, lebt sehr bescheiden in Köln-Ehrenfeld, gemessen an seinem Erfolg. Er hat es nicht nötig, so etwas zu tun, und vor allem passt es überhaupt nicht in sein Persönlichkeitsbild. Wenn Fahnemann also behauptet, Wallraff habe ihn “veranlasst”, solche Schnorrer-Mails an bekannte Marken zu schreiben, ist das mit Sicherheit falsch. Ein bösartiger Versuch der Diskreditierung. Der ehemalige Mitarbeiter führt seinen privaten Rachefeldzug gegen den Mann, den er als Idol gesehen hatte, in dessen Nähe er unbedingt sein wollte.
Andere Vorwürfe Fahnemanns kann ich teilweise nachvollziehen. Wenn er Wallraff vorwirft “Du verhältst dich ab und zu wie ein absoluter Egomane. Wenn du etwas willst oder brauchst, setzt du alle Hebel in Bewegung und alles und jeder muss sofort reagieren”, dann weiss ich, dass er Recht hat. Der Kölner Autor erwartet viel von seiner Umgebung, alles muss sofort passieren, Widerspruch verträgt er generell nur sehr eingeschränkt, andere Meinungen sind nicht besonders willkommen. Doch andererseits hat Fahnemann nach eigenen Aussagen vier Jahre lang für Wallraff gearbeitet, er hätte jederzeit gehen können. Auch hier also die Frage: Wenn Günter Wallraff als Person nicht perfekt ist – was er nie für sich selbst reklamiert hat -, wenn er Fehler hat wie Sie oder ich, entwertet das seine Enthüllungsgeschichten etwa? Ganz sicher nicht.
Und dann gibt es da noch diesen anderen Vorwurf: Günter Wallraff leiste gar nicht alles selbst, was in seinen Reportagen vorkommt. Nun, das ist schlicht eine Tatsache. Ich weiss es deswegen so genau und kann es belegen, weil ich es bin, der den allergrössten Teil der Dreharbeiten mit versteckter Kamera für den Film “Bei Anruf Abzocke” geleistet hat. Über Wochen bei CallOn in Köln, wo obskure Lotto-Systeme verkauft wurden, und auch in einem anderen Call Center, in dem mit aggressiven Methoden Lose der Klassenlotterie per Telefon vertrieben wurden. GünterWallraff hat es nicht selbst gemacht, er war nicht dort. Ich habe diese Bilder undercover gedreht, die Sie jetzt hier sehen können.
Doch Günter Wallraff hat es verantwortet, er hat mich dafür engagiert und hat mich vereinbarungsgemäss dafür bezahlt. Entwertet das sein Engagement? Hat es irgendetwas damit zu tun, dass die halbkriminellen und kriminellen Machenschaften vieler Call Center auf den Tisch gehören? Was ändert es, wer die Undercover-Arbeit in den Call Centern geleistet hat? Allein die Sache ist wichtig, die seriöse und couragierte Behandlung des Themas, das gesellschaftlich überaus relevant ist. Im Film geht Wallraff auf den Köln-Turm zu, wo sich das Call Center von CallOn befand, erweckt den Eindruck, er habe diese Reportage gedreht. Er war es nicht, ich war´s und bin dafür von Spanien nach Köln geflogen, habe wochenlang bei Günter Wallraff in Ehrenfeld gewohnt. Aber die unhaltbaren Geschäftsmethoden von CallOn waren in jedem Fall dieselben und nur darum darf es gehen.
Einen Vorwurf kann und darf man Wallraff trotzdem machen. Mir wurde zum Beispiel – von Günter selbst – fest versprochen, meinen Namen im Film wie auch im nachfolgenden Buch “Aus der schönen neuen Welt – Expeditionen ins Landesinnere” zu erwähnen. Das ist nicht etwa nur die persönliche Eitelkeit, die hier bedient wird. Jemand, der aktiv an einer erfolgreichen Wallraff-Reportage mitarbeitet, gewinnt journalistisches Prestige und kann bei kommenden Projekten darauf verweisen. Das hat also eventuell auch geldwerte Vorteile. Am Ende erschien mein Name nicht. Nirgendwo. Das war nicht in Ordnung, hat mich menschlich enttäuscht, ich habe es entsprechend angesprochen. Wie ich weiss, bin ich nicht der einige Wallraff-Mitarbeiter, der eine solche Erfahrung machen musste. Das ist natürlich ärgerlich für den Betroffenen, aber Wallraff duldet nun mal keine Götter neben sich. Grundsätzlich nicht. Nur sein Name darf stattfinden.
