Die Hoffnung auf Amerika – Teil2 – Der Aufbruch eines “Untertanen”


Vor der Beschreibung von Henry Sattlers Reise in eine “Neue Welt”, soll der Lebenshintergrund und die Situation der Menschen vor über 160Jahren ein wenig beleuchtet werden.

Wie waren die Menschen aus Nassau geprägt, die nach Amerika auswanderten?

Was hatte das Leben meiner Familie im 19. Jahrhundert beeinflusst? Wie war das Bewusstsein der Menschen, die damals versuchten zu überleben, ob in ihrer Heimat oder in der „neuen Welt“? Sie waren weder politisch Verfolgte, noch würde man Henry und den Auswanderern aus dem Herzogtum Nassau gerecht werden, wenn man sie aus heutiger Sicht als „Wirtschaftsflüchtlinge“ bezeichnete. Es gab immer wieder Hungersnöte, die Männer starben oft früh an körperlicher Überforderung, unbehandelten Krankheiten. Die Folgen mangelhafter oder einseitiger Ernährung taten das Ihre.

Die Hoffnung auf Amerika – Teil2 – Der Aufbruch eines “Untertanen”

Aufbruch nach Amerika mit wenig Habe und viel Lebenswillen: Werden die Hoffnungen auf eine bessere Existenz ohne Hunger und Kriege erfüllt werden?

Die durchschnittliche Lebenserwartung um 1850 lag bei Männern, wenn man die Kindersterblichkeit mit einrechnete bei 34 Jahren, bei Frauen um 37 Jahre. Wenn jemand die „40“- bereits erreicht hatte, sah es deutlich besser aus, dennoch mussten 1850 etwa 75 Prozent der Bevölkerung damit rechnen, vor dem 65. Lebensjahr zu sterben. (1) (2) Wirtschaftliche Krisen und Mißernten oder kalte Winter betrafen die Menschen direkt und in ihrer Existenz und sie waren darüberhinaus den Interessen der Mächtigen ausgeliefert, mussten für die jeweils herrschenden in den Krieg ziehen. Henrys Vater war noch in der Zeit der „französichen Wirren“ geboren, als Beilstein und die umliegenden Dörfer von Napoleons Truppen für mehr als ein Jahrzehnt besetzt waren und faktisch zu Frankreich gehörten. So kam es, dass manche Männer im Niederländischen Heer der ortsansässigen Grafschaften der Oranier dienten und andere nun als Napoleons Soldaten eingezogen wurden. Noch um 1807 (*)  rekrutierten die Franzosen Einheimische zum Militärdienst. Junge starke Männer, die den Familien als Arbeitskraft und in der Landwirtschaft fehlten.

(* Lesen Sie im Anhang1: Wie Peter Grün 1807 um den französischen Militärdienst herumkam)

Einfluss auf die „große Politik“ konnten die Handwerker, Landleute und Bauern der Provinz nicht nehmen. Um 1850 gab es immer noch kein allgemeines Wahlrecht. Die monarchistisch-patriarchalisch geprägte Zeit der Restauration gestand den Frauen noch weniger Rechte zu. Es handelte sich nicht um freie Bürger sondern um „Untertanen“ im Herzogtum Nassau. Doch selbst wenn die „Deutsche Revolution 1848/49“ wie das französische Vorbild „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ von staatswegen hätte durchsetzen wollen, so wäre zuerst zumindest ein Nationalstaat, eine Republik notwendig gewesen, in dem ein „Bewußtsein“ eines freien Bürgers sich hätte entfalten können.

Die Hoffnung auf Amerika – Teil2 – Der Aufbruch eines “Untertanen”

