DIE BRÜCKE

DIE BRÜCKE

Eine Brücke! Ich hatte noch nie eine Brücke gesehen, die den Fluss überspannte. Verwundert blieb ich stehen. Sie war aus feinem hellblauen Glas und verschwand in der Flussmitte im Morgennebel, der in dichten Schwaden flussabwärts trieb.

„Komm, wir gehen auf die andere Seite“, forderte ich meinen gesichtslosen Begleiter auf.

„Nicht so stürmisch. Du weißt ja gar nicht, ob sie wirklich auf die andere Seite führt.“

„Wo könnte sie denn sonst hinführen?“ Ich schüttelte den Kopf. Normalerweise war der Gesichtslose nicht so zurückhaltend.

„Auf eine Insel, zum Beispiel. Oder nach Nirgendwo oder Anderswo, oder in einen anderen Traum. Oder gar ins Nichts.“

„Dann probieren wir es doch einfach aus! Was ist schon dabei. Im schlimmsten Fall wache ich einfach auf.“

„Aha.“

„Ja, ich wache einfach aus meinem Traum auf und finde mich in der Wirklichkeit wieder. Gleich was uns am anderen Ende der Brücke erwartet.“

„Aha.“

Was zum Teufel war in den Gesichtslosen gefahren? So hatte ich ihn noch nie erlebt. Hatte er etwas Schlechtes gegessen? Aber ich wusste nicht einmal, ob Gesichtslose auch essen.

„Was ist los? Wieso bist du plötzlich so einsilbig? Ist dieses Brücke etwa verwunschen?“

„Es kommt ganz darauf an, was du daraus machst.“

Genauso kannte ich ihn! Nie eine klare Antwort, nur nebulöses Zeug, wenn es darauf ankam. Verärgert ließ ich ihn stehen und schritt zum Aufgang der Brücke. Sie war wunderschön, das Wasser spiegelte sich in ihrem filigranen Glas und ließ die Brücke fürs Auge mitfließen. Oben auf der Brücke angelangt schaute ich zurück ans Ufer. Der Gesichtslose stand immer noch am gleichen Ort. Was war bloß in ihn gefahren?

Als ich die ersten Nebelschwaden erreichte, zögerte ich. Was würde mich erwarten? Konnte mir wirklich nichts geschehen? Der Nebel war so dicht, dass ich vermeinte, ihn greifen zu können.

Ach was soll’s, dachte ich. Dies war eine einmalige Chance. Ein Aufbruch zu neuen Horizonten. Bevor ich weiterging schaute ich nochmals zum Gesichtslosen zurück. Obschon er kein Gesicht hatte, wirkte er irgendwie traurig.

Als hätte mir jemand einen Kübel kalten Wassers über den Kopf geleert, überkam mich die Erkenntnis. Wie hatte ich das nur übersehen können? Hatten mich die Brücke und ihr stilles Versprechen dermaßen in ihren Bann gezogen?

Wenn ich diese Brücke alleine überschritt, würde ich ihn für immer verlieren, wurde mir bewusst. Wie hatte ich nur so egoistisch handeln können. Mit raschen Schritten kehrte ich ans Ufer zurück.

Es gibt im Leben Brücken, die sollte man nie alleine überschreiten. Euer Traumperlentaucher

Bild von JoJo



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