Vor einem Jahr hatte ich die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2017 vorgestellt, nun liegt der Reader mit der Longlist 2018 in den Buchhandlungen aus. 105 Verlage aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben 165 Bücher eingereicht, aus denen zwanzig Titel in die engere Wahl gekommen sind. Der Reader beinhaltet eine kurze Vorstellung der Autoren einschließlich eines Fotos sowie einen fünfseitigen Textausschnitt der nominierten Titel. Die Jury hat die Werke von dreizehn Autorinnen und sieben Autoren nominiert, die ihre Wurzeln nicht nur in D/A/CH, sondern auch in Osteuropa und in einem Fall in Argentinien haben.
Meine Favoriten
Meine Favoriten
Immerhin zwölf der 20 Leseproben haben mir gut gefallen.Die Kurzbeschreibung zu jedem Buch bezieht sich nur auf das, was die Textausschnitte beinhalten. Ich fange einfach mal an:
- María Cecilia Barbetta: Nachtleuchten. Das Buch spielt in Buenos Aires, der Geburtsstadt der Autorin. In diesem Abschnitt erfährt die elfjährige Teresa, dass ihre Mutter ein Kind erwartet. Auf die Frage des Vaters, ob sie sich freue, sagt sie pflichtschuldig "Ja", ahnt aber, dass es für sie nicht mehr die ungeteilte Liebe der Eltern geben würde. Schlimmer noch ist für Teresa aber die Vorstellung, wie es zu der Schwangerschaft gekommen ist: Die Harmlosigkeit, die in der Mitteilung über den Nachwuchs enthalten ist, lenkt aus ihrer Sicht nur von der Anzüglichkeit, die dahinter steht, ab. Der Roman ist im August 2018 im S. Fischer Verlag erschienen.
- Maxim Biller: Sechs Koffer. Mai 1965, Prag: Der erzählende fünfjährige Junge blickt in der kurzen Szene auf seinen Vater, einen Übersetzer. Das Kind schildert einen Konflikt, der seit einer Weile durch die gesamte Familie zu geistern scheint. Onkel Dima, einer der Brüder des Vaters, sitzt im Gefängnis, und für den kleinen Jungen ist klar: Dort sitzen nur Leute, die jemanden umgebracht haben. Der Junge tippt darauf, dass der Großvater das Opfer war. Bei den anderen Brüdern des Vaters ist er sich sicher, dass sie Menschen umgebracht haben, schließlich waren sie in der Roten Armee. Doch schon der nächste - und letzte - Absatz dieses Textauszugs lässt vermuten, dass Onkel Dima kein Menschenleben auf dem Gewissen hat, sondern durch seine ungeschickte Vorbereitung seiner Flucht nach Westberlin aufgeflogen und verhaftet worden ist. Erscheint bei Kiepenheuer & Witsch.
- Susanne Fritz: Wie kommt der Krieg ins Kind. Die Autorin hat sich mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigt. Im Textausschnitt nimmt sie zum polnischen Staatsarchiv Kontakt auf, um Einblick in die Akten über ihre Mutter zu erhalten, die 1945 als Vierzehnjährige von der sowjetischen Geheimpolizei GPU verhaftet wurde und mit 15 im Straflager Potulice inhaftiert war. Sie begibt sich auf die Suche nach dem gefangenen Kind, das ihre Mutter damals gewesen ist. Fritz ist erschüttert, als sie die Akte aufschlägt und ihr Blick auf den Fingerabdruck ihrer Mutter fällt. Doch die Unterlagen enthalten auch Angaben zu ihren Großeltern, die bereits vor ihrer Geburt verstorben sind. Die Trauer der Mutter um die eigenen Eltern war immer so präsent, dass Susanne Fritz während ihrer Kindheit immer das Gefühl hatte, dass die Großeltern geisterhaft mit am Tisch sitzen. Das, was sie in den alten Akten findet, ist wie ein Ruf aus der Vergangenheit, der eine Brücke in die Gegenwart schlägt. Das Buch ist im März 2018 im Wallstein Verlag erschienen.
- Arno Geiger: Unter der Drachenwand. Arno Geiger hat bei mir quasi Vorschusslorbeeren, seitdem ich sein Buch Es geht uns gut gelesen habe, mit dem er 2005 den damals erstmals verliehenen Deutschen Buchpreis gewann. Ein verwundeter Wehrmachtssoldat will sich 1944 am Mondsee am Fuße der Drachenwand erholen. Er kommt im Ort Mondsee an und erhält eine ungemütliche Unterkunft bei einer sehr unfreundlichen Quartiersfrau. Geiger schafft es bereits in diesem kurzen Textauszug, eine sehr dichte Atmosphäre zu erzeugen, die den Leser das Dorf mit den Augen des Soldaten sehen lässt. Erschienen im Carl Hanser Verlag.