Doch auch hier: Man kann das vielleicht als menschlichen Fehler einstufen, als Charakterschwäche. Es entwertet aber nicht die Arbeit, das Projekt an sich. Vor allem aber darf das auch das nicht die Glaubwürdigkeit eines engagierten Enthülllungsjournalisten unterminieren, selbst wenn er in seinen Artikeln, Büchern und Filmen den (falschen) Eindruck erweckt, er habe das alles allein erlebt und gemacht. Wallraff ist nicht der Einzelkämpfer, er holt sich Hilfe da, wo er es aus verschiedenesten Gründen nicht allein kann. Und ja, er verschweigt danach auf unschöne Weise die Namen der Mitarbeiter, weil er es wohl nicht erträgt, den Ruhm teilen zu sollen. Das mag ihn nicht sympathischer machen, nimmt aber seinen Reportagen und ihren Aussagen kein bisschen Glaubwürdigkeit.
Ja, ich habe während der Wochen dieser Reportage auch mit dem Gedanken gespielt, eventuell weiterhin und mehr oder weniger ständig mit Günter Wallraff zusammen arbeiten zu können, weil seine Ziele und Reportagen genau die richtigen sind. Er hat es geblockt, wollte das nicht, das musste ich akzeptieren und habe es klaglos akzeptiert. Seine Entscheidung, die ihm zusteht. Er hat genug geleistet in den vergangenen Jahrzehnten, übernimmt genügend Verantwortung, um diesen Alleinstellungsanspruch vertreten zu können, ob das Herrn Fahnemann oder mir gefällt oder nicht.
Günter Wallraff geht schon seit vielen Jahren mit einer langen Stange durch den Wald. Dabei ist es unvermeidlich, dass er an viele Bäume stiess. Wer sich mit Mächtigen und Reichen anlegt, wer sie entlarvt und bloßstellt, darf sich nicht wundern, wenn sie gegen ihn vorgehen. Das alles ist bis dahin beinahe unausweichlich und verständlich. Dass sich seine Gegner aus diesen Kreisen jetzt diebisch über den Gegenwind freuen, der dem Autor entgegen schlägt, ist wahrlich kein Wunder und auch noch verständlich. Mein Verständnis hört jedoch sofort auf, wenn verschiedene Medien Deutschlands jetzt die Dreckschleuder anschalten, um der puren Aufmerksamkeit, der Quote willen.
“Wallraff deckt auf” ist offensichtlich nicht mehr News genug; das kennen wir seit Jahrzehnten in unzähligen arbeitsintensiven und erfolgreichen Reportagen. Nein, jetzt muss Günter Wallraff demontiert werden. Nur das verspricht noch genug Aufmerksamkeit. Da wird ihm zum Beispiel vorgeworfen, er habe sich Blanko-Unterschriften von Zeugen seiner Reportagen auf eidesstattlichen Versicherungen geben lassen. Den Schluss daraus, diese Zeugenaussagen seien also wohl gefälscht, wird trickreich dem Leser überlassen, gesagt wird es nicht. Das ist infam, denn die Praxis, sich eine solche eidesstattliche Versicherung in der Hektik der Live-Situation einer Undercover-Reportage zunächst blanko unterschreiben zu lassen und später, mit Zeit und Ruhe, gewissenhaft den Text zu erstellen, der in jedem Fall mit dem Unterzeichner abgestimmt wird, ist üblich und zeugt nur von Sorgfaltspflicht und bewusstem Vorgehen.
Die Kampagne gegen Günter Wallraff darf nicht erreichen, dass seine so wichtige Arbeit, die über Jahrzehnte so wichtige Ergebnisse gezeitigt hat, in den Dreck gezogen wird. Der Kölner Journalist und Autor hat menschliche Schwächen wie jeder andere. Doch es geht nicht an, dass diese jetzt dazu benutzt werden sollen, sein Werk zu beschädigen, seine Glaubwürdigkeit angreifen zu wollen. Das wird der Sache erstens nicht gerecht und schadet zweitens uns allen, die wir uns eine gerechtere Welt wünschen und dafür eintreten, dass die Schwachen und Armen vor den Starken und Reichen geschützt werden müssen. Es braucht nicht weniger Wallraffs sondern viel mehr – mit allen ihren Fehlern!