Die Fährte

von Markus Michalek

Die schmale, abgetretene Holztreppe hinauf, drei Stockwerke lang vorbei an der grünlich gestrichenen Wand; die vielen Kratzer im Lack, ja. Muss Lackfarbe sein, wie sie blättert, wer dort alles mit seinem Finger entlang gekratzt hatte, dachte er, setzte Fuß vor Fuß auf die Dielen. Knarrt. Kracht. Knackt. Kratzt. Die Wand entlang. Staub. Grünliche Wandfarbe. Fahl. Wie in der Wüste, fahleswüstenkakteengrün, denkt er. Die Luft trocken, ausgetrocknet, ausgedörrt, Atemzüge, knarrt, kracht, knackt, kratzt im Hals; hier, im Treppenhaus, auch. Zwei Stockwerke hinauf. Schmales Fenster, das sich auftut in den Innenhof. Draußen Dämmerung, kahle Bäume. Kalter Luftzug, der Rahmen verzogen, schließt nicht mehr richtig, kalter Luftzug, mit Staub gemischt.

Durstig war er gewesen, in der Kakteenwüste, so durstig, dass er auf die Pflanzen eingeschlagen hatte, zuerst auf den Stamm, dann auf die Blüten, schließlich mit einem Steinkeil; bis es ihm gelang, einige Stücke herauszubrechen. Aber da war nur Staub im trockenen Fruchtfleisch gewesen. Wüstenstaub, grünlicher Wüstenstaub, Kakteengrünstaub und ab und an schon fast verwischte Spuren eines Tieres am kargen Boden.

Er bleibt einen Moment lang am Fenster stehen, sieht in die Dämmerung hinaus, zwischen den Bäumen ein verwaister Sandkasten; dass hier einmal ein Kind gespielt hätte, oder vielleicht auch zwei, erinnern kann er sich nicht daran, höchstens vielleicht ein Hund, den jemand dort hinführte, zwischen die mageren Bäume und der Sandkasten. Er tut einen vorsichtigen Schritt, knarrt, kracht, knackt, kratzt, der Fensterladen weiß gestrichen, mattweiß, nikotinweiß, altersweiß, staubig, ehemals weiß.

Irgendwann die Straße zwischen den Kakteen entdeckt und an ihr entlang gelaufen, gegangen, geschlichen, gekrochen schließlich, die Zunge hatte am Gaumen festgeklebt. Blick vor und Blick zurück, da war kein Wagen gewesen, auch am Horizont nicht und schon gar nicht an dessen Ende oder gar darüber hinaus, nichts zu sehen, nirgends. Schritt für Schritt.

Er weiß heute nicht mehr, wie es bis zur Tankstelle geschafft hat. Sie war da, er ist sich absolut sicher, er weiß es; sie tauchte einfach auf, aus dem Nichts der endlosen Kakteen, wuchernd, ein weißbemaltes Holzhaus, einstöckig. Eine Zapfsäule nur, hinter staubigen Fenstern die Hoffnung auf Wasser und in der offenen Tür, dort stand ein Mensch.

Im dritten Stock angekommen. Platz nehmen auf dem dafür vorgesehenen Stuhl, ein moderner Stuhl, Metallbeine, hell gebeiztes Holz, eine feste Sitzfläche und die Rückenlehne gibt nur leicht nach, er muss sich fast dagegen stemmen. Er lauscht. Nur der leise Takt seiner Füße, die auf dem Laminatboden auf und ab wippen. Fünfzehn Minuten zu früh. Er steht wieder auf, löscht das Licht, sitzt dann im Halbdunkeln. Blaugrün schimmernd.

Wasser hatte es gegeben. Im Überfluss. Nicht nur, um zu trinken, er säuberte sich. Sie sah ihm amüsiert dabei zu, wie er sich unter den Achseln wusch. Ein sauberes Handtuch, um sich anschließend trockenzureiben, sogar ein gebügeltes, kariertes Hemd reichte sie ihm. Whiskey. Zigaretten. Ein Sandwich. „Komm mit“, sagte sie, als er zufrieden grinste. Sie ging mit langsamen Schritten hinters Haus, die eine Hand ausgestreckt; als wollte sie Abstand halten, dachte er. Er folgte ihr, dankbar, für Wasser, Zigaretten, das Sandwich und den Whiskey. Er wusste, er wäre ihr überall hin gefolgt. Hinterm Haus, eine lange Metallkette, die sich in den Kakteen verlief. Sie pfiff, einmal, zweimal. Er fragte sich nicht, was vielleicht zwischen den Kakteen hervorkommen würde. Er stand einfach neben ihr, die Hände in die Hosentaschen seiner Jeans gesteckt, wartete. Als die Kette zu klirren begann, verspürte er keine Angst.