1819: Das “Intelligenzblatt” berichtet nicht, es verlautbart

Ein „Deutsches Staatswesen“ war nach dem Scheitern der Deutschen Revolution und Wiedererstarken der monarchistischen Kräfte samt ihrer Einzelstaaten nicht in Sicht, das wird aus heutigem Rückblick gerne vergessen. (4) Und es sah durch Preußens Streben nach der Macht auch nicht danach aus, als würde sich etwas an dieser Situation der Bevölkerung als  „Untertane“ mit stark eingeschränkten Rechten etwas ändern. Die „revolutionären Gedanken“, waren im feinen Wiesbaden und dem modernen Frankfurt beheimatet, weit weg von den Menschen auf dem Land, deren Wohl und Wehe oftmals vom “Dorfschulzen” oder “Schultheiss”  (3) abhing; in einer Person Steuereintreiber, Ortsgericht und Beamter des Herzogs oder Grafens in den Ortschaften. Dieser missbrauchte nicht selten seine Macht dazu, um unliebsame oder aufbegehrende Personen bei der Obrigkeit zu denunzieren.
Die Informationen über die Ereignisse in den Städten gelangten spät und über Mitteilungsblätter in den ländlichen Bereich. Wobei diese Zeitungen selbst als Bekanntmachungs- bzw. Verlautbarungsmedium der Obrigkeit dienten und keine redaktionellen Artikel brachten. Die gesamte Kraft und Lebenszeit wurde für die Landwirtschaft, Versorgung der Nutztiere und die Saisonarbeit gebraucht. Sonntags ging man in die Kirche. Und auch diese hatte Macht über die Menschen. Noch bis ins 19.Jahrhundert hinein erhob die Kirche den Anspruch “uneingeschränkter Hüter von Zucht und Moral” zu sein und übte “geistige Vormundschaft für jegliche kulturelle Entwicklung” aus. (5)

(** wie dies genau aussah, lesen Sie bitte in Anhang2 “Von Rügen und Bußen”)

Wer sein Schicksal grundlegend ändern wollte, musste seine Heimat aufgeben. In den Überlieferungen der texanischen Nachfahren findet sich über Henrys Zeit des Aufbruchs folgendes: “Regrets for leaving seized him. He braced up an comforted himself by not having to go into military service” “Reuegefühle überkamen ihn, (seine Heimat und Familie) zu verlassen. Doch er raffte sich auf und entlastete (sein Gewissen) damit, dass er so nicht den Militärdienst antreten musste.

..bald hier zu lesen:
Die Hoffnung auf Amerika – Teil3 “Ankunft in der neuen Welt”

Ein Artikel von Hans-Udo Sattler

 

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Quellen – weiterführende Links

(1) Die Zeit: “Früher Abschied”
(2) Referat aus der Lerntippsammlung zu: “Lebenserwartung”
(3) Wikipedia.org über den “Schultheiß”
(4) bundestag.de Revolution und Frankfurter Nationalversammlung 1848/1849
(5) Nenderoth 993-1993, Die Chronik eines Dorfes 1993,  Aus dem Artikel “Von Rügen und Bußen”, S143
Fotos/Grafiken: Lizenzfrei, Public Domain



* Anhang1 – aus dem Jahr 1807:  Wie Peter Grün während der “Franzosenzeit” um den Militärdienst herumkam.

Die Hoffnung auf Amerika – Teil2 – Der Aufbruch eines “Untertanen”

Ungeliebter Arbeitgeber im Westerwald: Napoleons Heer

Peter, der Zimmermann schreibt über seine “Musterung” (alt: Auszug):

… “In diesem 1807ten Jahr kam ich in Auszug /
die Musterung war in Renneroth / wir waren damals Französisch / von 6 Mann wurde einer genommen / nun kamen die Nenderöther und Arborner beisammen / in Nenderoth waren 2 Mann in Arborn 4 Mann / wie ich nun in die Stube trat es waren 3 Dokter da 2 Französische und ein Deutscher / der Deutsche war der Dokter Wind dem Rath Geil sein Eidam (Schwiegersohn) von Mengerskirchen / da sagten die Französische das gibt einen schönen Lansge / ich dachte aber ihr habt mich noch nicht / nun war ich in meinem 16ten Jahr der Trep herab gefallen und hatte den Halsknochen zerbrochen/ es wurde wieder geheilt / die rechte Achsel war aber 1 1/2 Zoll niedriger wie die linke / nun war ein alter Soldat in Nenderoth namens Debus / der sagte wenn ich mich in Acht näm so käm ich los dann die Dokter konten nicht wissen wie es wäre / er sagt wenn sie dir den Arm über den Kopf thun wollen so must du thun als wenn es dir arg weh täte / und so auch wenn sie dir den Arm zurük thun wollen/ sie haben über eine halbe Stund an mir gearbeitet und brachten nichts fertig / nun wurden die gefragt die andern flinf die bey mir in der Stube waren wie es sich verhielt / die sagten sie wüßten es nicht / das war mir gut / nun mußten die drey Munziebalräthe aus dem Nenderöther Kirchspiel herbei / die solten aussagen wie es wäre / der Nenderöther war mein Vaters Bruder / der Arborner dem seine Frau war meiner Mutter Schwesters Tochter / mit dem Odersberger seine Frau war eine nae Verwante / der Arborner schrib sich Gradel / der Odersberger Lauer / ich konte auch wirklich kein Holz schneiden oben auf der Bank / nun ging das Jahr 1807 zu ende und vom Soldaten Leben war ich Frey / mein Vater wolte haben ich solte mir einen Fasttag anstellen / nein sagte ich lieber ein Freudenfest ich werde wohl der Fasttage noch genug bekommen….”

