Die Freidenker – wer sind sie, was sind sie? 15 Porträts.

WEIMAR. (fgw) FREIDENKERiNNEN, so heißt ein Porträtband aus der Feder von Heiner Jestrabek. Freidenker – wer sind sie, was sind sie? Mit die­sem Begriff kann heute kaum noch jemand etwas anfan­gen. Dabei war der Deutsche Freidenkerverband (DFV) in den 1920er Jahren mit nahezu 700.000 Mitgliedern eine wahre Massenorganisation, als Kulturorganisation Teil der deut­schen Arbeiterbewegung. Lange Zeit sogar beide Linien der Arbeiterbewung ver­ei­nend. Doch mit der Machtübertragung an die deut­schen Faschisten endete eine Erfolgsgeschichte. Zu den ers­ten Maßnahmen der Hitlerregierung gehör­ten einer­seits das Verbot die­ser athe­is­ti­schen Organisation, ande­rer­seits das Konkordat mit der katho­li­schen Kirche, das Konkordat mit dem Vatikan.

freidenkerinnen Die Freidenker – wer sind sie, was sind sie? 15 Porträts.Von die­sem Schlag hat sich die frei­den­ke­ri­sche Bewegung bis heute nicht erholt. Nach 1945 hat­ten die Besatzungsmächte – aus unter­schied­li­chen Gründen – kein Interesse an ihr, son­dern pro­te­gier­ten statt­des­sen die christ­li­chen Amtskirchen. Im Westen Deutschlands kon­sti­tu­ierte sich der Verband nach 1945 neu, konnte aber kaum wie­der Einfluß gewin­nen und zählt heute nur noch wenige hun­dert Mitglieder. Aus dem DFV erwuchs aber auch der Humanistische Verband Deutschlands (HVD), der aber eben­falls zu kei­ner neuen Massenorganisation wurde.

Und auch dies ist nicht zu bestrei­ten. Aus den ver­schie­dens­ten Gründen mei­den frei­den­kende Menschen heut­zu­tage die Bezeichnung Freidenker. Sie bezeich­nen sich statt­des­sen u.a. als Humanisten, Konfessionsfreie, Agnostiker oder Atheisten.

Trotz des Höhenfluges in den 1920er Jahren blie­ben jedoch hier­zu­lande die Freidenkenden Menschen über­wie­gend Einzelkämpfer. Die aber den­noch zu ihrer Zeit mit­un­ter gro­ßen Einfluß auf ihre Zeitgenossen aus­üb­ten. Die orga­ni­sa­to­ri­sche Schwäche der Freidenker und die Individualität der hier vor­ge­stell­ten zwölf Männer und drei Frauen aus ver­schie­de­nen Generationen ist jedoch auch ein Beleg dafür, daß Freies Denken nicht mono­li­thisch und dog­ma­tisch ist, daß es statt­des­sen, vom Menschen aus­ge­hend, viel­fäl­tig und auch über­aus phan­ta­sie­voll sein kann.

Die ein­zel­nen Porträts umfas­sen je nach Quellenlage den pri­va­ten Lebensweg, den beruf­li­chen und poli­ti­schen Werdegang die­ser Menschen sowie eine chro­no­lo­gi­sche Auflistung ihrer wich­tigs­ten Publikationen. Die genann­ten Werke wer­den teil­weise detail­liert refe­riert und so machen zahl­rei­che Zitate aus den­sel­ben den beson­de­ren Reiz die­ses Bandes aus. Hier kann sich der Leser selbst ein Bild von den Zeitumständen und auch von der Entwicklung des Denkens die­ser 15 Menschen machen. Zahlreiche zeit­ge­nös­si­sche Abbildungen tra­gen dazu eben­falls bei.

Der erste in der illus­tren Runde der Freidenker ist Albert Dulk (1819 – 1884), den Heiner Jestrabek als “Dramatiker, Revolutionär, Freidenker” cha­rak­te­ri­siert.