„Du kannst sie ruhig streicheln“, sagte sie, als der Puma näher kam. „Sie ist zahm, ich hab sie seit ein Baby ist“, sagte sie, dann nahm sie die Kette weg. Er nickte und streckte seine Hand aus, fuhr der Raubkatze durchs Fell. Weicher, als er es sich vorgestellt hatte und dennoch, rau. Der Puma schnurrte, rieb den Kopf an seinem Oberschenkel, fauchte einmal, zweimal, die Sonne brach sich auf den Reißzähnen. Er sah ihr in die Augen, er sah der Katze in die Augen. Blaugrün.
„Komm“, sagte sie, gab dem Puma einen Klaps auf den Hintern, schickte ihn mit einer Kopfbewegung weg, er starrte dem Tier hinterher, wie es gemächlich zwischen den Kakteen verschwand, unter dem Fell das grazile Muskelspiel, erst jetzt schauderte er und griff nach ihrer Hand, „Wir folgen ihrer Fährte“, sagte sie. Er sah in ihre blaugrün verwischten Augen hinein; spürte, wie sein Herz schlug. Staub aufgewirbelt zwischen blassgrünen Pflanzensäulen, trockene flirrende Luft. „Glaubst du dass wir auf Menschen treffen?“, fragte er . Sie zuckte mit den Achseln, „Ich weiß nicht. Was denkst du?“, sagte sie schließlich. „Den Horizont entlang nur Kakteen und am Ende, gezackte Felsen. Ich glaube nicht, dass wir hier jemand begegnen werden“, sagte sie dann. Er begann, sich das Hemd aufzuknöpfen, zog es aus. Sie wollte nur zu gern denken, immer schon habe sie seine Schultern gemocht; aber immer schon?, sie kannte ihn doch erst seit einem halben Tag. „Die Sonne wird dich verbrennen“, sagte sie. Er lachte. „Geben die Kakteen denn eigentlich wirklich kein Wasser?“, fragte er und ging auf eine der Pflanzen zu, bückte sich, hob einen Stein auf, versuchte ein Stück aus dem Stamm zu brechen, riss sich die Haut an den Dornen auf. „Manchmal geben sie schon“, sagte sie und trat zu ihm, legte ihm ihre Hand auf die Schulter. Er ließ die Berührung geschehen, hielt inne. Seine Haut so heiß bereits, dachte sie und strich ihm über das Schlüsselbein, „mach weiter“, sagte sie.

Und sie wusste, sie mochte das Spiel seiner Muskeln, wenn er auf den Stamm einhieb. Aber alles, was er erntete, war trockenes Pflanzenfleisch; lächelnd, mit zusammengebissenen Zähnen brach er die größeren Stücke entzwei, hielt ihr das üppigere entgegen, gierig saugten sie daran.

Wieso er im Dunkeln wartete, es gäbe doch genügend Licht hier? Er müsse sich doch nicht verstecken, oder gar fürchten, das hätten schließlich schon andere vor ihm durchgestanden. Er zuckt mit den Achseln, steht auf, folgt der einladend ausgestreckten Hand, hebt vorsichtig den Fuß über die hölzerne Türschwelle, will vermeiden: Knarrt, knackt, kracht, kratzt.

Sie sitzen ihm gegenüber, ordnen ihre Papiere, er blickt auf das Fenster hinter der Kommission. Dort an der Scheibe spiegelt sich ihr Gesicht, die Augen, der Horizont, die Kakteen, blaugrün schimmernd. Er atmet ein, als sie ihm die ersten Fragen stellen. Er atmet aus, beginnt er zu antworten. Er spürt sein Herz schlagen. Die Augen, sie lächeln.



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