aus: „Lebensbeschreibung des Johannes Peter Grün“ Manuskript von 1867. Zur Satztrennung und besseren Verständlichkeit wurden „/“ eingefügt. Ansonsten wörtlich wiedergegeben. Die genannten Orte Nenderoth, Arborn und Odersberg liegen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Henrys Heimatort und gehören heute alle zur selben Gemeinde Greifenstein in Hessen. Das nahegelegene „Renneroth“ gehört heute zu Rheinland-Pfalz.


** Anhang2 “Von Rügen und Bußen”

“Von Rügen und Bußen: Die Kirchenvisitation
Obwohl die geistliche Sendgerichtsbarkeit mit Durchführung der Reformation abgeschafft worden war, hatten sich mit der sogenannten Kirchenvisitation und den bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in Nenderoth nachweisbaren Presbyterialverhandlungen Instrumente erhalten, die sich in Form und Auswirkung kaum von den alten Sendgerichten unterschieden.
Auch weiterhin galt der uneingeschränkte Anspruch der Kirche als Hüter von Zucht und Moral, und ihre geistige Vormundschaft für jegliche kulturelle Entwicklung war noch auf lange Zeit hin festgeschrieben.
Die Kirchenvisitationen fanden im allgemeinen im jährlichen Rhythmus statt. Nur die großen Pestepidemien verhinderten sie manchmal, ebenso die schweren Drangsale des 30 jährigen Krieges.
Ähnlich dem heiligen Send reisten auch die Visitatoren schon am Vorabend an, um im Pfarrhaus die Nacht zu verbringen. Mit dem Gottesdienst am nächsten Morgen begann die eigentliche Visitation.
Nach der Predigt wurden als erstes die Kinder examiniert. Eine Prozedur, bei der sie ihre Kenntnisse aus Bibel und Heidelberger Katechismus vor der versammelten Gemeinde und den strengen Inspektoren unter Beweis stellen mußten und die im weiteren Sinne mit der späteren Konfirmandenprüfung vergleichbar war.
Dann wurde der Pfarrer befragt, welche Klagen er gegenüber seiner Gemeinde oder den Kirchenältesten vorzubringen habe, die man zeitweilig auch als Senioren und in älteren Zeiten, in Erinnerung an die Sendgerichte, noch als Sendschöffen bezeichnete. Dabei mußte die Gemeinde das Gotteshaus verlassen und auf dem Kirchhof warten.
War die Befragung des Geistlichen beendet, dann kamen die Ältesten zu Wort. Alles, was im laufenden Jahr an Verstößen gegen die Rechts-, Sitten- und Moralgesetze in ihren Kirchspielsdörfern vorgefallen und den Senioren zu Ohren gekommen war, brachten sie nun vor den Visitatoren zur Anklage. Die setzten dann, ähnlich dem alten Sendgericht, die Bußen. Aus heutiger Sicht waren es meist nur kleinere Übertretungen, doch genügte oft schon ein derber Fluch, um nach damaligem strengen Kirchenrecht als Gotteslästerer zu gelten und dafiir zur Verantwortung gezogen zu werden. Kamen den Kirchenältesten Verstöße gegen den heiligen Ehestand zu Ohren oder bekamen sie gar Wind von einem “Hurenfall”, dann hatten die Beteiligten meist nichts zu lachen. War schließlich nach allen Demütigungen, peinlichen Befragungen und der öffentlichen Kirchenbuße für die ledige Mutter das “Hurenkind” auf der Welt, so hing ihm der Makel seiner unehelichen Geburt oft sein Leben lang an.
Dem Denunziantentum war Tür und Tor geöffnet….”
(Quelle [5] )

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