WENN EIN KOMMUNIST SAGT, ICH WÄHLE DIE FREIHEIT, DANN SCHIELT ER IN WIRKLICHKEIT NUR NACH DER FREIHEIT DER ANDEREN.
(Vincent Deeg)
„Amnestie, Amnestie.“ Klang es noch immer in seinen Ohren. Das Wort, das, als Gerd noch einer der vielen Insassen war über alle Flure und aus allen Aufenthaltsräumen des Hallenser Jugendhauses hallte, das den klangvollen und für eine Einrichtung dieser Art viel versprechenden Namen der direkt daneben liegenden Kleingartenkolonie trug und in dem man, vermutlich aus chronischen Platzmangel eine ganze Station geräumt hatte, um darin, von allen anderen Gefangenen isoliert, bereits erwachsene Gegner des Staates unterzubringen.
Es war dasselbe Wort, das gerade unter den politischen Gefangenen, die wegen des § 213 des Strafgesetzbuches der DDR* verurteilt worden waren eine wahre Euphorie auslöste.
Eine wahre Euphorie? Wie konnte es sein, dass sich gerade diese Gefangenen darüber freuten, dass man sie, statt sie in den Westen abzuschieben, in die DDR zurück schickte? Dort, wo man jeden von ihnen als Feind ansah und wo es vermutlich eine Ewigkeit dauern würde, bis man sie endlich in die BRD entließ.
Eine Frage, deren Antwort sich der eine oder andere vielleicht schon denken kann. Denn es ging den meisten dieser so genannten 213ner weniger darum, wohin man sie entlassen oder was man dort über sie denken würde, ein Punkt, an dem sich so oder so nicht ändern ließ, als viel mehr darum, so bald als möglich aus diesem Gefängnis heraus zu kommen, um den in der Regel längst neu gefasster Fluchtplan in die BRD sofort oder zumindest nach einer entsprechend Erholungszeit, die der eine mehr und der andere weniger nötig hatte in die Tat umzusetzen.
*
Eine Euphorie, die sich nach ein paar Wochen, die Gerd wieder in der „Freiheit“ war, im wahrsten Sinne des Wortes in Luft aufgelöst hatte, ein Fluchtplan, dessen Vorbereitung sich mehr als schwierig gestaltete und eine Erholung, die kaum, bis gar nicht möglich war.
Gründe dafür waren unter anderem die unzähligen und menschenunwürdigen Schikanen, mit denen man ihn, genau wie schon im Gefängnis immer wieder tyrannisierte. Und um es nicht zu vergessen, die ständige Kontrolle, der er zu beinahe jeder Nacht und Tageszeit ausgesetzt war.
So war es zum Beispiel keine Seltenheit, dass Gerd mitten in der Nacht Besuch vom ABV** bekam, der laut Auflage einen Schlüssel seines, ihm nach der Entlassung zugewiesenen und auf Grund des defekten Ofens kaum ausreichend beheizten, schimmelfeuchten und mit einem kaputten Fenster versehenen Zimmers besaß und dieses, natürlich, ohne sich vorher anzumelden und ohne an der Tür zu klopfen betreten konnte, wann immer es ihm gerade passte.
Ein nächtlicher Besuch, der, je nach Befinden des Besuchers eine Ausweiskontrolle, eine ausgiebige Hausdurchsuchung, eine Verweisung des eventuell vorhandenen weiblichen Besuches oder eine zur „Klärung eines Sachverhaltes“ durchgeführte Verhaftung mit sich bringen konnte.
