Die ökonomischen Grenzen der Moral

Vielleicht sollte ich neben meinen Empfehlungen wirklich lesenswerter Bücher auch eine weitere Rubrik einführen: “Bücher, die ich auf keinen Fall lesen werde”, weil absehbar ist, dass sich die Lektüre nicht lohnt. Zu diesen gehört “Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes.” von Michael J. Sandel. Dieser Harvard-Professor soll ja ein Rockstar unter den US-Philosophen sein, was seine Popularität zwar erklären mag, aber die Sache nicht besser macht. Wie kann man nur ganze Bücher voller haarsträubender Argumente gegen den Kapitalismus versammeln, ohne entsprechende Schlüsse zu ziehen?!

Der Philosoph kritisiert leider nur die “Ökonomisierung von Lebensbereichen”, die seiner Ansicht nach nicht durch Geld geregelt werden sollten, sondern durch Moral. Das ist nicht nur moralisch fragwürdig, sondern auch verdammt schlecht gedacht. Denn es ist eben nicht einfach eine dekadente (unmoralische) Lebensweise, auf die sich die Leute von heute kapriziert haben, weil sie es in ihrer Verworfenheit so schick fänden, alles über Geld regeln können. Es ist doch genau umgekehrt: Weil die Gesetze des Marktes heutzutage so total durchgesetzt sind, dass man ihnen in keinem Lebensbereich mehr entkommen kann, müssen die Leute alles über Geld regeln. Wie denn sonst?!

Absolut moralischer Markt auf dem Boxhagener Platz in Berlin-Friedrichshain.

Absolut moralischer Markt auf dem Boxhagener Platz in Berlin-Friedrichshain.

Es ist ja jeder und jede gezwungen, die Dinge des täglichen Lebens mit Geld zu erwerben, wenn man sie nicht klauen will oder kann – Nahrung, Wohnung, Energie, das gibt es alles nicht umsonst, sondern muss gekauft werden. Infolge dessen hat ein Mensch doch überhaupt keine andere Wahl, als sich in einer kapitalistisch organisierten Welt marktförmig zu verhalten, sprich, Angebot und Nachfrage für sich so zu regeln, dass ein Lebensunterhalt dabei heraus springt. Besonders krass in den USA, wo die üblichen sozialen Sicherungssysteme fortgeschrittener westlicher Gesellschaften (auf die man früher ja mal stolz war, weil sie zeigten, wie gut der Kapitalismus selbst für die Verlierer funktioniert) längst als sentimentaler Gutmenschenkram entlarvt wurden, die den Wettbewerb verzerren und infolge dessen weitgehend abgeschafft wurden.

Ich weiß, das ich mich wiederhole, aber das ist nun mal der Anfang allen Elends: Weil im Kapitalismus alles so organisiert ist, dass alles (Grundstücke, Mietshäuser, Wasserbetriebe, Internet-Firmen, Apfelbäume usw.) irgendwem gehört – nämlich immer weniger aber immer reicheren Reichen – müssen alle anderen sich abstrampeln, weil ihnen immer weniger gehört. Und weil das Geschäftsmodell der Lohnarbeit nun einmal eins ist, dass sich vor allem für den Chef lohnen muss, gibt es nicht mehr für jeden einen Job, von dem er oder sie leben kann. Damit sind der Fairness gewisse Grenzen gesetzt, so bedauerlich das für die Moral-Philosophen auch sein mag. Für die vom Nichts-haben-Betroffenen ist das nämlich auch ziemlich bedauerlich. Aber die müssen damit umgehen, wenn sie überleben wollen, Moral hin oder her. Und so kommt es zu den üblen Auswüchsen, die Sandel kritisiert: Dass arme Menschen in der Dritten Welt vielleicht nicht ganz freiwillig ihre Organe verkaufen oder sich arme Menschen in den USA und inzwischen auch in Deutschland für den Kriegsdienst verpflichten, bei dem sie sich für die Interessen derer, die an diesen Kriegen verdienen, tot oder zum Krüppel schießen lassen, während sich andere aus allen möglichen Ärgernissen des menschlichen Alltags freikaufen können und nicht mal mehr beim Arzt im Wartezimmer wie alle anderen warten müssen. Natürlich ist Zeit Geld, das ist nicht zynisch, sondern Kapitalismus.

