Die Hausaufgaben-Hölle

Die meisten Eltern stimmen wohl zu, dass Hausaufgaben – neben den Fragen, wie lange man noch Computer spielen darf und wie viel Schokolade man am Tag verzehren darf –, im Familienalltag zu den Themen mit dem höchsten Konfliktpotenzial gehören. Kinder wollen die Hausaufgaben prinzipiell immer erst nach dem Spielen machen, Eltern sind dagegen der Ansicht, dass sie vor den Freizeitaktivitäten zu erledigen sind. Ein nahezu unauflöslicher Widerspruch.

Hausaufgaben. Des Kindes Leid, der Eltern Leider.

Hausaufgaben. Des Kindes Leid, der Eltern Leider.

 

Außerdem kommt es immer wieder zu unterschiedlichen Auffassungen, ob Aufgaben korrekt gelöst wurden. Beim Stoff der ersten beiden Jahre sind die Eltern noch im Vorteil, können sie sich bei den behandelten Fragen noch als Universal-Gelehrte vom Schlage eines Leonardo da Vincis fühlen („Wie viel ist 3 + 4?“, „Wie viele Blätter hat ein vierblättriges Kleeblatt?“ usw.).

Spätestens ab den Schuljahren 5 und 6 tauchen jedoch immer mehr Fragen auf, bei denen Eltern – sofern sie sich nicht den Wissenskanon von Dietrich Schwanitz reingepaukt haben, um die Millionen bei Günter Jauch zu gewinnen – an die Grenzen ihres Wissenshorizonts stoßen („Durch welche Bundesländer fließt die Elbe?“, „Welche Stoffeigenschaften hat Aluminium?“, „Wie lautet das Kommutativgesetz?“ etc.). Erschwerend kommt hinzu, dass die Kinder in diesem Alter in die prä-pubertäre Phase eintreten und ihr Gefühlshaushalt sich am trefflichsten mit den Attributen labil und fragil beschreiben lässt. Auseinandersetzungen und Streitigkeiten rund um die Erledigung sind somit vorprogrammiert.

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Empirische Beobachtungsstudien in unserer Familie haben gezeigt, dass vor allem Hausaufgaben, Mütter und Töchter ein explosives Gemisch darstellen. Da wird gestöhnt, gejammert, geweint und geschrien. Und wenn dann die Tochter auch noch die Contenance verliert, geht es richtig rund.

Dieses immer wiederkehrende Phänomen des Mutter-Tochter-Hausaufgaben-Konflikts lässt sich sehr anschaulich mit psychoanalytischen Ansätzen erklären. Wie immer bei Sigmund Freud ist der Penis-Neid ursächlich für die dissonante Beziehung von Tochter und Mutter. Demnach ist die Tochter von der Mutter enttäuscht, weil sie von ihr ohne Penis geboren wurde und entwickelt einen Elektra-Komplex (Damit Sie sich das Googeln sparen können, habe ich das übernommen: Elektra ist eine griechische Sagengestalt, die gemeinsam mit ihrem Bruder Mutter und Stiefvater umbringen, weil diese wiederum den biologischen Vater der beiden ins Jenseits beförderten haben. Bei den Psychoanalytikern wollen die Kinder ja immer ihre Eltern töten. Finde das als Vater ziemlich besorgniserregend.).

Irgendwann stellt die Tochter dann auch noch fest, dass die Mutter ihr nicht nur den Penis vorenthalten hat, sondern auch die Hausaufgaben nicht ordentlich erklären kann. Das bringt das Fass zum Überlaufen und es kommt zur großen Konfrontation. Aus feministischer Perspektive ist diese Erklärung selbstverständlich mehr als fragwürdig, aber die Penis-Neid-Theorie ist so schön tautologisch, dass sie doch immer passt.

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Bevor ich die gesamte weibliche Leserinnenschaft mit meinem reaktionären psychoanalytischen Halbwissen vergraule, zurück zum Thema: Wenn die Freundin der Tochter bei den Hausaufgaben hilft, eskaliert die Situation schneller als ein Parteitag der Piraten. Schon nach wenigen Minuten ist die Atmosphäre derart vergiftet, dass nur noch die Mediations-Allzweckwaffe Heiner Geißler unterstützt von UNO-Blauhelmen helfen kann.

Abends klagt mir die Freundin ihr Leid. Die Tochter sei bei den Aufgaben störrisch, uneinsichtig und verschlösse sich jedem rationalen Argument. Von ihr könne sie das nicht haben, ist die Freundin überzeugt.

Lache leise in mich hinein. Anscheinend nicht leise genug. Die Freundin schaut mich zornig an und fragt, ob ich gedenke, einen konstruktiven Beitrag zur Unterhaltung beizusteuern. Biete meine größte Überzeugungskraft auf, um sie davon zu überzeugen, dass mein Lachen keinesfalls als höhnisch, sondern viel mehr als Ausdruck meiner tief empfundenen Empathie zu interpretieren sei. Die Freundin meint, ich könne mein Mitgefühl am besten beweisen, indem ich das nächste Mal der Tochter bei den Schularbeiten hülfe.

