Die Knochenuhren
David Mitchell
Rowohlt, 2016
978-3498045302
24,95 €
An einem verschlafenen Sommertag des Jahres 1984 begegnet die junge Holly Sykes einer alten Frau, die ihr im Tausch für “Asyl” einen kleinen Gefallen tut. Jahrzehnte werden vergehen, bis Holly Sykes genau versteht, welche Bedeutung die alte Frau dadurch für ihre Existenz bekommen hat.
Die Knochenuhren folgt den Wendungen von Holly Sykes’ Leben von einer tristen Kindheit am Unterlauf der Themse bis zum hohen Alter an Irlands Atlantikküste, in einer Zeit, da Europa das Öl ausgeht. Ein Leben, das gar nicht so ungewöhnlich ist und doch punktiert durch seltsame Vorahnungen, Besuche von Leuten, die sich aus dem Nichts materialisieren, Zeitlöcher und andere kurze Aussetzer der Gesetze der Wirklichkeit. Denn Holly – Tochter, Schwester, Mutter, Hüterin – ist zugleich die unwissende Protagonistin einer mörderischen Fehde, die sich in den Schatten und dunklen Winkeln unserer Welt abspielt – ja, sie wird sich vielleicht sogar als deren entscheidende Waffe erweisen.
Verrückt ist ein Wort, das ich bei diesem Buch immer wieder benutzt habe. Wenn ich beschreiben sollte, worum es in dem Buch geht, sagte ich nur: Es ist verrückt, waghalsig und anders. David Mitchell ist dafür bekannt, dass er andere Bücher schreibt. Dicke Bücher, die eine breitangelegte Geschichte enthalten. Bücher, die in die Zukunft blicken, mit ihr spielen und über einen wahren Kern verfügen.
Auf den ersten Seiten lernt der Leser ein normales Mädchen kennen, das gerade mitten in der Pubertät steckt. Die erste Liebe geht den Bach runter, Streit mit der Mutter und das nervige Zuhause veranlassen Holly dazu, abzuhauen. Alles erst einmal ganz normal. Aber nach ein paar Seiten wird klar, dass David Mitchell keine normale Geschichte im Sinn hat. Holly trifft eine Frau, die sie um Asyl bittet, stimmt zu und versteht Jahre später die Welt nicht mehr.
Es ist wie der Schmetterling, der mit den Flügeln schlägt und am anderen Ende der Welt ein Erdbeben auslöst. Holly ahnt nicht, dass sie in etwas größeres, außergewöhnliches verwickelt wird. Sie ist eine sympathische Protagonistin. Erst ist sie bockig, dann sehen wir sie eine Zeit lang nicht wieder. Fast hätte ich sie vergessen, lese überrascht ihren Namen auf späteren Seite und denke: Ist das die Holly? Sie ist es – älter, nicht mehr bockig, aber vom Schicksal gezeichnet.
Während Holly Menschen kennenlernt, die nicht altern wollen und andere, die besondere Gaben habe, zieht ein ganzes Leben an ihr und den anderen Protagonisten vorbei. Beginnend im Jahr 1984, in dem noch Erdbeeren wachsen und noch kein Obama im Weißen Haus saß, befindet der Leser sich am Ende im Jahr 2043. Eine ganze Welt liegt dazwischen und ich bin fasziniert davon, wie waghalsig Mitchell in die Zukunft blickt und wie erschreckend es ist, dass er Recht haben könnte. Auch in seinem Buch sind Flüchtlinge später keine Seltenheit, die Lebensmittel knapp und die letzten Atomkraftwerke in Gefahr. China regiert die Welt. Abwegig? Das kann der Leser selbst entscheiden, aber in der Welt der Knochenuhren ergibt alles irgendwie Sinn.
Waghalsig versucht Mitchell dem Leser nahezubringen, was er selbst über die Jahre als Einzelner falsch machen kann oder schon falsch gemacht hat. Holly kennt sogar einen Kriegsreporter, der in den heutigen Kriegsgebieten recherchiert. Es öffnet die Augen, für eine Welt, die wir nur in Zeitungen und dem Internet verfolgen. Jetzt steht es da schwarz auf weiß und beeinflusst Hollys Leben bis sie alt ist.
Ein paar Worte noch zu dem sprunghaften Erzählverhalten des Autors. Manchmal bin ich nicht mitgekommen. Eben noch bei Holly lerne ich plötzlich andere Protagonisten kennen. Muss schnell umdenken und mich später doch wieder an Holly erinnern. Es ist nicht einfach, die Sätze herauszufiltern, die man später noch einmal braucht, da dort Hinweise versteckt waren. Aber es lohnt sich dieses Buch aufmerksam zu lesen.
Es ist der goldene Apfel, unter den momentan erschienenen Romanen, die einen fesseln und auch betrübt zurück lassen.