Dulk war aber nicht nur ein Freidenker, son­dern im wahrs­ten Sinne des Wortes auch ein Freigeist. Denn Aufsehen erregte er sei­ner­zeit beson­ders durch seine unge­wöhn­li­che Lebensgemeinschaft mit drei Frauen. Dieser frühe Freidenker fand nach 1848 den Weg zur sozia­lis­ti­schen Arbeiterbewegung. Denn, so Jestrabek, “der Naturwissenschaftler Albert Dulk bestand von Anfang an dar­auf, den sozia­lis­ti­schen Kampf mit dem Kampf gegen reli­giöse Unfreiheit (…) zu verbinden.Die Emanzipation von der Bevormundung durch die christ­li­che Religion und Kirche betrach­tete er als unab­ding­bare Voraussetzung für die Verbreitung sozia­lis­ti­schen Bewußtseins.” (S. 26)

Da ist es kein Wunder, daß Dulk (wie andere frühe und in die­sem Band vor­ge­stellte Freidenker) stän­dig Ärger mit dem wil­hel­mi­schen Polizeistaat und der Justiz hatte. Ärger – das bedeu­tete sei­ner­zeit Haftstrafen… Als akti­ver und revo­lu­tio­nä­rer Sozialdemokrat ver­folgt nach dem bis­marck­schen Sozialistengesetz, als beken­nen­der Atheist ver­ur­teilt wegen “Gotteslästerung”. Ein sol­cher Paragraph exis­tiert übri­gens noch immer im deut­schen Strafgesetzbuch.

Verwiesen wird in die­sem Porträt auf den Freidenker Karl Liebknecht, für den die Kirche keine reli­giöse Anstalt dar­stellte, son­dern eine poli­ti­sche Organisation, eng mit dem Obrigkeitsstaat ver­bun­den.

Hier kommt Jestrabek auf ein, nicht nur für ihn, lei­di­ges Thema zu spre­chen: Die Rechristianisierung der Linken nach dem II. Weltkrieg. Zwar deut­lich gemünzt auf die SPD und ihr Godesberger Programm, aber den­noch die SED hier ein­be­zie­hend. Und seine Aussagen sind auch für maß­geb­li­che Politiker der heu­ti­gen Partei DIE LINKE zutref­fend:

“Dieser Opportunismus fin­det sich weit ver­brei­tet inner­halb der Sozialdemokratie, aber auch bei den KP’s, die dem Bündnis mit der christ­li­chen Friedensbewegung und eini­gen weni­gen fort­schritt­li­chen Pfarrern immer wie­der höhere Bedeutung bei­mes­sen als der eige­nen frei­den­ke­ri­schen Tradition. (…)
Schließlich äußert sich die Rechristianisierung der Linken in der völ­li­gen Aufgabe sogar von demo­kra­ti­schen Minimalforderungen wie der Trennung von Staat und Kirche und der Abwendung von jeg­li­cher Ideologiekritik, bis hin zu offe­ner Gegnerschaft zum Freien Denken.. Dies geht so weit, daß durch linke Parteien kle­ri­kale Politik geför­dert wird, lai­zis­ti­sche Positionen von oppor­tu­nis­ti­schen Politikern auf­ge­ge­ben wer­den…” (S.42)

Dem Dulk-Porträt folgt unmit­tel­bar eines von August Bebel (1840 – 1913) unter der Über­schrift “Republik, Sozialismus, Atheismus”. Da Bebel als lang­jäh­ri­ger Vorsitzender der SPD auch heute noch rela­tiv bekannt sein dürfte, soll hier nicht näher auf die­sen beken­nen­den Atheisten und Freidenker ein­ge­gan­gen wer­den.

Besonders emp­foh­len wer­den soll das Porträt von Jakob Stern (1843 – 1911) “Vom Rabbiner zum Atheisten”.