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Schon am nächsten Tag bietet sich dazu Gelegenheit. Die Tochter ruft durch die ganze Wohnung nach mir. Sie brauche Hilfe bei den Matheaufgaben.

Da ich in der Oberstufe Mathe-Leistungskurs hatte, gelte ich in der Familie als Mathe-Genie. Außerdem zähle ich beim Kniffeln immer am schnellsten die Punkte zusammen, was meinen Nimbus als mathematische Gottheit zementiert. In Kenntnis meiner schulischen Leistung in Mathematik und mit dem mir zu eigenen Realismus sehe ich mich dagegen eher als Einäugigen mit Farbsehstörung unter den komplett Erblindeten.

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Aber zurück zu den Hausaufgaben der Tochter. Betrete ihr Zimmer und nähere mich ihrem Schreibtisch. Weiche auf dem Weg dorthin wie ein Slalom-Läufer schmutzigen Kleidungsstücken, Büchern, CDs und Papierschnipseln aus, die einem Kunstwerk gleich auf dem Boden verteilt sind.

Aus dem CD-Player dröhnt in ohrenbetäubender Lautstärke ein TKKG-Hörspiel. Verlange väterlich streng von der Tochter, die CD während den Hausaufgaben bitte auszumachen. Sie findet jedoch, sie könne sich dann besser konzentrieren.

Ohne über statistisch belastbares Material zu verfügen, behaupte ich, das habe es früher auch nicht gegeben, dass man beim Hausaufgabenmachen Kassetten hört. Die Tochter erwidert, natürlich hätte man das früher nicht gemacht, weil es zum Beispiel im Mittelalter ja gar keine CD-Player gab. Deswegen müsse sie aber jetzt wohl nicht wie ein Höhlenmensch leben. Ihren mitschwingenden Vorwurf der Technikfeindlichkeit ignorierend erkläre ich pädagogisch voll auf der Höhe, sie könne gerne Mittelalter spielen, indem ich den Player für die nächsten zwei Wochen konfisziere. Missmutig schaltet die Tochter das Gerät ab.

Bin zufrieden, dass die erste Runde an mich ging. Allerdings ist die Stimmung nun etwas frostig, was nichts Gutes für den weiteren Verlauf der Hausaufgaben bedeutet.

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Frage die Tochter, um was es bei ihrem mathematischen Problem ginge. „Geometrie!“, ruft sie theatralisch und wirft dazu die Arme in die Luft. „Ich kann das nicht!“

Nicht erst seit Stromberg wissen wir ja, dass ‚Kann nicht‘ häufig in der ‚Will-nicht-Straße‘ wohnt. Anscheinend findet die Tochter den Spruch nur mäßig lustig. Schließe das zumindest aus ihren zusammengekniffenen Augenbrauen und der vorgeschobenen Unterlippe.

Ein wenig Verständnis habe ich schon, zählte Geometrie früher auch nicht gerade zu meinem Spezialgebiet in Mathematik. Wobei diese Formulierung unzulässig impliziert, ich hätte in Algebra oder Stochastik besonderes Spezialwissen vorzuweisen.
Fordere die Tochter auf, mir die Aufgabe zu zeigen. Sie liest aus dem Buch vor:

  • Zeichne in ein Koordinatensystem (Einheit 0,5 cm) ein Dreieck mit den Eckpunkten A (6|16), B (14|16) und C (10|20).
  • Drehe das Dreieck mit Geodreieck und Zirkel um Z (10|11) um a) 90°, b) 180°, c) 270°.
  • Gib jeweils die Koordinaten der Bildpunkte an.

Hätte sie mir die Aufgabe auf Suaheli vorgetragen, ich hätte nicht weniger verstanden. Lasse mir meine Ratlosigkeit aber nicht anmerken, um die Tochter nicht zu verunsichern. Schaue mir intensiv die anderen Seiten des Mathebuchs an. Hoffe verzweifelt, irgendwelche, Hinweise für den Lösungsweg zu entdecken.

Die Tochter schaut mir dabei zu, wie ich schaue. Nach zwanzig Minuten sagt sie, ihr sei langweilig, und fragt, ob sie das Hörspiel wieder anmachen könnte. Knurre etwas Unverständliches. Die Tochter interpretiert es richtig als ein „Nein“.

Geodreieck und Lineal. Des Grobmotorikers größter Feind.

Geodreieck und Lineal. Des Grobmotorikers größter Feind.

Endlich werde ich fündig. Triumphierend zeige ich es der Tochter: „Du musst da nur mit dem Geodreieck am Scheitelpunkt im 90°-Winkel zeichnen. Dann stichst du mit dem Zirkel da rein und da und da und machst so Markierungen. Die verbindest du dann und – zack! – fertig ist die Laube.“ Reibe mir dabei die Nase wie Wickie, wenn er eine seiner genialen Ideen hat, um Zuversicht auszustrahlen.