*
„Zur Klärung eines Sachverhaltes“ Ein Satz, den Gerd mehr als nur einmal hörte. Und das nicht nur, wenn ihn sein ABV wieder mal des Nachts aus dem Bett holte. Nein. Auch, wenn er einfach nur eine Straße entlang ging. Wenn ihn eine der vielen und überall präsenten Polizeistreifen anhielt, um seinen Ausweis zu kontrollieren. Wenn er seinen PM12* hervor holte und ihn die Polizisten, kaum dass sie dieses brandmarkende Ausweisdokument in den Händen hielten, in den bereitstehenden oder eilig herbei gerufenen Streifenwagen schoben, um ihn, nach einem stundenlangen und absolut unsinnigen Verhör wieder laufen zu lassen.
Eine sicher sehr nervige aber wie es scheint auch völlig harmlose Schikane. Könnte man meinen. Aber nur, wenn man die Gefahr außer Acht lässt, in der Gerd jedes Mal nach einer solchen Verhaftung schwebte. Wenn man außer Acht lässt, dass es durch diese harmlos erscheinenden Verhaftungen immer wieder vor kam, dass er zu spät zur Arbeit kam oder dieser, auf Grund der langen Zeit, die man ihn immer wieder fest hielt ganz fern blieb.
*
Zu spät zur Arbeit kommen oder dieser gar ganz fern bleiben. Das wäre heute ein sicherer Kündigungsgrund. Für Gerd und seines Gleichen jedoch bedeutete dies weit mehr, als nur den Verlust der Arbeitsstelle. Denn die Abgabe der Schlüsselgewalt und das Brandmarken durch den PM12 waren nicht die einzigen entwürdigenden Auflagen, die sich das SED Regime, durch das Ministerium für Inneres kontrolliert für seine Gegner ausgedacht hatte.
Es war auch das Umgangsverbot mit bestimmten Personen, zu denen in Gerds Fall die meisten seiner alten Freunde gehörten, das Verbot den Wohnort zu verlassen, das Verbot des nächtlichen Aufenthaltes auf der Straße, das Verbot, den alten Beruf auszuüben, sofern der Betreffende für diesen politisch nicht mehr tragbar war und natürlich, um es nicht zu vergessen, das Gebot, das Gerd unter Androhung einer erneuten Haftstrafe dazu verpflichtet, in seinem alten Betrieb zurück zu kehren, in dem er zuvor als Handwerker beschäftigt war und in dem er nun, für diesen Beruf politisch nicht mehr tragbar, für sage und schreibe dreihundertfünfzig DDR Mark im Monat den Hof fegen musste.
Auflagen, die von jedem kriminell gefährdeten, zu denen, zumindest in den Augen des Staates nun auch Gerd gehörte strickt zu befolgen waren, über deren Einhaltung die Betreffenden mindestens einmal wöchentlich beim Ministerium für Inneres Rechenschaft ablegen musste und dessen geringste Verletzung, ein unregelmäßiges Arbeitsverhalten, ein mehrfaches Zuspätkommen oder ein wiederholtes Fernbleiben zum Beispiel, in der Regel dazu führte, dass derjenige, der gegen diese Auflagen verstieß, erneut als billiger Arbeitssklave im Gefängnis landete.
Aber was konnte denn Gerd dafür, wenn man ihn andauernd verhaftete und stundenlang verhörte? Was konnte er dafür, wenn er dadurch zu spät zu seiner Arbeit kam oder diese ganz versäumte? Fragen, die sich heute vielleicht so manch einer von uns stellen wird. Die jedoch im SED Regime, das einen Plan verfolgte, nur wenige interessierten.
Ein perfider Plan, in dem es weniger darum ging, einen ehemaligen Strafgefangenen zu resozialisieren und damit eine Chance zu geben, als viel mehr darum, sich zur im Herbst 1987 in Wien anstehenden KSZE-Folgekonferenz als ein Staat präsentieren zu können, in dem es keine politischen Gefangenen gab und zum anderen darum, diese nicht existenten politischen Gegner im Nachhinein mit Hilfe unzähliger und tückischer Fallen kriminalisieren und als billige Arbeitssklaven, die die Planwirtschaft dringend benötigte erneut einsperren zu können.
