Foto: tranchis
Am 14. November 2011 veröffentlichte Jörg Hätzschel in der Süddeutschen Zeitung den Artikel „Die Kälte im Camp“. Der Artikel ist online hier abrufbar. Gastautor Richard Grünfink mit einer Replik
Sehr geehrter Herr Häntzschel,
gleich im zweiten Abschnitt Ihres Artikels schreiben sie:
„die Bewegung [ist] nun an einem problematischen Punkt angekommen. [...] Die politischen Forderungen der Besetzer sind nicht klarer geworden. Und anders als zu Beginn machen sie nur noch seltener mit Protestmärschen und Aktionen von sich reden. [...]“
Herr Häntzschel, hätten sie sich die Mühe gemacht ihr Büro zu verlassen und mit Akteuren vor Ort gesprochen wären ihnen einige grundsätzliche Eigenschaften der Bewegung nicht entgangen. Zum Beispiel hätten sie sich gefragt, an wen denn die Protestierenden ihre Forderungen stellen könnten? An die politische Klasse die auf unsagbar vielen Gebieten versagt hat? Eine Bewegung die in großen Teilen in Fundamentalopposition zum derzeitigen Gesellschaftssystem – also zu den grundlegenden Spielregeln – steht und Führer oder Repräsentanten ablehnt, kann keine Forderungen an andere Vertreter stellen. Wir lehnen als eigenverantwortliche Menschen das Vertreterprinzip als solches ab! Ich denke das sollte auch von Ihnen verstanden werden können.
Die Demokratiebewegung überwindet ihr Abhängigkeitsverhältnis dahingehend, dass sie eigene – und zwar echte – demokratische Prozesse initiiert. Eines der Instrumente die dazu dienen nennen sich Asamblea. Wenn sie so dringend nach Forderungen der Bewegung haschen, so scheint mir dies ein typischer Beißreflex ihres journalistischen Tuns zu sein, weniger ein Zeichen wirklicher Kenntnis über die Sache.
Des Weiteren denke ich, ist es keine Primärintention der Bewegung mit Action und Spektakel auf sich aufmerksam zu machen. Märsche und Demonstrationen gibt es zuhauf, es geht vielmehr darum, dass die Menschen die sich der Bewegung zugehörig fühlen, anfangen die Geschicke der Gesellschaft in der sie leben, selbst in die Hand zu nehmen, selbst Politik zu machen. Es geht um eine Demokratie die ihren Namen verdient, es geht um eine Demokratie für das 21Jahrhundert. Es geht um eine Politik von Menschen für Menschen.
Es gibt in meinen Augen genau zwei grundsätzliche Aspekte der Demokratiebewegung die überall auf der Welt anzutreffen sind. Erstens, es gibt keine Repräsentanten, zweitens jede Entscheidung wird im Konsens getroffen.
Ich würde ihnen hier beide Aspekte kurz erläutern:
Warum keine Repräsentanten? Damit keiner über den anderen steht, alle begegnen sich auf Augenhöhe. Die Gefahr das jemand von anderen Interessen indoktriniert wird, wie es derzeit am Beispiel des Lobbyismus üblich ist, wird radikal verringert, eben weil keine Stimme mehr oder weniger wert ist als eine andere. So steht das Gesagte, also der Inhalt im Mittelpunkt, weniger die Frage aus wessen Mund das Wort kommt.
Warum Konsens? Es geht darum, dass unsere Gesellschaft und unser gemeinsames Zusammenleben auf der Erde wirklich nachhaltig und positiv gestaltet werden. Mehrheitsentscheidungen bewirken immer, dass eine Gruppe oder Einzelperson die gegen bestimmte Entscheidungen sind von einer Mehrheit übergangen wird. Was aber wenn die Minderheit in der Sache Recht hatte? Wohin das führt sehen wir an den vielen kleinen und großen Problemen die wir heute haben. Das Übergehen von Meinungen und persönlichen Bedürfnissen führt immer auch zu einer Spaltung der Gesellschaft. Dieser Vorgang lässt sich meines Erachtens nach auch über viele Generationen hinweg beobachten.
Die Bewegung betrachte ich als eine gesellschaftliche und kulturelle rEvolution, sie löst sich von den Klassentheorien und vom Kastendenken. Sie löst sich von einem System das auf Spaltung basiert. Nachhaltigkeit ist wichtiger als ein kurzfristiger auf Kompromissen basierender Entschluss.
Seit den Protesten um Stuttgart 21 und der Moderation von Heiner Geißler wird Kants Grundsatz der Befreiung aus der selbst auferlegten Unmündigkeit wieder populär – glücklicherweise. Außerdem wurde aus meiner Sicht unser alter Gesellschaftsvertrag längst gebrochen. Die so genannten „Repräsentanten“ handeln nicht mehr im Interesse derer, die sie gewählt haben und die sie eigentlich repräsentieren sollen. Ich kann von mir also sagen, keinen Repräsenanten mehr zu haben.
Als weiteren Hinweis möchte ich sie nochmals daran erinnern, dass die Bewegung, eine ihrer Initialzündungen durch Stephan Hessels Büchlein „Empört Euch!“ erfahren hatte. Empört Euch!, Engagiert Euch!, Vernetzt Euch!, Kommuniziert! Genau dies passiert nun.
Herr Häntzschel, ich glaube Sie sind noch sehr in alten Denkmustern gefangen.
Mit Freundlichen Grüßen,
Richard Grünfink
Der Autor ist in Berlin Ansprechpartner für die AG Friedrichshain. Zum Blog der AG: hier