Die eine, die besonders unbeliebte Säule des Islam

Von Medina aus nahm der Islam im Schnelldurchlauf unglaubliche Weiten in Besitz. Nur hundert Jahre nach Mohammads Tod standen der Maghrib und der Maschriq, das ehemalige Persische Reich (bis hin an die Grenzen Indiens) und die Iberische Halbinsel unter islamischer Obhut. In für die damalige Zeit ungeahnter Geschwindigkeit verbreitete sich der Islam über die Welt: hier ist bereits der Ursprung des später immer wiederkehrenden Furors vor islamischer Expansion zu erahnen. Ein historischer Lehrsatz ist, dass der Islam diese Ausweitung mit dem Schwert betrieben hat. Nun wuchern Weltreiche, zudem jene, die auf agrarischen Grundfesten türmen, nicht mittels guter Worte und fintenreicher Überredungskunst; aber nur durch Gewalt alleine können sie gleichwohl nicht gedeihen. Der Islam bot mehr als kühne Besatzerpolitik, er wurde den Menschen jener Regionen nicht nur durch brandige Wunden gebracht; er muß auch Attraktivität besessen haben, die eine solche eilige Expansion förderte.

Die eine Säule des Islam

Theologische Mutmaßungen galten im frühen Islam als zann, als blasierte Extravaganz. Aufgabe des Muslims war es nicht, sich in Spekulationen zu ergehen - die Arabesken in Moscheen sind die Folge davon, sich kein Bild von Allah zu machen -, seine Pflicht war die Errichtung der umma, der Gemeinschaft, die auf Nächstenliebe und Umverteilung der Güter gegründet sein soll. Jeder Muslim hatte von seinem Einkommen den zakat abzuführen, eine verpflichtende Abgabe an Bedürftige. Das was wir heute als soziale Gerechtigkeit bezeichnen würden, war bereits zu Mohammads Zeiten die eine, vielleicht die wesentlichste Säule des Islam - und damit die attraktive Seite jener neuen Religion.

Der Islam sah die Schau des einen Gottes stets in der Historie; im Diesseits offenbare sich Allah, wenn die Menschen in Harmonie miteinander lebten. Das Wort islam, so berichtet die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong, sei von seiner Wurzel mit salam, dem Frieden verwandt. Er stellte damals einen Affront gegen das herrschende Clansystem der Araber dar, in dem Gewalt und Ausbeutung anderer Menschen zum alltäglichen Ton gehörte. Der Islam sollte damit brechen und musste daher soziale Attribute in sich einen.

Elementar für das Wesen des Islam war der Gedanke, auch Frauen zu emanzipieren. Der Koran regelte, noch bevor das mittelalterliche Europa davon auch nur zu träumen wagte, das Erb- und Scheidungsrecht für Frauen. Bräuche, wie die Frauen zu verschleiern oder sie im Hause wegzusperren, lassen sich nicht auf den Koran zurückführen. Der noch junge Islam orientierte sich in seinen ersten Jahrzehnten besonders an Byzanz, am ostchristlichen Konstantinopel, in dem die Vermummung und der Wegschluss der Frau Usus war; daher rührt wohl auch die Frauenfeindschaft der römischen Kirche. Der ursprüngliche Islam kannte diese Frauenfeindlichkeit nicht; sie ist eines der christlichen Erbe, die die muslimische Welt fast schon synkretistisch in sich aufnahm.

Moslem ist...

Eine rundum totalitäre Gesinnung hätte niemals ein Terrain von diesem Ausmaß unter seine Ägide gebracht. Der Islam galt schnell als attraktiv, weil er auch Nicht-Muslimen ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit und damit sozialen Frieden zusicherte; weil er zudem niemanden seine Ideologie aufzwang. Christen und Juden, ebenso wie Zoroastrier, Sabier und später Hindus, konnten somit unter Schutz der moslemischen Herrn ihrem Glauben treu bleiben. Übertritte zum Islam waren nicht erforderlich - als der Islam machtpolitisch missbraucht wurde, galt dies freilich auch für nicht notwendig, weil sich die Kalifen der Geldquelle der Schutzsteuer nicht entledigen wollten. Dass der Islam überhaupt je machtpolitisch institutionalisiert wurde, galt vielen Muslimen als eindeutiger Beweis, um die Kalifen als unislamisch zu entlarven.