Die Beschäftigung mit Spinoza führte ihn zum Freidenkertum und schließ­lich in die SPD. Stern wid­mete sich dann ganz dem poli­ti­schem Kampf für die soziale (und reli­giöse) Befreiung der Arbeiterklasse, so als sehr pro­duk­ti­ver Schriftsteller und Journalist, aber auch als Abgordneter sei­ner Partei. Jakob Stern war es, der sei­ner­zeit die ent­schei­den­den Impulse für die Verbindung des Freidenkertums mit dem Marxismus gab. Berühmt wurde er durch seine Formulierung vom “hal­ben und gan­zen Freidenkertum”. Stern beschränkte sich in sei­ner Religionskritik nicht wie bür­ger­li­che Freidenker auf das Schlagwort vom “Priesterbetrug”, son­dern erklärte das Phänomen Religion als Ausdruck der mate­ri­el­len und sozia­len Lage der Menschheit. Ein Freidenkertum, wel­ches die soziale Frage igno­riere, sei daher nur ein hal­bes Freidenkertum.

Beiläufig ist hier auch zu erfah­ren, daß Jakob Stern es war, der das SPD-Parteiprogramm von 1891 for­mu­lierte. Die heu­tige LINKE wäre gut bera­ten, sich bezüg­lich ihrer Traditionen gerade auch Jakob Stern zuzu­wen­den. Lesenswert noch heute ist Stern Schriften “Der Zukunftsstaat. Thesen über den Sozialismus”, darin es u.a. bei Jestrabek heißt: “Der Sozialismus will nicht die Religion aus­rot­ten. (…) Der Sozialismus ist sogar gegen rück­stän­dige Weltanschauungen tole­ran­ter als das bür­ger­li­che Freidenkertum, weil er auf der mate­ria­lis­ti­schen Geschichtsauffassung beruht und darum sol­che Anschauungen aus den ökono­mi­schen Zuständen begreift.” (S. 80)

Zu den Porträtierten gehört der Sozialdemokrat Adolph Hoffmann (1858 – 1930), den “Zehn-Gebote-Hoffmann”, der aller­dings kei­nem Freidenkerverband ange­hörte, son­dern der Berliner Freireligiösen Gemeinde. Hoffmann war es, der Ende 1918 in sei­ner kur­zen Amtszeit als Preußischer Kultusminister die Impulse dafür gab, daß in die Weimarer Reichsverfassung Bestimmungen über die Trennung von Staat und Kirche und Schule und Kirche ein­flie­ßen konn­ten.

Zu den pro­mi­nen­ten frei­den­ke­ri­schen SPD-Funktionären gehörte nicht zuletzt Rosa Luxemburg (1870 – 1919), von Jestrabek als “Freidenkerin des Sozialismus” gewür­digt. Sie ver­trat kon­se­quent ani­k­le­ri­kale und lai­zis­ti­sche Positionen und kri­ti­sierte vehe­ment die “christ­li­chen” Rechtfertigungen der Kolonialpolitik. Jestrabek ver­weist auf Luxemburgs Schrift “Kirche und Sozialismus” aus dem Jahre 1905, die auch heute noch lesens­wert ist.

Sie stellt fest: “Der Klerus aber, ja die ganze Kirche gehört eben­falls zu die­sen herr­schen­den Klassen. All diese rie­si­gen Reichtümer, die die Kirche ange­sam­melt hat, wur­den ohne eigene Arbeit durch Ausbeutung und Benachteiligung des arbei­ten­den Volkes erwor­ben. Das Vermögen der Erzbischöfe und Bischöfe, der Klöster und Pfarreien ist ebenso mit dem blu­ti­gen Schweiß des städ­ti­schen und länd­li­chen Arbeitervolkes erkauft wor­den wie das Vermögen der Fabrikanten, Kaufleute und Landmagnaten.” (S.117)

Rosa Luxemburg plä­dierte für Religions- und Gewissenfreiheit. Darunter ver­stand sie, daß jede Konfession Privatangelegenheit eines jeden Menschen sei und daß sich jeder zu der Religion bekennt, die ihm paßt (oder zu kei­ner), und daß sich Klerus und Kirchen aus­schließ­lich aus frei­wil­li­gen Beiträgen ihrer Gläubigen zu finan­zie­ren haben.

