Es ist nicht statthaft, das Christentum mit dem Islam zu messen, ihn zu vergleichen, mit der Absicht, seine besondere Aggressivität zu dokumentieren. Das Christentum ist trotz seiner Präsenz in der westlichen Hemisphäre nicht mehr die spirituelle Grundlage dieses Revieres. Es existiert nicht mehr als Überbau, lediglich einige Artefakte haben sich im gesellschaftlichen Leben erhalten. Es ist nicht die Glocke, die über alles gestülpt wird, sondern eine Sammlung staubiger Scherben, die hier und da verteilt noch zu finden sind. Will man spirituelle Gerüste dieser zweier Kulturen vergleichen, so müsste man, sofern das überhaupt einen Sinn haben mag, den Islam mit der Kapitalismus neoliberaler Ausformung oder dem Konsumismus nebeneinander stellen.
Varianten der Rückbindung
Wenn wir Religion sagen, versteifen wir uns auf Glaubensgruppen, die sich in Kirchen oder kirchenähnlich versammeln, um einen personalisierten Gott zu huldigen. Das ist der Kontext zu Religion. Wollen wir polemisch sein, attestieren wir auch anderen Gruppen religiöse Züge, beispielsweise fanatischen Fußballfans. Dabei ist diese Polemik an der Wortherkunft gemessen, gar nicht überspitzt und dramatisiert, sondern durchaus zutreffend. Das lateinische religio wird mit Rückbindung übersetzt, herkommend von religare, zurückbinden oder relegere, immer wieder lesen, womit so etwas wie eine Rückbindung oder Rückkoppelung, ein durch Lesen manifester Dauerbezug zum Glaubenskanon besteht. Ob der mit oder ohne personalisierter Gottheit vollzogen wird, ob der kirchlich organisiert sein muss, steht im Wort Religion gar nicht geschrieben.
Insofern kann man jemanden, der sich auf geistiger Ebene nur mit seinem Fußballverein beschäftigt, durchaus Religiosität attestieren, ohne gleich polemisch zu sein. Die Bezeichnung trifft zu, weil er sich dort rückkoppelt, dort seine Einbettung in einer Gemeinschaft erfährt. Diese Ebene existiert natürlich auch noch im Christentum, sie ist aber nicht massenkompatibel und wird schon lange von einer ganz anderen, einer profaneren Rückbindung erdrückt, sodass das Christentum in die Rolle einer sterbenden Rückbindungsvariante gedrängt wurde. Die "Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die sogenannten Religionen Antwort gaben" (Walter Benjamin, Kapitalismus als Religion), besorgt nun die Warenwelt des Kapitalismus auf ihre Weise.
All you need is love
Rückbindungen allerlei Art sind menschlich, sind natürlich. Es ist der Irrsinn der neoliberalen Welt, so zu tun, als habe man diesen menschlichen Drang abgelegt und man lebe quasi im Reinen mit einem wissenschaftlichen Rationalismus, der solcherlei Verhaltensnormen nicht mehr kennt. Dieser obskure Rationalismus ist indes nicht weniger als genau solcherart Rückbindung. "Der Verlust des Glaubens in einer Religion deutet keineswegs auf das Erlöschen des religiösen Instinktes hin. Er bedeutet lediglich, dass der vorübergehend unterdrückte Instinkt sich anderswo ein Ziel sucht", schrieb Robert Charles Zaehner in Mysticism Sacred and Profane.
"Für die der Kirche und den Werten ihrer Eltern entfremdete Generation der Teens und Twens" der Sechziger- und Siebzigerjahre, so erzählt Steve Turner in seinem Buch über die Beatles, habe die Rockmusik quasireligiöse Züge angenommen. Man koppelte die ewigen Fragen zum Lebensinn direkt an die Botschaften, die man von Rockstars empfing; die wiederum setzten nicht nur Trends, sondern auch plötzlich Prediger waren. Turner beschreibt, wie Menschen regelrecht exegetisch die Texte von Beatles-Songs lasen, um zu höheren Einsichten zu gelangen. Die Beatles selbst lebten zunächst voll konsumistisch und fanden Gefallen an Prominenz und Geld, bis sie in die Sinnkrise gerieten und via LSD erleuchtet und in Indien von Gurus unterrichtet wurden. All you need is love war wohl eine Botschaft, die direkt den Liebeslehren - Liebe war ja in jener Zeit in jenen Kreisen der kosmologische Stoff schlechthin - diverser esoterischer Schwärmereien entnommen war. Millionen Menschen taten es ihnen gleich, Indien wurde zum expliziten Zentrum göttlicher Weisheit. Andere deuteten das Psychedelika in den Songs anders und massenmordeten - Charles Manson und Anhang taten das nämlich; sie beriefen sich ausdrücklich auf die Beatles und meinten es handle sich um vier singende Engel, die auf Erden geschickt wurden.
