Die Annegret-Frage

Eine der berühmtesten Stellen aus Goethes Epos "Faust" ist die so genannte Gretchenfrage: "Sag, wie hältst du's mit der Religion?" fragt das unschuldige Mädchen Gretchen den wollüstigen Wissenschaftler. Er antwortet ausweichend, aber eloquent, und sie nimmt es hin. Vorhang, Applaus, Verderben für Gretchen. Die Frage hat deswegen solche Berühmtheit erlangt, weil sie den Kern einer Beziehung und Identität betrifft. Solche Fragen werden auch in der Politik gestellt, oft von sich wandelnden Umständen. Die Gretchenfrage der SPD war stets eine doppelte, und sie hat nie eine Antwort darauf gefunden: "Sag, wie hältst du es mit Hartz-IV und der Linkspartei?" Vor allem an letzterem zerbrach die SPD in Zeitlupe zwischen den Wahlen 2005 und 2017. Inzwischen sieht sich die CDU ihrer eigenen Version gegenübergestellt. In Anlehnung an die (noch) amtierende Parteivorsitzende möchte ich es die Annegret-Frage nennen: "Sag, wie hältst du es mit den Flüchtlingen und der AfD?"
Wie bei der SPD auch findet der Kern der politischen Auseinandersetzung um die Machtfrage statt, die Quelle allen Politischen. Und Macht in Deutschland bedeutet immer das Schmieden von Koalitionen (sieht man von der einzigen Ausnahme 1957 ab). In Deutschland gab es auf Bundesebene mehrere verschiedene Koalitionssysteme, die sich abgewechselt haben:
  • Die rechts bis bürgerlichen Koalitionen der Frühphase der BRD, in denen die CDU mit allen rechtsdemokratischen und bürgerlichen Parteien vom BHE bis zur FDP koalierte und bis auf die FDP alle Bündnispartner auffraß versus die SPD ohne Bündnispartner und KPD (1949-1957)
  • Die klassisch schwarz-gelbe Koalition (1961-1966 und 1982-2013) versus die SPD ohne Bündnispartner (1957-1966), die sozialliberale Koalition (1969-1982) und Rot-Grün (1987/1990-2005)
  • Die Großen Koalitionen (1966-1969, 2005-2009 und 2013-heute)
Diese Koalitionssysteme wurden immer durch die äußeren Umstände erzwungen. Ohne Koalitionspartner hat eine Partei Probleme. Die SPD etwa hatte keine realistische Machtperspektive, bevor die FDP mit ihr eine Koalition einzugehen bereit war. Genauso hatte die CDU ein Problem, als ihre Stimmenanteile 1969, 1972, 1976 und 1980 zwar jeweils die größten waren, ihnen aber ein Partner fehlte. Dementsprechend wichtig war es den Strategen der Partei immer, eine Machtperspektive zu besitzen - und auf die jeweiligen Umstände zu reagieren, auch wenn diese ungewöhnliche Maßnahmen erzwangen, etwa die Große Koalition oder Jaimaika. Wie die CDU (erfolglos) 1969 plakatierte: "Auf den Kanzler kommt es an."
Die frühe CDU der bundesrepublikanischen Ära hatte wenig Probleme damit, mit Parteien des rechten Rands zu kalkulieren, etwa der Deutschen Partei oder dem BHE. Diese Ära wird sehr gerne totgeschwiegen und vergessen gemacht, um Schwarz-Gelb als Standardformation zu promoten, aber das Bündnis ist genauso wenig eine Konstante der BRD wie Rot-Grün. Franz-Josef Straußs späteres Bonmot "Rechts von uns ist nur die Wand" kann die CDU erst seit der Konsolidierung dieser Wand 1961 sagen, als die letzten konkurrierenden rechten Parteien aus dem Bundestag verdrängt waren - genauso wie die SPD erst alleinig die Linke vertrat, seit die KPD keine Systemkonkurrenz mehr darstellte.
Bereits 1969 aber sah sich die CDU der Annegret-Frage zum nächsten Mal gegenüber. In den Jahren der Großen Koalition prosperierten nicht nur APO, SDS und RAF (mal verkürzt zusammengefasst), sondern auch der rechtsextreme Rand. Die NPD erzielte damals in vielen Ländern Wahlerfolge und schaffte laut den Umfragen den Einzug in den Bundestag. Tatsächlich scheiterte sie dann, vor allem dank der starken Polarisierung des Wahlkampfs auf die beiden Volksparteien, knapp an der 5%-Hürde. Aber innerhalb der CDU wurde damals hitzig darüber diskutiert, ob man mit der NPD koalieren solle oder gar müsse, wenn diese den Einzug schaffte. Schließlich teilte man gerade auf dem damals hitzig umkämpften Feld der Außenpolitik mehr Positionen mit der NPD als mit dem Koalitionspartner SPD.