Würdigung erfährt in die­sem Band ein Vergessener der deut­schen Arbeiterbewegung, der Mitstreiter von Liebknecht und Luxemburg und zeit­wei­lige Führer der Kommunistischen Partei, der antis­ta­li­nis­ti­sche Kommunist August Thalheimer (1884 – 1948). Jestrabek über­schreibt die­ses Porträt mit “So ist die Vernunft selbst welt­lich.” Und er geht hier deut­lich auf die wider­sprüch­li­che Politik Stalins gegen­über Gottlosen und Freidenkern, der “Gottlosenbewegung” im eige­nen Lande und den Kirchen ein. Das schließt Betrachtungen zur Sowjetunion als Besatzungsmacht nach 1945 ein, als diese die Kirchen indi­rekt sogar för­derte und statt­des­sen die frei­den­ke­ri­schen Kräfte unter­drückte.

Vorgestellt wer­den fer­ner zwei pro­mi­nente Funktionäre des Deutschen Freidenkerverbandes und sei­ner bei­den 1905 bzw. 1908 gegrün­de­ten Vorläufer: Konrad Beißwanger (1869 – 1934) – “Der Atheist” – und Max Sievers (1887 – 1944) – “Freidenker, Sozialist, Antifaschist”.

Porträts von eher unbe­kann­ten oder nur regio­nal wir­ken­den (ins­be­son­dere in Baden-Württemberg) Freidenkerinnen und Freidenkern run­den den Band ab: Josef Schiller (1846 – 1897) aus Nordböhmen unter der Über­schrift “Fort mit Himmel, Hölle und Fegefeuer”; Peter Maslowski (1893 – 1983) “Klerikalismus und Proletariat”; Susanne Leonhard (1895 – 1984) “Unterirdische Literatur & Gestohlenes Leben”; Leopold Grünwald (1901 – 1992) – der zunächst in der Tschechoslowakei wirkte – unter dem Titel “Wandlung”; Lina Haag (geb. 1907) über­schrie­ben mit “Am Leben ler­nen”; Fritz Lamm (1911 – 1977) “Funken & Unbequemer Streiter” sowie Hellmut G. Haasis (geb. 1942) “Geschichte(n)- Ausgräber & Befreiendes Lachen”.

Der Autor läßt es nicht bei den Porträts an sich, also blo­ßen Lebensbeschreibungen und Werkauflistungen, bewen­den. Seine Aufsätze beinhal­ten Wertungen im his­to­ri­schen Kontext und stel­len immer auch Bezüge zum Hier und Heute her. Obwohl Jestrabek betont, daß er “nur” Einzelpersonen vor­stellt, so gibt es bei den ein­zel­nen Porträts mehr oder weni­ger aus­führ­li­che Bezüge zur Geschichte der frei­den­ke­ri­schen Verbände.

Jestrabek hat mit die­ser Publikation einen über­aus wert­vol­len Beitrag zur Erforschung der Geschichte frei­den­ke­ri­schen Bewegung geleis­tet. Eine Geschichte, die in ihrer Komplexität, lei­der immer noch nicht erforscht ist. Und er gibt einen anspre­chen­den Anstoß, daß sich jün­gere reli­gi­ons­freie und/oder lai­zis­ti­sche Menschen im Hier und Heute, sich mit den Vorläufern von HVD, Laizisten, gbs oder Brights zu beschäf­ti­gen. Denn die Anliegen von Dulk, Stern, Sievers und vie­len ande­ren har­ren ja noch immer ihrer Realisierung.

Heiner Jestrabek: FREIDENKERiNNEN – Lehren aus der Geschichte. Porträts und Aufsätze. 190 S. m.Abb. kart. edi­tion Spinoza im Verlag frei­heits­baum. Reutlingen 2012. 14,00 Euro, ISBN 978-3-922589-52-1

[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]


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