Die Nachhilfelehrerin

„Mama, hilfst du mir bitte bei den Mathematik-Hausaufgaben?“

„Besser nicht. Du weisst ja, wie ich es habe mit den Zahlen. Frag lieber den Papa.“

„Aber der Papa ist gerade im Garten und hat keine Zeit und um halb fünf muss ich zur Orchesterprobe. Also hilfst du mir jetzt bitte? Ich schaffe es alleine nicht.“

„Na gut, was musst du denn machen?“

„Diese schrecklichen Zahlendreiecke. Schau mal…“

„Hmmm…wie soll man das denn lösen? Solche Dinge gab es zu meinen Zeiten noch nicht…Also, ich würde mal versuchen, die Zahl hier von der anderen zu subtrahieren und dann…“

„Aber Mama, so geht das nicht. Man muss diese Zahl hier so und dann die andere so und am Schluss die dritte so und dann…“

„Hä? Ich hab kein Wort verstanden. Kannst du mir das bitte noch einmal erklären. Aber nicht so schnell, sonst komme ich nicht mit.“

„Also, noch einmal von vorn: Du beginnst hier, machst dann hier oben weiter und dann, mit dem Resultat löst du die Aufgabe hier unten. Klar?“

„Klar? Von wegen! Ich verstehe das alles überhaupt gar nicht. Komm, mach die Hausaufgaben, wenn der Papa wieder Zeit hat.“

„Aber Mama, das geht wirklich nicht. Ich muss die Aufgaben bis morgen fertig haben und heute Abend bin ich zu müde und wenn ich die Rechnungen nicht gelöst habe, bekomme ich einen grünen Strich und wenn ich zu viele grüne Striche habe, dann gibt’s einen Eintrag im Zeugnis. Du musst mir einfach helfen…“ 

„Wie soll ich dir denn helfen, wenn ich doch überhaupt nicht verstehe, was du hier machen musst? Ich verstehe nicht, weshalb diese Zahl hier mit der hier verrechnet werden soll und warum du addierst, anstatt zu subtrahieren und überhaupt ist das alles ein einziger blöder Mist! Sag doch dem Lehrer, dass nicht mal die Mama diese doofen Hausaufgaben versteht.“

Irgendwann kommt zum Glück der Papa ins Zimmer und erklärt dem Kind die Hausaufgaben, wenn man Glück hat noch bevor Mama und Kind in Tränen aufgelöst sind.

Es geht aber auch anders:

„Mama, diktierst du mir dieses Diktat?“

„Aber klar doch, mein Kind. Reich mir mal den Zettel, wir fangen an. Okay, bist du bereit?“

Kind malt Kringel aufs Blatt, schaut ins Leere und sagt, es sei bereit.

„Gut, dann legen wir los. ‘Die Pausenglocke’ 

Kind schreibt ‘di pausengloke’, Mama reisst sich ganz fest zusammen, um nichts zu sagen, diktiert dann aber weiter: „In dem alten Schulhaus…“

Kind schreibt ‘indem alten Sculhaus’, Mama reisst sich noch etwas mehr zusammen und fährt fort: „hängt eine wunderschöne, alte Pausenglocke…“

Kind schreibt ‘hangt eine Wunder schöne, alte pausengloke’, Mama seufzt tief, murmelt etwas Unverständliches vor sich hin und fährt fort mit dem Diktat. Das Kind strengt sich an, alles richtig zu machen, verliert aber mehr und mehr die Konzentration, weil es nicht begreifen kann, weshalb es diesen langweiligen Text über die Pausenglocke fehlerfrei schreiben soll.

„Ich schreib jetzt nicht mehr weiter“, protestiert es schliesslich. „All diese ie und h und Grosschreibungen sind mir viel zu schwer, das lerne ich nie.“

„Natürlich lernst du das“, sagt die Mama und sie weiss selber nicht, ob das nun ermutigend oder drohend daherkam.Jetzt schauen wir uns noch einmal jeden einzelnen Fehler genau an und dann diktiere ich dir das Ganze noch einmal.“

„Aber ich hab das Diktat doch erst in drei Tagen. Da bleibt noch so viel Zeit zum Üben. Bitte Mama, können wir jetzt aufhören?“

„Nichts da, wir machen weiter. Mindestens noch zweimal ziehen wir das durch. Also, los geht’s: ‘In dem alten Schulhaus….’

Zum Glück kommt irgendwann der Papa ins Zimmer und rettet das Kind von der Mama, die so versessen ist auf eine fehlerfreie Rechtschreibung, dass das arme Kind wohl bis Mitternacht üben würde, wenn die Wörter nicht perfekt daherkommen.

Man sieht, ich tauge eindeutig nicht als Nachhilfelehrerin.

 



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