- Nino Haratischwili: Die Katze und der General. In diesem Buch geht es um die Kriege in Tschetschenien und Georgien. Im Mittelpunkt steht ein junger Mann aus Moskau, dessen Vater in Afghanistan gekämpft und dafür als Held verehrt wurde - auch von seinem Sohn. Doch der Vater ist tot, und die Mutter hat ihr Leben als Witwe damit verbracht, ihren Mann zu heroisieren. Der Sohn kann dem nichts mehr abgewinnen. Erschienen bei der Frankfurter Verlagsanstalt.
- Franziska Hauser: Die Gewitterschwimmerin. 2011: Die Mutter der Erzählerin ist mit 79 Jahren plötzlich verstorben. Beim Kaffeetrinken nach der Beerdigung singen die älteren Trauergäste Lobeshymnen auf die Verstorbene und ihren Mann, der schon länger nicht mehr am Leben ist. Doch die Töchter wollen das nicht so stehen lassen. Sie deuten an, dass sich der Vater an ihnen sexuell vergriffen hat, woraufhin sie von den Gästen als Nestbeschmutzer bezeichnet werden. Erschienen im Eichborn Verlag.
- Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen. Die Autorin schreibt über das harte Leben auf einer Bohrinsel im Atlantik. Schon der kurze Abschnitt überzeugt durch die authentische Atmosphäre.
- Gert Loschütz: Ein schönes Paar. Ein Paarflüchtet 1957 mit seinem Kind aus der DDR und trennt sich nicht lange danach. In der ausgewählten Szene erhält der Vater vor der Flucht einen auffällig adressierten Brief vom Bundesministerium der Verteidigung, in dem es um seine Bewerbung um eine Stelle dort geht. Das Paar fragt sich, warum der Brief nicht von der Stasi abgefangen wurde. Will man ihnen eine Falle stellen? Erschienen im Verlag Schöffling & Co.
- Susanne Röckel: Der Vogelgott. Die Menschen einer abgelegenen Berggegend fühlen sich von einem Aas fressenden Riesengeier bedroht. Im Textausschnitt sucht die Erzählerin als Fremde in einem Dorf dieser Region eine Unterkunft, weil die Lok ihres Zuges ausgefallen ist. Der Ort wirkt rückständig, aber was am meisten auffällt, sind die allgegenwärtigen Vögel. Erschienen im Jung und Jung Verlag.
- Matthias Senkel: Dunkle Zahlen. In Moskau findet 1985 eine Programmier-Spartakiade statt. Hier ist die kubanische Dolmetscherin gerade dabei, sich auf die Suche nach ihrer Mannschaft zu machen. Wen sie auch fragt, sie erntet nur Ratlosigkeit. Auch das Verhalten der Organisatoren ist merkwürdig. Erschienen im Verlag Matthes & Seitz.
- Stephan Thome: Gott der Barbaren. Die Handlung des gezeigten Abschnitts setzt im Mai 1885 an Bord der HMS Nimrod im Golf von Zhili (ca. 280 km östlich von Peking) ein. Die Szene beschreibt den Angriff von britischen und französischen Kriegschiffen auf ein chinesisches Fort. Das Geschehen wird aus der Sicht des britischen Befehlshabers, des 8th Earl of Elgin, erzählt, der hier wie ein vom Schicksal Getriebener wirkt. Erschienen im Suhrkamp Verlag.
- Christina Viragh: Eine dieser Nächte. Das Buch spielt während eines Flugs von Bangkok nach Zürich. Der eher unsympathisch wirkende und Whisky trinkende Amerikaner Bill erzählt Geschichten, die ihm die Aufmerksamkeit der Mitreisenden einbringen. In der im Reader abgedruckten Szene drängt er sich mit seinem Mitteilungsbedürfnis seiner Sitznachbarin Emma auf. Noch hat sie kein Mittel gefunden, ihn zum Schweigen zu bringen. Erschienen im Dörlemann Verlag.
Womit ich nichts anfangen konnte
Seit der unseligen Plagiatsgeschichte um ihr Buch Axolotl Roadkill kann ich mit Helene Hegemann nichts mehr anfangen, zumal sie das auch nie bedauert, sondern ihr Verhalten als normal und völlig in Ordnung eingeschätzt hat. Ihr nominiertes Buch Bungalow hat es nun auch nicht in meine persönliche Top-Liste geschafft. Ich habe mir den Textauszug natürlich ebenfalls angesehen, aber es ist wohl keine Überraschung, dass er mir nicht gefallen hat. Mich hat schon auf diesen wenigen Seiten gestört, dass der Protagonistin in ihrem Alltag ständig seltsame Dinge passieren, die sie emotionslos wahrnimmt und erzählt. Eine ziemlich verkopfte Schreibe, die mich nicht anspricht.So geht's weiter
Am 11. September wird sich zeigen, wer es eine Runde weiter geschafft hat: Die Shortlist wird veröffentlicht.
Am 8. Oktober wird der Deutsche Buchpreis auf der Frankfurter Buchmesse verliehen. Ich habe einen Favoriten, behalte ihn diesmal aber für mich.