Die Ästhetik des Attentats

Ganz wie im Film: Der Fluchtwagen steht bereit

Ganz wie im Film: Der Fluchtwagen steht bereit

Am 7. Januar 2015 fanden auf der Welt zwei islamistische Attentate statt. In Paris stürmten zwei maskierte Männer die Redaktion der Zeitschrift Charlie Hebdo und töteten elf Menschen. In Nigeria zerstörte die Terrorgruppe Boko Haram die Stadt Baga bis auf die Grundmauern und tötete dabei bis zu zweitausend Menschen.

Der Anschlag von Paris beherrscht die Medien bis heute. Der Anschlag von Baga wurde kaum in Randnotizen erwähnt.

Woran liegt das? Klar: Paris liegt vor unserer Haustür, Baga liegt weit weg. Klar: In Paris wurden Journalisten getötet – naheliegend, dass Journalisten das näher geht. Klar: Die Schlagzeilen aus Nigeria kamen Stunden später als die aus Paris – sie hatten es schwer, sich durchzusetzen.

Dennoch glaube ich, dass es zusätzlich zu all diesen Erklärungen einen weiteren Grund für die asymmetrische Berichterstattung gab: Die Ästhetik des Attentats.

Das Attentat von Paris war anders gestrickt als die Anschläge, die einst Osama bin Laden plante. Bin Laden, der zweifellos die Ästhetik seiner Attentate gezielt auf maximalen Horror optimierte, setzte auf archaische, symbolkräftige, simultane Bilder. Schon 1998 sprengte Al-Kaida zeitgleich die US-Botschaften von Nairobi und Daressalam in die Luft. Der 11. September 2001 brachte die Bilder der vier gleichzeitig entführten Flugzeuge und der kurz nacheinander einstürzenden Türme des World Trade Centers. Für den zehnten Jahrestag 2011 hatte Bin Laden geplant, amerikanische Züge bei der Fahrt über Eisenbahnbrücken zeitgleich entgleisen und in die Tiefe stürzen zu lassen – die Pläne wurden gefunden, nachdem der Terrorchef im Mai 2011 erschossen wurde.

Bin Ladens Anschläge atmeten die Ästhetik des zusammenstürzenden Turms von Babel, des Gottesgerichts, das den Westlern für ihre Überhebung zuteil wird. Die Ästhetik des aktuellen Anschlags von Paris ist eine ganz andere – und doch nicht weniger wirkmächtig. Es ist die Ästhetik des Killerkommandos. Sie entspringt nicht dem Mythos, sondern dem Film. Sie ist moderner als Bin Ladens Ästhetik, rekurriert aber nicht weniger auf gesamtgesellschaftliche Archetypen.

Was wir in Paris erlebt haben, war kein Anschlag, sondern eine Hinrichtung – präzise, schnell, emotionslos. Ist es falsch zu sagen, dass es – neben all den oben angeführten Gründen – vor allem auch das gewesen sein könnte, was die Menschen in der ganzen westlichen Welt so erschüttert hat? Dass wir uns unversehns als Statisten in einem Gangsterfilm wiederfanden, in dem wir niemals mitspielen wollten? Dass sich da Leute zum Herrn über unser Leben und Sterben aufschwangen, denen wir das niemals gestattet hatten?

Wenn die Terroristen einfach eine Nagelbombe in die Redaktion geworfen hätten, in der Hoffnung, möglichst viele Redakteure zu töten, wären wir vielleicht nicht so entsetzt gewesen. Es hätte sich dann einfach um Schurken gehandelt, die schamlos Menschen umbrachten. So aber waren es Menschen, die die Rolle von Schurken spielten und dadurch ihren Taten eine – sozusagen vom obersten Regisseur verliehene – Legitimation gaben. Diese Verkehrung der Wirklichkeit – der Gesetzesbrecher wird zum legitimen Vollstrecker des Drehbuchs – war das eigentlich schockierende. Und aufgrund dieser Inszenierung fand das Attentat von Paris so viel mehr Beachtung fand als das phantasielose, banale Gemetzel in Nigeria.

Die Macht, die Ästhetik hat, ist manchmal erschreckend. Und sie ist eine Mahnung an uns Künstler, sie mit Bedacht und (so pathetisch es klingen mag) nur zum Guten einzusetzen.


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