Es war also von vornherein klar, dass keiner der ehemaligen politischen Gefangenen die Chance bekommen sollte, dieser, von der SED ausgerufene und von den verschiedenen staatlichen Organen, dem Ministerium für Inneres, zu dem auch die Deutsche Volkspolizei gehörte und natürlich, um es nicht zu vergessen, dem Ministerium für Staatssicherheit ausgeführten Treibjagd zu entgehen.
*
Es war der neunte Mai 1988. Der Tag, an dem sich Andrea, Gerds ältere Schwester und damals einzige Vertraute, die ihm noch geblieben war erinnert, als wäre es erst gestern gewesen. Der Tag, an dem ihr Bruder sie besuchte und ihr erklärte, dass er sich dieser unmenschlichen Hexenjagd, bei der er mehr als nur einmal nur knapp einer erneuten Inhaftierung entgangen war, nicht länger aussetzen wolle und dass es nun, nach acht Monaten Verfolgung und Angst endlich an der Zeit wäre, gegen alle Auflagen zu verstoßen und sich wieder auf den Weg in Richtung Westgrenze zu machen.
Es sollte das letzte Mal sein, dass Andrea ihren Bruder zu Gesicht bekam. Denn von Gerd, von dem weder bekannt ist, wie und an welcher Stelle er diese Grenze überwinden wollte, noch, ob er diesen äußerst gefährlichen Versuch überlebt hat, fehlt bis zum heutigen Tage jede Spur.
**
Wurde dieser junge Mann, der einfach nur in Freiheit leben wollte zu einem weiteren Opfer des an der gesamten DDR Grenze herrschenden Schießbefehls? War Gerd vielleicht bei dem Versuch, die strömungsreiche und daher gefährliche Ostsee zu überqueren ertrunken oder wurde er dabei gar, wie viele andere in eine Schiffsschraube gezogen und zerfetzt?
War er vielleicht einer von denen, die man in den Gefängnissen der Stasi oder des MdI zu Tode quälte oder hatte er einfach nur mit seiner Vergangenheit abgeschlossen und war im Westen für immer abgetaucht?
Wir, so wie auch Andrea werden die wahre Antwort auf all diese Fragen vermutlich nie erfahren.
*§ 213 des StGB der DDR. Der ungesetzliche Grenzübertritt (sprachgebräuchlich auch Republikflucht genannt) dessen Begehen bis zum Jahre 1968 mit einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren, im schweren Falle jedoch, was bald zur Regel wurde, gemäß Absatz 2 mit einer Höchststrafe von 5 Jahren belegt werden konnte. Eine Höchststrafe, die sich 1979 nach einer Neufassung, inzwischen im Absatz 3 (schwerer Fall) geregelt von 5 auf insgesamt 8 Jahre erhöhte.
Der Straftatbestand des § 213 des StGB der DDR widersprach in all seinen Bestandteilen den Bestimmungen der Schlussakte von Helsinki von 1975.
**Der ABV oder der Abschnittsbevollmächtigte war ein Angehöriger und in der Regel Offizier der Deutschen Volkspolizei, den man mit diversen polizeilichen Aufgaben in den einzelnen Wohngebieten, den Abschnitten betraut hatte. Zu diesen Aufgaben gehörten unteranderem die Aufnahme und Weiterleitung von Strafanzeigen, die Kontrolle des Hausbuches und der darin verzeichneten auswärtiger Besucher, zu denen auch die Gäste aus dem westlichen Ausland gehörten, die polizeiliche Prävention, die Einschätzung eines Bürgers, der für bestimmte Zeit in den Westen reisen wollte und zu guter letzt die Kontrolle staatlich beauflagter (PM12) Personen.
Ein Kontaktpolizist also, der als Ansprechpartner für die Bürger seines Abschnittes da war? Nicht ganz. Denn der ABV stand oft im engen Kontakt mit dem Ministerium für Staatssicherheit. Ein Kontakt, der so manch einem die Freiheit, wenn nicht sogar das Leben kostete.