Dabei ist die Idee der Handelsware Mensch ja keine neue, die alten Ägypter, Griechen oder Römer fanden nichts dabei, ihre Mitmenschen als Sklaven zu kaufen, zu besitzen und zu verkaufen und es ist nicht so dermaßen lange her, dass in Mitteleuropa die Leibeigenschaft aufgehoben wurde. In den USA hat die Sklaverei sogar noch ein bisschen länger überlebt.

Warum sollen arme Frauen sich dann nicht “freiwillig” als Leihmütter verkaufen oder betuchte Ehepaare armen Eltern ein Kind abkaufen dürfen? Offenbar gibt es dafür einen Markt, genau wie es einen Markt für Massenvernichtungswaffen und andere ethisch bedenkliche Dinge gibt. Es wird ja auch erwartet, dass Mensch sich ständig sauf dem Arbeitsmarkt vermarktet – es gibt schließlich Seminare zur Selbstoptimierung und Selbstvermarktung, was erstaunlicherweise kaum jemand anstößig findet. Und die von der Politik gepriesenen Zeitarbeitsfirmen verdienen ihr Geld mit einer speziellen Form der Zuhälterei. Mit der herkömmlichen Zuhälterei tun sich die Moralisten zwar schwerer – aber wo ist da ökonomisch gesehen der Unterschied?! Das kann man sich übrigens auch bei der staatlich betriebenen Wegelagerei am Fahrkartenautomat oder an der Zapfsäule fragen – nur weil man von A nach B muss, wird man bis auf die Knochen abgezockt. Aber weil das gleich mit dem Erwerb der Fortbewegungsberechtigung geschieht, wirkt es weniger gewalttätig als im Mittelalter, wo der lokale Raubritter mit seinen Schergen noch selbst Hand anlegen musste, um die Silberlinge aus den Reisenden heraus zu prügeln. Das war doch ein vergleichsweise ehrliches Geschäftsmodell – da hat man wenigstens mitbekommen, dass man gewaltsam enteignet wurde. Jetzt wundert man sich immer nur, wo das liebe Geld schon wieder hin ist, bevor man noch ein paar Überstunden macht, um wieder welches reinzuholen.

Die totale Vernutzung von Menschen nach ökonomischen Gesichtspunkten haben vor ein paar Jahrzehnten erst die Nazis auf die Spitze getrieben – was kapitalistische Ideologie im Bunde mit nationaler Verblendung und Rassenwahn anrichten kann, ist bislang unübertroffen. Sowohl die totale Ausbeutung von Zwangsarbeitern (Vernichtung durch Arbeit), als auch die industriell betriebene Ausrottung unerwünschter Volksgruppen (die als minderwertig oder unnütz galten) bei gleichzeitiger Verwertung menschlichen Rohmaterials (Goldzähne, aber auch Haare, Haut, Fett, solange noch welches dran war) – sind zweifelsohne grauenhaft, unmenschlich und in sämtlichen Kategorien unmoralisch, zeigen aber, dass sämtliche “neuen” Probleme einer komplett durchökonomisierten Welt überhaupt nicht neu sind. Eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft, fehlendes Unrechtsbewusstsein und Mangel an Empathie sind keine Folgen der Globalisierung (und auch nicht des Neoliberalismus) bzw. eines damit einhergehenden Wertezerfalls, wie der Moral-Professor vermutet. Sondern altbekannte Begleiterscheinungen des Kapitalismus.

Deshalb kann es, wenn man diese Zustände ernsthaft ändern will, auch nicht um die Frage gehen, wo Märkte hingehören und wo nicht – denn wie Professor Sandel ja konstatiert, ist alles von Markt und Kommerz durchdrungen. Es geht um die Frage, wie man menschliche Gesellschaft mit allem drum und dran OHNE Markt und Kommerz organisiert. Dem Markt sind moralische Grenzen nämlich völlig schnurz. Die moralische Keule braucht man ja vor allem, um die Leute unter diesen unmenschlichen Umständen zu disziplinieren. Um die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen, braucht man keinen Markt und keinen Kommerz, sondern eine vernünftige Produktion und eine vernünftige Verteilung von entsprechenden Gütern. Ein bisschen Empathie und gesellschaftliches Engagement braucht es allerdings schon. Aber dafür hat man ja dann Zeit und Muße, denn das lästige um jeden Preis Geld-Verdienen-müssen fällt ja komplett weg. Da kann man dann tatsächlich machen, was man vielleicht schon immer tun wollte, aber nie zu gekommen ist. Das darf gern etwas Nützliches sein. Muss aber nicht.



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