Kurz und gut und mit Zaehner gesprochen - und um diesen beatligen Gedankensplitter zu einem sinnvollen Abschluss zu bringen: Der religiöse Instinkt erlöscht nie, er sucht sich allerdings Wege, die mit den kulturellen, ökonomischen und sozialen Verhältnissen besser zu vereinbaren sind.
Unser tägliches Schnäppchen gib uns heute
Wir sind als Menschengeschlecht erdbodenfixierter geworden. Heute schauen wir nicht mehr ehrfurchtsvoll zum Himmel, sondern stehen auf dem Boden der Tatsachen. Das versuchen wir wenigstens zumeist. Dass dabei auch die Sinngebungslehren weniger himmlisch rückgekoppelt sind, sich eher irdisch ausnehmen, scheint da nur konsequent. Zudem haben die transzendenten Glaubensgerüste nie auf kosmologische Sinnfragen adäquate Antworten gefunden. Wie auch? Der Kapitalismus als profane Rückbindung zum stofflich Fassbaren, zum Materialismus also - denn wir glauben ja nur, was wir sehen und anfassen können! -, versucht erst gar nicht, dem menschlichen Dasein hehren Sinn einzuhauchen. Zu haben mag Sinn sein oder nicht - das liegt im Auge des Konsumenten, man lehrt es nicht dogmatisch. Aber zu haben beruhigt und befriedigt einige Augenblicke lang, bis zum nächsten Götzendienst im Konsumtempel, bis zur nächsten Shoppingtour, bis zu nächsten Attacke von Habgier. Insofern scheint der Kapitalismus das Seelenheil effektiver herzustellen, als all die Riten transzendenter Religionen mit all ihren inneren Reinigungen, Fastenkuren, Geißelungen und Gebetsmühlen. Benötigte die klassische Religion noch Kontemplation und Stunden der Einkehr, so bietet die neoliberale Glaubenswelt simplifizierte Zeremonien, in denen als Einkehr ausreichend ist, in ein Kaufhaus einzukehren oder etwaigen Werbeversprechen zu erliegen, um Bedürfnisse erst zu wecken, um sie dann zu stillen.
Walter Benjamin gab tatsächlich auch zu Bedenken, dass der Kapitalismus ein entleerter Kult ohne Dogmatik und Theologie sei. Der Fetischcharakter des Kruzifixes, der nun auf die Warenwelt überging, entwirklicht und entfremdet den Menschen, meinte er. Der Luxus, den der moderne Kapitalismus viel stärker herzustellen vermag, als zu Benjamins Zeit, potenziert die Transformation von Konsum zu einer Ersatzreligion. Die Ausrichtung der geheiligten Konsums zeichnet stellenweise Michel Houellebecq nach, wenn er esoterisch aufgeladene Sekten karikiert, die Lehren von Haben als Sein (als die Synthese von Fromms Gegenspielern Haben und Sein) verkündigen und die in Houellebecqs Phantasie sogar zu Weltreligionen der westlichen Welt mutieren, weil sie so vortrefflich den Zeitgeist berühren und dadurch groß werden können. Dieser eosterische Überbau das Habens als Seins scheint tatsächlich zuweilen vorbereitet: Astro TV, Think positive-Seminare, Glücksratgeber bis hin zum Schulfach Glück in einigen Schulen Deutschlands, Wellness für Körper und Seele-Kult oder esoterische Firmenverehrung wie im Falle Apples geben Auskunft darüber.
Äpfel mit Äpfel, Birnen mit Birnen
Die westliche Welt ist mitnichten eine Gesellschaft sonntäglicher Religiosität. Sie ist dennoch voller religiösem Eifer. Der hat sich allerdings nur andere Ziele gesucht. Der Vergleich des Islam mit dem Christentum - als religiösem Entwurf im Westen - ist falsch, weil hier eine aktive Religion mit einer kläglich sterbenden verglichen wird. Letzte kann gut friedfertig und aufgeklärt wirken als rein sonntägliche Einrichtung ohne religiöse Bindung, als reiner Akt des Traditionalismus, als Reminiszenz an frühere Tage.
Der Clash of Civilisations ist nicht als Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam zu werten, wie das manche Medien häufig tun. Es ist eine Auseinandersetzung eines Kapitalismus, der sich selbst als Krone der Menschheitsgeschichte geriert und zwischen einem Islam, der fundamentale Grundsätze, die dieser Kapitalismus als rückständig und teuer erachtet - Stichwort: Zersetzung des Gemeinsinns! -, nicht teilt. Der teils regional eingeschränkten Brutalität des Islam setze man die Brutalität der Religion gegenüber, die die westliche Welt erfüllt: des Konsumismus in seiner kapitalistischen oder neoliberalen Ausprägung. Letzterer hat durchaus auch Leichenberge aufgetürmt und schenkt sich in Sachen Brutalität nichts.