(Vincent Deeg)
„Amnestie, Amnestie.“ Klang es noch immer in seinen Ohren. Das Wort, das, als Gerd noch einer der vielen Insassen war über alle Flure und aus allen Aufenthaltsräumen des Hallenser Jugendhauses hallte, das den klangvollen und für eine Einrichtung dieser Art viel versprechenden Namen der direkt daneben liegenden Kleingartenkolonie trug und in dem man, vermutlich aus chronischen Platzmangel eine ganze Station geräumt hatte, um darin, von allen anderen Gefangenen isoliert, bereits erwachsene Gegner des Staates unterzubringen.
Es war dasselbe Wort, das gerade unter den politischen Gefangenen, die wegen des § 213 des Strafgesetzbuches der DDR* verurteilt worden waren eine wahre Euphorie auslöste.
Eine wahre Euphorie? Wie konnte es sein, dass sich gerade diese Gefangenen darüber freuten, dass man sie, statt sie in den Westen abzuschieben, in die DDR zurück schickte? Dort, wo man jeden von ihnen als Feind ansah und wo es vermutlich eine Ewigkeit dauern würde, bis man sie endlich in die BRD entließ.
Eine Frage, deren Antwort sich der eine oder andere vielleicht schon denken kann. Denn es ging den meisten dieser so genannten 213ner weniger darum, wohin man sie entlassen oder was man dort über sie denken würde, ein Punkt, an dem sich so oder so nicht ändern ließ, als viel mehr darum, so bald als möglich aus diesem Gefängnis heraus zu kommen, um den in der Regel längst neu gefasster Fluchtplan in die BRD sofort oder zumindest nach einer entsprechend Erholungszeit, die der eine mehr und der andere weniger nötig hatte in die Tat umzusetzen.
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Eine Euphorie, die sich nach ein paar Wochen, die Gerd wieder in der „Freiheit“ war, im wahrsten Sinne des Wortes in Luft aufgelöst hatte, ein Fluchtplan, dessen Vorbereitung sich mehr als schwierig gestaltete und eine Erholung, die kaum, bis gar nicht möglich war.
Gründe dafür waren unter anderem die unzähligen und menschenunwürdigen Schikanen, mit denen man ihn, genau wie schon im Gefängnis immer wieder tyrannisierte. Und um es nicht zu vergessen, die ständige Kontrolle, der er zu beinahe jeder Nacht und Tageszeit ausgesetzt war.
So war es zum Beispiel keine Seltenheit, dass Gerd mitten in der Nacht Besuch vom ABV** bekam, der laut Auflage einen Schlüssel seines, ihm nach der Entlassung zugewiesenen und auf Grund des defekten Ofens kaum ausreichend beheizten, schimmelfeuchten und mit einem kaputten Fenster versehenen Zimmers besaß und dieses, natürlich, ohne sich vorher anzumelden und ohne an der Tür zu klopfen betreten konnte, wann immer es ihm gerade passte.
Ein nächtlicher Besuch, der, je nach Befinden des Besuchers eine Ausweiskontrolle, eine ausgiebige Hausdurchsuchung, eine Verweisung des eventuell vorhandenen weiblichen Besuches oder eine zur „Klärung eines Sachverhaltes“ durchgeführte Verhaftung mit sich bringen konnte.
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„Zur Klärung eines Sachverhaltes“ Ein Satz, den Gerd mehr als nur einmal hörte. Und das nicht nur, wenn ihn sein ABV wieder mal des Nachts aus dem Bett holte. Nein. Auch, wenn er einfach nur eine Straße entlang ging. Wenn ihn eine der vielen und überall präsenten Polizeistreifen anhielt, um seinen Ausweis zu kontrollieren. Wenn er seinen PM12* hervor holte und ihn die Polizisten, kaum dass sie dieses brandmarkende Ausweisdokument in den Händen hielten, in den bereitstehenden oder eilig herbei gerufenen Streifenwagen schoben, um ihn, nach einem stundenlangen und absolut unsinnigen Verhör wieder laufen zu lassen.
