Die ewigen 120%

Credit: flickr/Eric-Jackson

Wer kennt sie nicht, die Sprüche von Fußballtrainern vor wichtigen Spielen, die da lauten: “Ich erwarte von jedem Spieler, dass er 120 Prozent in diesem Spiel gibt“. Eingesetzt wird er allerdings auch nur in diesem wichtigen Match, wenn er bereits in den Wochen davor im Training ebenfalls wieder satte 120 Prozent gegeben hat. Ich frage mich natürlich schon rein mathematisch, wie man mehr von wo rausnehmen kann als tatsächlich drinnen ist. 100 Prozent sollten also allemal reichen, da die zusätzlich geforderten 20 Prozent nur ein klassischer “Wiener Schmäh” sein können, da sie wie gesagt gar nicht möglich sind. Aber das ist eben Fußballlogik.

Kreative Kicker vs. “Wasserträger”

Aber selbst dort, wo diese theoretischen 100 Prozent permanent abgerufen werden stellt sich die Frage, wie lange das bei einem Spieler möglich ist. Wahrscheinlich muss man zwischen den verschiedenen Typen unterscheiden. Begnadete Techniker, die mit wenigen genialen Spielzügen ein ganzes Spiel entscheiden können und jenen, die deswegen in der Mannschaft sind, damit sie während der 90 Minuten 15 Kilometer vor und zurück rennen, um dem Gegner den Ball abzujagen, damit die eigenen “Kreativen” dann wieder was Geniales damit inszenieren können.

Erstere werden kein Problem haben, mal vom Einsatz und Laufpensum her nur 90% abzuliefern, solange sie ihre Genieblitze nicht im Stich lassen. Letztere,  vielleicht vergleichbar mit den sogenannten “Wasserträgern” im Radsport, müssen ihre Kilometer abspulen und dabei grätschen, beißen und spucken, solange die Knochen halten. Tun sie dies selbst im Trainingsspielchen zweimal oder dreimal nicht, bekommt die nächste Kampfmaschine seine Chance. Diese Spieler sind im wahrsten Sinn des Wortes “austauschbar” und stehen daher unter enormem Druck.

Entlastende Rotation erhöht den Druck sogar noch

Bei renommierten Großklubs verschärft sich die Sache zusätzlich noch durch den größeren Kader und ein bewusst angewandtes Rotationsprinzip, das die Spieler eigentlich körperlich etwas entlasten sollte. Allerdings wird der psychische Druck dadurch sogar noch größer als ohne Rotation, denn durch die Rotation sind die Einsätze geringer und man muß in weniger Spielen natürlich noch mehr Leistung zeigen um “am Ball” zu bleiben. Wer ist also in einem Verein in der Lage, diese Belastungssituation zu überblicken und die Überbelastungen im Rahmen zu halten?

Die beste Übersicht darüber sollten eigentlich die Trainer haben – nur leider sind das genau diejenigen, die Woche für Woche und Training für Training von jedem Spieler mir noch immer nicht erklärbare 120 Prozent fordern. Somit kann dies eigentlich, wie sollte es auch anders sein, jeder Spieler selbst entscheiden, wieviel er zu geben gedenkt – und da sollte man sich manchmal auch einmal bewusst mit 75 oder 80 Prozent begnügen. Vielleicht hilft dieses Loslassen sogar etwas, wieder die geistige Lockerheit zu finden, um vielleicht Platz für den einen oder anderen Genieblitz zu schaffen.

Auch im Alltag gilt das selbe Prinzip

In unserer Welt der “Normalmenschen” ist der Job am Schreibtisch nicht viel anders in dieser Sichtweise. Nicht jedes Meeting oder jede Präsentation muss zu “120 Prozent” perfekt vorbereitet sein. Die besten Meetings sind oft diejenigen, in denen man vollkommen unvorbereitet war, aber spontan und intuitiv auf eine Situation reagiert und dabei vielleicht die geniale Lösung gefunden hat. Man hat sich dadurch eine Nacht an Vorbereitung erspart, viel gesunden Schlaf gewonnen und trotzdem Geniales erreicht.

Also liebe Fußballtrainer, ihr Dompteure unserer modernen Gladiatoren, lasst einmal den fragwürdigen Spruch von den ”120 Prozent” Leistung in den Interviews weg und betrachtet euer “Spielermaterial” von der menschlichen Seite, denn niemand (auch kein Fußballspieler) kann in irgendeinem Job der Welt permant 100 % geben und schon gar nicht die viel zitierten “120 Prozent”. Vielleicht wird Fußball dann auch wieder interessanter, kreativer und weniger verbissen ausgeübt, wie heute in zunehmendem Maße üblich. Immerhin wird der Sport als Fußball-Spiel und nicht als Fußball-Kampf bezeichnet, obwohl bei vielen Partien der zweite Begriff viel zutreffender wäre.


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