Von Lama Vajranatha (John Myrdhin Reynolds)
Im 11. Jhdt. gab es dann eine Erneuerung des klösterlichen Buddhismus in Zentral- und Westtibet, anfänglich unter offizieller Förderung durch die Regierung des westtibetischen Königreichs von Guge. Inschriften besagen, dass der königliche Mönch Lhalama Yeshe-od und sein Gefolgsmann Dawa-od Dzogchen und die Mahayoga-Tantras angriffen und verurteilten, insbesondere das, was sbyor-grol genannt wurde. sByor-ba bezieht sich auf die Praxis des Sexualyoga und sgrol-ba auf das Töten eines Lebewesens auf rituelle Art, ohne dass irgendein negatives Karma entsteht. Aber allgemein beinhalten die buddhistischen Tantras anders als die Hindu-Tantras, die mit dem Kult der Göttin Kali verbunden sind, kein tatsächliches Blutopfer, obwohl diese Symbolik unterstützt wird. Sowohl Buddhismus als auch Yungdrung Bön, anders als der Stammesschamanismus, haben die Praxis des roten Opfers (dmar mchod) oder Blutopfers kategorisch abgelehnt und verurteilt. Aber Sex ist überhaupt eine andere Angelegenheit. Die Mahasiddhas in Indien und anfänglich auch ihre Anhänger in Tibet praktizierten Sexualyoga nicht einfach symbolisch, sondern wirklich. Das jedoch hat viele Tibeter empört, die diese Lamas der Unzucht in Tempeln beschuldigten. Als der große indische tantrische Meister und Gelehrte Atisha nach Guge in Westtibet im 11. Jhdt. eingeladen wurde, verbot sein Hauptschüler Dromtön seinem Meister, die Höheren Tantras zu lehren, indem er behauptete, die Tibeter würden ihre Ungesetzlichkeit und ihre sexuelle Symbolik unvermeidlich missverstehen. Dromtön gründete die erste eigenständige Schule des tibetischen Buddhismus, die Kadampa, die für ihre Betonung der Vinaya, der monastischen Disziplin, bekannt wurde.
Tantra in Tibet
Die tibetischen Schüler von Atisha wie auch andere Tibeter, von denen einige zum Studieren nach Indien gingen, begannen Klöster zu errichten. Im Allgemeinen glauben Tibeter, dass der Buddhismus nur dann existiert, wenn es Mönche und Klöster gibt, es sozusagen eine gesellschaftliche Institution oder Kirche gibt, die als Grundlage für die Übertragung der buddhistischen Lehren dient. Aber außerhalb der Klöster und bald auch innerhalb von ihnen begann die Mahasiddha-Tradition zu blühen und zu wachsen. Der Hauptgrund dafür war, dass der indische Buddhismus zu dieser Zeit mehr und mehr von der tantrischen Praxis dominiert wurde. Es war für alle tibetischen Reformer unmöglich, ungeachtet des neuen Puritanismus im 11. Jhdt. zu leugnen, dass die Höheren Tantras die Worte des Buddha waren. Die Höheren Tantras waren allesamt der Brauch in Indien und wurden von den indischen Meistern wie Naropa, Maitripa, Atisha usw. ihren tibetischen Schülern gelehrt. Und so fand einen Wiederannäherung statt.