Eine sicher sehr nervige aber wie es scheint auch völlig harmlose Schikane. Könnte man meinen. Aber nur, wenn man die Gefahr außer Acht lässt, in der Gerd jedes Mal nach einer solchen Verhaftung schwebte. Wenn man außer Acht lässt, dass es durch diese harmlos erscheinenden Verhaftungen immer wieder vor kam, dass er zu spät zur Arbeit kam oder dieser, auf Grund der langen Zeit, die man ihn immer wieder fest hielt ganz fern blieb.
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Zu spät zur Arbeit kommen oder dieser gar ganz fern bleiben. Das wäre heute ein sicherer Kündigungsgrund. Für Gerd und seines Gleichen jedoch bedeutete dies weit mehr, als nur den Verlust der Arbeitsstelle. Denn die Abgabe der Schlüsselgewalt und das Brandmarken durch den PM12 waren nicht die einzigen entwürdigenden Auflagen, die sich das SED Regime, durch das Ministerium für Inneres kontrolliert für seine Gegner ausgedacht hatte.
Es war auch das Umgangsverbot mit bestimmten Personen, zu denen in Gerds Fall die meisten seiner alten Freunde gehörten, das Verbot den Wohnort zu verlassen, das Verbot des nächtlichen Aufenthaltes auf der Straße, das Verbot, den alten Beruf auszuüben, sofern der Betreffende für diesen politisch nicht mehr tragbar war und natürlich, um es nicht zu vergessen, das Gebot, das Gerd unter Androhung einer erneuten Haftstrafe dazu verpflichtet, in seinem alten Betrieb zurück zu kehren, in dem er zuvor als Handwerker beschäftigt war und in dem er nun, für diesen Beruf politisch nicht mehr tragbar, für sage und schreibe dreihundertfünfzig DDR Mark im Monat den Hof fegen musste.
Auflagen, die von jedem kriminell gefährdeten, zu denen, zumindest in den Augen des Staates nun auch Gerd gehörte strickt zu befolgen waren, über deren Einhaltung die Betreffenden mindestens einmal wöchentlich beim Ministerium für Inneres Rechenschaft ablegen musste und dessen geringste Verletzung, ein unregelmäßiges Arbeitsverhalten, ein mehrfaches Zuspätkommen oder ein wiederholtes Fernbleiben zum Beispiel, in der Regel dazu führte, dass derjenige, der gegen diese Auflagen verstieß, erneut als billiger Arbeitssklave im Gefängnis landete.
Aber was konnte denn Gerd dafür, wenn man ihn andauernd verhaftete und stundenlang verhörte? Was konnte er dafür, wenn er dadurch zu spät zu seiner Arbeit kam oder diese ganz versäumte? Fragen, die sich heute vielleicht so manch einer von uns stellen wird. Die jedoch im SED Regime, das einen Plan verfolgte, nur wenige interessierten.
Ein perfider Plan, in dem es weniger darum ging, einen ehemaligen Strafgefangenen zu resozialisieren und damit eine Chance zu geben, als viel mehr darum, sich zur im Herbst 1987 in Wien anstehenden KSZE-Folgekonferenz als ein Staat präsentieren zu können, in dem es keine politischen Gefangenen gab und zum anderen darum, diese nicht existenten politischen Gegner im Nachhinein mit Hilfe unzähliger und tückischer Fallen kriminalisieren und als billige Arbeitssklaven, die die Planwirtschaft dringend benötigte erneut einsperren zu können.