Für jene frühen Moslems war nicht die Konfession ausschlaggebend, sondern ein Leben nach Gebot der fünf Säulen. Wie das Judentum auch, war der Islam stets eine Religion, die von ihren Anhängern eine bestimmte Lebensweise verlangte - beharrliche Versicherung oder das Psalmodieren bestimmter Glaubenssätze war zweitrangig. Der Islam ist mehr Orthopraxie als Orthodoxie. Wer sich an die arkān, an die (fünf) Säulen des Islam hielt, der war wirklicher Muslim - egal, was genau er auch glaubte. Spitzfindigkeiten zu theologischen Fragen galten verächtlich, wie schon erwähnt, als zann. Ein wahrer Muslim ergab sich dem zann nicht, war Praktiker, nicht Theoretiker. Er lebte nach den fünf Säulen: er sprach die schahada, das komprimierte Glaubenskenntnis ("Es gibt keinen Gott außer dem einen Gott, und Mohammad ist sein Prophet."), betete fünfmal täglich (salat), fastete im Ramadan (saum), pilgerte einmal im Leben nach Mekka (haddsch) und leistete den zakat, die Almosensteuer.

Es ist bezeichnend, dass die Rebellionen gegen die umaijadischen Kalifen von dem Leitgedanken getragen wurden, diese hohen Herren würden den Islam daher verraten und verfremdet haben, weil sie in Luxus schwelgen, während sie der sozialen Gerechtigkeit keine Bedeutung beimaßen. Wer aber die Fürsorge verrät, wer in weichen Kissenbergen hockte, während es in der umma Leid und Elend gibt, der hat Mohammads Weg und den Islam verraten.

Die eine Säule und islamische Beißreflexe

Im Laufe vieler Jahrhunderte hat sich der Islam verändert. Er wurde ritualisiert und verlor seine relative Unverbindlichkeit - das ist der Weg aller Religion. Der aus der westlichen Welt stammende Nationalismus, unter den nun die umma gesplittert wurde, reicherte die oft starre Religionsauslegung um ein weiteres einzuhaltendes Bekenntnis an - Muslime waren jetzt Ägypter, Iraker oder Afghanen; hatten nun plötzlich eine zweite geistige Heimat. Es entwickelten sich Beißreflexe wie beispielsweise der Wahhabismus, der eine fundamentale Auslegung des Koran, den er sola sciptura las, gegen die osmanische Fremdherrschaft ins Felde führte - oder später, und somit für uns aktuell, die Taliban, die einer fundamentalistischen Islamdefinition frönen und den Koran so deuten, wie es ihnen genehm erscheint. Es wird schwierig sein, dort Anzeichen für soziale Gerechtigkeit zu finden; im blinden Eifer verrät manche Religion, manche Ideologie ihre einst heiligsten Werte.

Natürlich ist die gesamte heutige islamische Gesellschaft, die fernab radikaler Auslegungen lebt, nicht als Hort sozialer Gerechtigkeit, als Eiapopeia vom Himmel zu betrachten - zu viel liegt im Argen, zu viel ist wenig vorbildlich. Es gab keine philosophische Aufklärung im westlichen, d.h. im bürgerlichen Sinne des Wortes - daher keine Säkularisierung; daher aber auch der Mangel an Individualismus. Der heutige Muslim mag nicht die Fleischwerdung der sozialen Gerechtigkeit sein; aber dass er nur ein Bestandteil einer ganzen Gesellschaft ist, dass er Verantwortung hat für seine Nächsten und sich Egoismen tunlichst verkneifen sollte, das ist ihm immanent. Dass sich manche islamische Gesellschaft gegen die "westlichen Segnungen" wehrt, hängt viel mit dem Sachverhalt zusammen, dass man eine ausufernde Individualisierung befürchtet, die nicht nur den Islam untergräbt, sondern auch den inneren Zusammenhalt der islamischen Gesellschaft - das was fragmentarisch davon noch übrig ist.

Nicht assimilierbar

Hier lebende Moslems seien nicht assimilierbar, weiß die Öffentlichkeit in schöner Regelmäßigkeit; dass man jedoch anstrebt, die gesamte umma möge sich doch bitte assimilieren, nämlich in den Kadaver des Welthandels einfügen, darüber schweigt man sich mondän aus. Der Hort der Freiheit und Demokratie drangsaliert freie Völker nicht - nicht offiziell jedenfalls. Das dar al-islam ist tatsächlich nur beschwerlich ins freihändlerische Kollektiv assimilierbar, weil es ihm an bürgerlicher Revolution mangelte, weil die daher rührende Individualisierung fehlt, weil der letzte Mut abgeht, sämtliches solidarisches Denken aufzugeben - und weil daher ein immer noch eingepflanzter Hang zu sozialem Ausgleich und gegenseitiger Hilfe, zu Kooperation und Zusammenhalt in der muslimischen Welt vorzufinden ist; ein für die westliche Welt veralteter und hemmender Impuls, der auf eigenem Terrain immer dann für Furore sorgt, wenn beispielsweise in Europa wieder einmal über moslemische Parallelgesellschaften hergezogen wird. Dass es nicht die Freude an Parallelisierung ist, die viele Muslime in Moscheen mit anliegendem Kulturzentrum treibt, kann man erst verstehen, wenn man weiß, dass das soziale Miteinander ein Anliegen des Islams war und sicher noch immer, wenn auch weniger ausgeprägt als in anderen Epochen, ist.