Die Höheren Tantras konnten keine gemeinschaftliche Praxis für Mönche sein, weil die tantrische Sadhana sowie auch in den Feiern des Festmahls im Höheren Tantra – der Ganachakrapuja – es erforderlich war, an Fleisch, Wein und Geschlechtsverkehr teilzuhaben. Zumindest bei den letzteren beiden wäre ein Mönch gezwungen, seine Gelübde zu brechen. Und was daher im 11. Jhdt. geschah, war ein Wandel im äußeren Stil der Praxis. Die Anuttara Tantras, viele von ihnen waren gerade frisch aus Indien gebracht und neuerlich ins Tibetische übersetzt worden, wurden in der Art und Weise der niedrigeren Yogatantras praktiziert. Obwohl es hier einen großen Anteil an Ritualen im Yogatantras gibt, so gibt es doch nichts, das erfordern würde, dass ein Mönch seine monastischen Gelübde beschädigt. Die Präsenz einer Frau oder Dakini ist bei einer Einweihung ins Höhere Tantra erforderlich und auch beim tantrischen Festmahl der Ganachakrapuja, aber im 11. Jhdt. wurde reformiert, sodass die körperlich tatsächlich präsente Dakini durch eine Geistgefährtin (yid kyi rig-ma) – eine Visualisation der Dakini – ersetzt wurde. Man machte die sexuelle Praxis nur in der Visualisation, nicht tatsächlich. Auf diese Weise konnten die Praktiken der Höheren Tantras in die Klöster aufgenommen und in die gemeinschaftlichen Praktiken und Liturgien der Mönche eingegliedert werden. Anders als im Zen-Buddhismus in Japan, praktizierten tibetische Mönche üblicherweise keine Meditation in der Gruppe. Das wurde in der Privatsphäre des eigenen Zimmers oder einer Retreat-Umgebung gemacht. Die typische gemeinschaftliche Praxis der tibetischen Mönche ist die Puja, die das Singen von Liturgien und das Darbringen von Opfergaben über viele Stunden lang beinhalten kann. Ein wenig Wein oder Fleisch während der Ganapuja zu sich zu nehmen, ist in Ordnung, weil im Verlauf des Rituals, diese in geheimnisvoller Weise zu Nektar geworden sind und die heiligen roten und weißen Substanzen in der Schädelschale wurden durch symbolische Gaben ersetzt. Aber wenn man den Text der Liturgie durchliest, dann ist dieser voll von Aktivitäten zornvoller Gottheiten, die sowohl geschlechtlich als auch lebhaft sind. Aber alles andere ist in völlig monastischem Anstand. Das war eine so erfolgreiche Lösung für das Dilemma, dass alle vier Schulen des tibetischen Buddhismus fast ausschließlich die Anuttara Tantras praktizieren und die Yogatantras vernachlässigen. Nichtsdestotrotz die Übertragungen der Yogatantras wurden bewahrt, speziell in der Schule der Sakyapas, die ziemlich penibel beim Bewahren aller authentischen indischen Tantra-Übertragungen ist. Unter den Nyingmapas, die die Traditionen bewahren, die aus der frühen Periode der Verbreitung des Buddhismus in Tibet (7. – 9. Jhdt.) herstammen, gibt es Praktizierende, die keine monastische Ordination genommen haben und Mönche geworden sind, und diese sind als Tantrikas oder Ngakpas (sngags-pa) bekannt, was soviel wie „jene, die Mantras (sngags) verwenden“. Sie sind üblicherweise verheiratete Lamas. Ein Lama, obwohl er als ein Priester fungiert, ist nicht notwendigerweise ein Mönch.
Prebuddhistische Praktiken
Aber die alte vorbuddhistische Kultur des Pagan und Schamanismus von Tibet währte Seite an Seite mit dem Wachstum dieses klösterlichen Systems indischen Ursprungs. Stufenweise begannen alle Schulen des tibetischen Buddhismus diese indigenen magischen und rituellen Praktiken in die buddhistischen Praktiken indischen Ursprungs zu integrieren, was dem tibetischen Buddhismus seinen einzigartigen Beigeschmack und Charakter gab, der so verschieden von den anderen Formen des Mahayana-Buddhismus ist. Die Ngakpas, wie Nubchen Sangye Yeshe, die außerhalb der Klöster und dennoch sehr nahe am Volk Tibets, den Bauern und Nomaden, lebten, waren besonders offen für das Eingliedern der angestammten magischen Traditionen in ihren Buddhismus. Das gleiche geschah zuvor in Indien, wo die Traditionen der populären indischen Magie in die buddhistischen Tantras, beispielsweise das Mahakala-Tantra, eingegliedert wurden. Dies wurde sowohl von indischen wie auch tibetischen Buddhisten einfach aus diesem Grund gemacht, da auf der praktischen Ebene Magie wirkt. Magie ist eine Art des Anrufens und Kanalisierens von Energie, um bestimmte Effekte zu erzielen. Es wirkt nicht mit derselben Wirksamkeit wie ein mechanisches Gerät, da ihre Wirksamkeit vom Zustand des Geistes des Praktizierenden und einigen anderen sekundären Faktoren abhängt, aber es wirkt zur Zeit genügend, damit die meisten Menschen in der Menschheitsgeschichte vertrauen darin haben. Jedoch im Westen bekam die Magie seit dem 18. Jhdt. mit dem mechanistischen Model der Wirklichkeit und der allgemeinen Fruchtbarkeit der wissenschaftlichen Methoden und Erklärungen von westlichen Gelehrten eine schlechte Presse. Westliche Gelehrte des Buddhismus tendieren dazu, die Rolle der Magie im Buddhismus, einschließlich dem Theravada-Buddhismus, herunterzuspielen und sie sind ganz aufgebracht bei der Idee, dass das buddhistische Tantra ein unglaublich komplexes und anspruchsvolles System der Theurgie und zeremoniellen Magie darstellt.
Ngakpa-Retreat vom 21. – 31. August 2014. >read more