Es war also von vornherein klar, dass keiner der ehemaligen politischen Gefangenen die Chance bekommen sollte, dieser, von der SED ausgerufene und von den verschiedenen staatlichen Organen, dem Ministerium für Inneres, zu dem auch die Deutsche Volkspolizei gehörte und natürlich, um es nicht zu vergessen, dem Ministerium für Staatssicherheit ausgeführten Treibjagd zu entgehen.
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Es war der neunte Mai 1988. Der Tag, an dem sich Andrea, Gerds ältere Schwester und damals einzige Vertraute, die ihm noch geblieben war erinnert, als wäre es erst gestern gewesen. Der Tag, an dem ihr Bruder sie besuchte und ihr erklärte, dass er sich dieser unmenschlichen Hexenjagd, bei der er mehr als nur einmal nur knapp einer erneuten Inhaftierung entgangen war, nicht länger aussetzen wolle und dass es nun, nach acht Monaten Verfolgung und Angst endlich an der Zeit wäre, gegen alle Auflagen zu verstoßen und sich wieder auf den Weg in Richtung Westgrenze zu machen.
Es sollte das letzte Mal sein, dass Andrea ihren Bruder zu Gesicht bekam. Denn von Gerd, von dem weder bekannt ist, wie und an welcher Stelle er diese Grenze überwinden wollte, noch, ob er diesen äußerst gefährlichen Versuch überlebt hat, fehlt bis zum heutigen Tage jede Spur.
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Wurde dieser junge Mann, der einfach nur in Freiheit leben wollte zu einem weiteren Opfer des an der gesamten DDR Grenze herrschenden Schießbefehls? War Gerd vielleicht bei dem Versuch, die strömungsreiche und daher gefährliche Ostsee zu überqueren ertrunken oder wurde er dabei gar, wie viele andere in eine Schiffsschraube gezogen und zerfetzt?
War er vielleicht einer von denen, die man in den Gefängnissen der Stasi oder des MdI zu Tode quälte oder hatte er einfach nur mit seiner Vergangenheit abgeschlossen und war im Westen für immer abgetaucht?
Wir, so wie auch Andrea werden die wahre Antwort auf all diese Fragen vermutlich nie erfahren.
*§ 213 des StGB der DDR. Der ungesetzliche Grenzübertritt (sprachgebräuchlich auch Republikflucht genannt) dessen Begehen bis zum Jahre 1968 mit einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren, im schweren Falle jedoch, was bald zur Regel wurde, gemäß Absatz 2 mit einer Höchststrafe von 5 Jahren belegt werden konnte. Eine Höchststrafe, die sich 1979 nach einer Neufassung, inzwischen im Absatz 3 (schwerer Fall) geregelt von 5 auf insgesamt 8 Jahre erhöhte.
Der Straftatbestand des § 213 des StGB der DDR widersprach in all seinen Bestandteilen den Bestimmungen der Schlussakte von Helsinki von 1975.
**Der ABV oder der Abschnittsbevollmächtigte war ein Angehöriger und in der Regel Offizier der Deutschen Volkspolizei, den man mit diversen polizeilichen Aufgaben in den einzelnen Wohngebieten, den Abschnitten betraut hatte. Zu diesen Aufgaben gehörten unteranderem die Aufnahme und Weiterleitung von Strafanzeigen, die Kontrolle des Hausbuches und der darin verzeichneten auswärtiger Besucher, zu denen auch die Gäste aus dem westlichen Ausland gehörten, die polizeiliche Prävention, die Einschätzung eines Bürgers, der für bestimmte Zeit in den Westen reisen wollte und zu guter letzt die Kontrolle staatlich beauflagter (PM12) Personen.
Ein Kontaktpolizist also, der als Ansprechpartner für die Bürger seines Abschnittes da war? Nicht ganz. Denn der ABV stand oft im engen Kontakt mit dem Ministerium für Staatssicherheit. Ein Kontakt, der so manch einem die Freiheit, wenn nicht sogar das Leben kostete.