Der Bremsklotz ist, dass sich die islamische Hemisphäre relativ schwer freiwirtschaftlich erfassen läßt. Diese eine Säule des Islam, sie ist auch für liberale Muslime nicht einfach abzustreifen; sie ist Element des Glaubens und folglich ein elementarer Wesenszug für Menschen, die islamisch durch ihr Leben gehen wollen. Ein Element, das nicht sprituell ist, sondern im Diesseits angeordnet - der Islam war stets diesseitiger als das Christentum; der jenseitige Köder, den man für Selbstmordattentäter auslegt, entspricht dem islamischen Verständnis eigentlich überhaupt nicht. Diesseitigkeit ist jedoch der Graus multinationaler Konzerne und ihrer Staaten; mit spirituellen und unwirklichen Glaubensinhalten können sie leben, mit diesseitigen Ansprüchen allerdings nicht.

Die eine Säule des Westens

Der moderne Islam, der auch in liberaleren Kreisen oft skeptisch nach Westen blickt, hat nichts gegen das Christentum; als Offenbarungsreligion hat der Muslim es umfänglich zu respektieren und zu schützen. Was irritiert ist das Ablegen prinzipieller und grundsätzlicher Ideale, das die westliche Welt in unheiliger Perfektion betreibt. Sicher nimmt man einen modernen Westen wahr; einen, der materiellen Fortschritt bewirkt hat, Krankheiten effektiver heilt und (noch) ein Sozialwesen besitzt. Man erkennt aber auch die oft seelenlose Haltung der Westler, man weiß, dass viele Menschen in der westlichen Welt unzufrieden sind, vereinsamen, nur über Karriere zu Ansehen gelangen - Mensch zu sein reicht dem Westen oft nicht aus: der Mensch muß es wert sein respektiert zu werden, der Mensch muß Wert haben. Es geht dem Westen Demut vor dem Leben ab; er tötet beispielsweise am Fließband Tiere, ohne einen Funken Ehrerbietung vor deren ausgehauchter Existenz - es fehlt Respekt und Ehrfurcht vor den Nächsten, auch wenn die demokratischen Grundordnungen der westlichen Nationen viel darüber in dicken Schwarten gedruckt haben. Es fehlt soziales Miteinander, soziale Gerechtigkeit, sozialer Kontakt. Der Islam sieht dies und ängstigt sich; man fürchtet die Preisgabe ureigener Ideale; fundamentalistische Auswüchse sind leider der radikale Versuch, diese Ängste zu tilgen.

Der Kampf der Kulturen, der sich einerseits in Kriegseinsätzen äußert, andererseits in innenpolitischen Anti-Islam-Stimmungen, ist als eine Art Reflex des Materiellen, mit dem Basis-Überbau-Schema zu erfassen. Man stülpt der Abneigung und Skepsis des Islam eine religiöse und damit rückständige Maske über, erklärt die Selbstbestimmtheit der islamischen Welt, eigene Werte erhalten zu wollen, zu einem Frevel am Fortschritt - so bekommt der Diskurs einen Anstrich, der polarisiert und aufwiegelt, der den Muslim an sich diabolisiert.

Es wäre vermessen, in der fehlenden Unterwürfigkeit des dar al-islam das einzige Motiv für westliche Interventionen und Hass zu wittern - ganz von der Hand weisen läßt sich diese These jedoch nicht. Man kritisiert die saudischen Wahhabiten beispielsweise kaum, obwohl sie Eiferer sind wie die Taliban: aber die Wahhabiten machen mit dem Westen Geschäfte - das macht sie umgänglich; für Muslime sind die saudischen Herren allerdings vom Islam weit entfernt. Um rückständige Religion, die der Islam generell sein soll, geht es nicht; es geht um rückständige Verhaltensmuster, um Zusammengehörigkeit, sozialeres Verhalten als in den Industrienationen, um Bereitschaft zum zakat. Das schwindende Primat des Westens, die fehlende Bereitwilligkeit des Ostens, westliche Werte und Errungenschaften kritiklos anzunehmen - wie es noch vor einem halben Jahrhundert teilweise der Fall war! - ist freilich nur eine Säule der westlichen Aversion gegenüber dem Islam. Es ist die Säule, die die eine störende Säule des Islam beseitigen wollte, wenn sie nur könnte.


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