Die digitale Schleimspur von Facebook – ein Aussteiger berichtet

Die digitale Schleimspur von Facebook – ein Aussteiger berichtet

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Ein weiteres Mal wurde uns ein Text eines anonymen Autor zugesendet. Diesmal handelt es sich jedoch nicht um Fiktion, sondern um „die Realität“. Genauer gesagt, die subjektiv erlebte Realität einer, vom entropischen Wahnsinn des digitalen Selbstdarstellungs-Zwangs zugerichteten Person. Es folgt: ein persönlicher Text über die Flucht aus einem virtuellen Staat, dessen Bürger mehr sind als nur gläsern. (Phire)

 

„Du hast WAS getan?!?“ Irgendwo auf halbem Weg in den Magen blieb mir der letzte Bissen meines Frühstückbrotes im Halse stecken und rührte sich nicht vom Fleck. „Ich hab Anna das Passwort zu meinem Facebook-Profil gegeben. Sie wollte Werbung für ihre Ausstellung machen und weil ich doch so viele Leute in meiner Freundesliste hab, dachte ich, es wäre einfacher wenn sie das von meinem Profil aus postet.“ Das halbe Käsebrot wechselte langsam die Richtung und machte sich auf den Rückweg in meinen Mund. „Und da konntest du die Veranstaltung nicht einfach teilen, du musstest ihr gleich dein Passwort geben?! Hast du es inzwischen wenigstens geändert?“ Meine  Herzallerliebste schaute mich mit großen Augen an. „Nein, wieso sollte ich?!“ Das Frühstück fiel mir aus dem Gesicht und schaute mich hämisch grinsend an. Ja, warum sollte sie eigentlich ihr Passwort ändern, nachdem sie es einer Freundin und weißderTeufelwemsonstnoch gegeben hatte? Schließlich war es ihr Profil und sie konnte damit machen was sie wollte. Das nun jeder die liebestollen Emails lesen konnte, die ich ihr über Monate hinweg geschrieben hatte, war offensichtlich mein Problem. Ich kam ins Grübeln.

War ich womöglich übertrieben vorsichtig, was persönliche Daten angeht? Grenzte mein Verhalten  an Paranoia? Zugegeben, ich war und bin einer von diesen Typen, der praktisch nie mit Karte zahlt, damit sein Konsumverhalten nicht einsehbar ist, der selten in Foren Einträge kommentiert und schon immer wie ein Schießhund darauf geachtet hat, dass im Internet keine Bilder von Saufgelagen auftauchen (was irgendwann natürlich doch geschehen war). Alles in allem also eine völlig durchschnittlich-vorsichtige digitale Existenz, wie sie tausende Menschen in Deutschland und Millionen auf der ganzen Welt führen. Dass meine Freundin ihr Passwort freimütig an Dritte weitergab, wurmte mich im Grunde nicht besonders, aber der Vorfall machte eines doch klar – bei Facebook gibt es keine halben Sachen. Entweder du bist drin, was, wie schon der Boris wusste, ganz einfach geht, oder du bist draußen und dann auch komplett. Facebook, das sich qua Mitgliedszahlen inzwischen als drittgrößter Staat der Erde geriert, Botschafter in einige Länder entsendet und auch sonst aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken ist, kommt dabei eine ganz besondere Position zu.

Alle sind bei Facebook. Buchstäblich. In meinem Freundeskreis kenne ich niemanden, der nicht zumindest ein Profil hat, unabhängig davon wie aktiv dieses Profil genutzt wird. Häufiger als „gib mir mal deine Handynummer“ schreien sich die Leute auf Partys inzwischen „find’ mich bei Facebook“ ins Ohr. Wer ein Konzert gibt, zu einer Demo aufruft oder ne Party schmeißen will, postet das zuerst bei Facebook, meistens mit zufriedenstellendem Erfolg. Eine gewisse Tessa aus Hamburg kann das bezeugen.

Ich begann mich zu fragen, ob ein Ausstieg bei Facebook überhaupt möglich wäre. Ob ich mich ins soziale Aus, in den gesellschaftlichen Orkus, ins zwischenmenschliche Nirvana befördern würde, wagte ich es auf diesen infamosen Button zu klicken – Account löschen. Die ganze Geschichte verkam zu einer Grundsatzfrage bezüglich Internet, Datensicherheit, der Grenze zwischen privatem und öffentlichem Leben (die für einen freien Journalisten entsetzlich schwer zu ziehen ist), Zeitmanagement und so weiter. Was macht man also als mündiger digitaler Bürger, wenn man ein Problem mit dem Internet hat? Man fragt das Internet nach einer Lösung! So zog ich los und befragte eine Woche lang das Internet, mein Gewissen, einen guten Freund der sich beruflich mit sozialen Medien beschäftigt und ein halbes Dutzend Saufkumpane, ob es wohl möglich wäre, ohne Facebook zu leben, ob ich diese digitale Nabelschnur einfach durchtrennen könnte und mit welchen Phantomschmerzen womöglich zu rechnen sei. Am Schluss war die Antwort einstimmig: „Interessiert doch keine Sau, Aldaa“.

Die digitale Schleimspur von Facebook – ein Aussteiger berichtet

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Der erste Schritt in Richtung Rückeroberung der digitalen Deutungshoheit über mich selbst war getan. Nun kam der praktische Teil.