Die Tochter blickt mich mit einer Mischung aus Fassungs- und Verständnislosigkeit an. Kann es ihr nicht verdenken, weiß ich doch selbst nicht, was diese von mir aneinandergereihten Worte bedeuten sollen.

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Die Tochter haut mit der flachen Hand auf das Buch und stöhnt, sie kapiere das alles nicht und sie bekomme bestimmt eine Fünf in Mathe. Versuche, sie pädagogisch-verständnisvoll zu beschwichtigen. Die Note sei doch nicht wichtig. Sie lerne schließlich nicht für die Schule, sondern für das Leben. Schäme mich ein wenig für diesen Satz, da er selbstverständlich vollkommen Unsinn ist.

Oder haben Sie schon einmal ein Dreieck mit Zirkel und Geodreieck verschoben, um einen Platten an Ihrem Rad zu flicken? Genau, ich auch nicht. Mir ist auch noch kein Klempner untergekommen, der gesagt hat: „Bei verstopften Abflüssen hilft immer Schillers Glocke. Damit bekommen wir jedes Rohr frei.“ Und der Bankberater gewährt einem auch keine besseren Kreditkonditionen, wenn man ihm den Prozess der Photosynthese erläutert.
Es spricht für den Scharfsinn der Tochter, dass sie fragt, wofür im Leben sie das genau bräuchte. In ihrem Leben als Schülerin spätestens nächste Woche, wenn sie die Mathearbeit schreibt, befriedigt die Tochter als Antwort nur so mittel.

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Ermahne die Tochter, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren. „Aber warum muss ich die Linie da ziehen?“, will sie wissen. „Weil es da steht“, stoße ich hervor. „Das ist keine richtige Erklärung“, beschwert sich die Tochter.

Frage mich, was eigentlich der Vorteil der liberalen Erziehung ist, durch die sich die Kinder zu mündigen reflektierenden eigenständig denkenden Erwachsenen entwickeln sollen, wenn dies dazu führt, dass sie die Antworten ihrer Eltern unbotmäßig hinterfragen und die auf einem Mehr an Erfahrung und Wissen basierende väterliche Autorität untergraben.

Werde langsam nervös. Mein linkes Augenlid beginnt zu zucken. Warum gibt es eigentlich keine von Zen-Buddhisten organisierte Hausaufgaben-Betreuung? Die ruhen immer in sich selbst und kennen keine bösen Gedanken. Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie sich doch einmal aufregen, können sie das einfach weg meditieren. Es wäre alles so viel einfacher.

Suche Zen-Buddhist zur Hausaufgabenbetreuung der Tochter. Bitte RT.

— Familienbetrieb (@Betriebsfamilie) 4. Oktober 2014


Während die Tochter mosernd und unmotiviert fluchend mit Zirkel und Geodreieck hantiert, entwickle ich neuen Respekt vor meinem Vater. Nachdem ich in der siebten Klasse einmal eine Sechs in Latein schrieb, nahm er die schwere Bürde auf sich, sowohl im Schweiße seines Angesichts als auch auf Kosten seiner Nerven wochenlang tagein, tagaus mit mir Vokabeln und Grammatik zu lernen. Meine Lernkurve diesbezüglich war am besten als Parallele zu beschreiben und wenn ich mich richtig erinnere, war es zu dieser Zeit, dass mein Vater ergraute (Sollte mein Vater dies lesen, sei ihm versichert, dass das Vokabellernen mit ihm zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen zählt.).

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Nachdem ich der Tochter eine halbe Stunde beobachtet habe, halte ich es nicht mehr aus. Das Augenzucken gleicht mittlerweile dem Flügelschlag eines Kolibris. Nehme ihr unwirsch Zirkel und Geo-Dreieck ab und versuche mich selbst an der Aufgabe. Die Tochter merkt spitz an, dass es meinen Zeichnungen an Präzision mangele („Oh Papa, das ist krass schief!“). Kein Wunder, wenn das flatternde Augenlid Stroboskop-Effekte wie in einem 90er-Jahre Techno-Club erzeugt.

Die Tochter lässt nicht locker und weist daraufhin, dass die Lehrerin sehr viel Wert auf exaktes Arbeiten lege. Die einsetzende Schaum-Bildung vor meinem Mund lässt sie verstummen und sie stört mich nicht weiter.

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Ein paar Tage später kommt die Tochter von der Schule nach Hause. Sie überreicht mir einen Brief. Er ist von der Mathelehrerin. Sie hat mir eine 4+ auf die Hausaufgabe gegeben. Wenn ich eine Gymnasialempfehlung bekommen wolle, müsse ich mich mehr anstrengen.

Suche mir jetzt nach einem professionellen Nachhilfe-Lehrer. In einem Zen-Kloster. Dann klappt es auch mit dem Gymnasium. Vielleicht.


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