Meine Freundesliste umfasste zu der Zeit ca. 250 Personen, was eher unterdurchschnittlich ist, aber doch für ausreichend Arbeit sorgen sollte. Bei genauerem Hinsehen kannte ich ein gutes Drittel der Leute kaum. Das waren Freunde von Freunden, die ich aus Höflichkeit akzeptiert hatte. Leute, mit denen ich vielleicht ein Semester lang im Seminar die hinterste Bank gedrückt hatte und solche, mit denen ich im Kindergarten gewesen war und aus guten Grund seitdem nichts von ihnen gehört hatte. Ein weiteres Drittel waren echte Freunde, also Menschen, die mir wirklich etwas bedeuteten, deren Posts ich regelmäßig las und kommentierte, deren Aktivitäten ich verfolgte und mit denen ich in regem Austausch stand. Bei genauerem Hinsehen stellte ich fest, dass ich von diesen Leuten bereits Emailadressen, Handynummern, Anschriften oder sonstige Kontaktdaten hatte und Facebook nicht brauchte, um mit ihnen im Kontakt zu bleiben. Schwierig war das letzte Drittel. Darunter fielen vor allem Leute aus dem Ausland, also solche, mit denen ich das ERASMUS-Semester verbracht, oder die ich auf Reisen getroffen hatte. Wie mit ihnen in Kontakt bleiben, wie nicht komplett die Verbindung verlieren? An dieser Stelle machte sich der Nutzen von Facebook am markantesten bemerkbar – bequemer geht es nicht.

Ich begann also eine Woche lang Mails in drei Sprachen zu verschicken, Aufrufe in meinem Profil zu posten und eine Datenbank anzulegen, in die ich alle aufnahm, von denen ich mehr als den Vornamen kannte. Nach und nach trudelten so Telefonnummern und Postanschriften bei mir ein. Oft war es das erste Mal seit Jahren, dass ich überhaupt von diesen Freunden hörte und mehr und mehr wurde mir bewusst, dass der Kontakt via Facebook eigentlich gar nicht bestand, sondern vorgespielt war. Facebook vermittelte mir nur die Idee mit all diesen Menschen im Kontakt zu sein, obwohl wir uns seit Ewigkeiten nicht gesprochen hatten.

Die digitale Schleimspur von Facebook – ein Aussteiger berichtet

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Tatsächlich erstaunt war ich über die Sturmflut von Unterstützern. In praktisch jeder Mail, mit der mir jemand seine Kontaktdaten schickte, wurde ich zu meinem Entschluss beglückwünscht, mein Profil zu löschen, frei nach dem Motto: „Echt mutig“, „Ganz was Neues“, „Gegen den Strom“ und „Respekt!“. Hatten die alle den Verstand verloren? Fünf Klicks und jeder von ihnen hätte sein Recht auf digitale Selbstbestimmung wieder in Händen gehalten, aber dieser Schritt schient den Meisten dann doch zu groß. Sinnigerweise kommentierte dann auch ein Kumpel den Ausstiegs-Post entsprechend: „Ein Heuchler wer hier „like“ drückt.“

An einem Dienstagabend kurz vor Mitternacht ging ich ein letztes Mal meine Freundesliste durch, kommentierte noch schnell ein paar schwachsinnige Fotos und gab dann sang- und klanglos meine Staatsbürgerschaft in dieser drittgrößten Gemeinschaft der Erde zurück. Tatsächlich sollte es noch mindestens zwei Wochen dauern, bevor Facebook überhaupt mit dem Löschen meiner Daten beginnen würde und weitere drei Monate, bevor der Großteil der digitalen Schleimspur, die ich auf Mark Zuckerbergs Spielwiese hinterlassen hatte, weggewischt sein würde. Und doch, kaum war der Verlauf meines Browsers gesäubert und das Infodokument zu Facebook, welches ich im Rahmen der Entscheidungsfindung erstellt hatte, im den Papierkorb verschoben, da fühlte ich mich sofort freier, selbstbestimmter und irgendwie subversiv. Erinnerungen kamen auf an die Zeit, als ich im Alter von 14 Jahren eine S-Bahn mit linken Parolen besprüht und mich als Staatsfeind Nummer Eins gesehen hatte. Ein erhebendes Gefühl.

Inzwischen sind zwei Wochen vergangen und ich hab nicht eine Party verpasst, dafür aber ein paar Beziehungskrisen, die mich ohnehin nicht interessieren, zumal Menschen, die ihre Beziehung bei Facebook ausleben meiner Meinung nach eh bescheuert sind. Mit Sicherheit habe ich haufenweise Zeit gespart. Skype ist bei mir nun nonstop offen und auch sonst scheint alles beim Alten zu sein. Ob sie im Silicon Valley bemerkt haben, das einer fehlt, weiß ich nicht und es ist mir auch scheißegal, denn ich kann mich nun wieder auf jeder Party volllaufen lassen wie es mir passt und mein Gesicht in jeden Ausschnitt versenken, ohne das meine Freundin am nächsten Morgen das Foto bei Facebook sieht und zu ihrem Entsetzen feststellen muß: „187 Personen gefällt das“.

Text: anonym

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