Der Offenbarungseid blieb der CDU erspart. Die NPD versank zurück in der Bedeutungslosigkeit, und die nächste Regierungsperiode war die erfolgreiche Neuauflage des bürgerlichen Bündnisses von 1961-1966. Ab 1982 begab sich die BRD in die "neue Normalität" der Zwei-Parteien-Bündnisse, die bis 2005 anhielt (und 2009-2013 noch einmal einen Indianer-Sommer erlebte). Seither ist das System volatiler geworden.
Diese Volatilität betraf erst einmal die SPD. Bei ihr was es die Oskar-Frage: Sag, wie hältst du's mit der LINKEn? Und die Partei zerriss sich über die Fragestellung selbst. Zwischen 2005 und 2008 galt die Maxime, die Partei keinesfalls als Koalitionspartner zu akzeptieren. Es war der Versuch, sie wieder unter die 5%-Hürde zu drücken - ein Versuch, der gleichfalls in den 1980er gescheitert war, als die Partei versuchte, die aufkommende Konkurrenz der Grünen auszugrenzen und zu ignorieren.
In beiden Fällen musste die SPD sich die Gretchenfrage stellen, wie sie es mit der jeweiligen Konkurrenz hielt. War sie inakzeptabel? Oder war sie eine Machtoption? Die Grünen von 1983 waren es sicher nicht. Die Grünen 1987 ein Grenzfall. 1990 waren sie es; 1994 zog die SPD dezidiert in den rot-grünen Wahlkampf. Bezüglich der LINKEn tat sie sich bedeutend schwerer. Auf Bundesebene schloss die Partei bis 2017 ein Bündnis kategorisch aus; seither ist die Frage wegen der Machtarithmetik ohnehin nur noch akademisch. Trotz allem gestaltet sich ein potenzielles R2G-Bündnis wegen der außenpolitischen Positionen der LINKEn weiterhin als problematisch.
Auf Länderebene dagegen gestaltete sich die Problematik völlig anders. Die Vergangenheit der LINKEn als Regionalpartei (ostdeutsche PDS) bedeutete, dass sich Landesverbände deutlich vom Bundesverband und voneinander unterscheiden können. Das ist ein Phänomen, das auch andere Parteien kennen. Die CDU Baden-Württemberg würde die Grünen Berlins, mit deren örtlichem Landesverband sie reibungslos als Juniorpartner (!) koalieren, nicht mal mit der Kneifzange anfassen - und umgekehrt.
Nur ist das kein allzu leichtes Argument. Die SPD rannte in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre beständig mit dem Kopf gegen die Wand dieser Falle, am eindrücklichsten in Hessen. War der Landesverband nun koalitionstauglich oder nicht? Das Hin und Her von Nein im Wahlkampf, dann dem OK aus der Parteizentrale (damals unter Kurt Beck), der konzertierten Kampagne besonders der Springer-Medien und dem anschließenden Desaster des Verrats der vier hessischen Abgeordneten verbrannte die Koalitionsoption auf Jahre. Erst Hannelore Kraft konnte das Modell auch im Westen mit ausgesuchten Landesverbänden (es bestand nie ein Zweifel, dass die Saarländische SPD nicht mit Lafontaine koalieren würde) etablieren.
Diese Geschichte hält für die CDU und ihren Umgang mit der AfD einige interessante Parallelen bereit. Genauso wie bei der SPD lehnt die Bundespartei Koalitionen auf Länderebene entschieden ab und untersagt dies ihren Landesverbänden auch (ohne das formal festlegen zu können; innerparteiliche Demokratie and all that). Gleichzeitig gibt es Teile der Basis, die keine Berührungsängste haben und eine Koalition mit dem radikalen Partner als Chance sehen, eine Fehlentwicklung der Partei zu korrigieren - in beiden Fällen die Bewegung in die diffuse Mitte. Wo SPD-Abgeordnete hofften, eine Abkehr von der Agenda2010 erreichen zu können, hoffen CDU-Abgeordnete heute, entschieden mit Merkels Modernisierungspolitik brechen zu können.
Die Gefahren sind ähnlich. Die Koalition wäre ein Dammbruch, sie schafft eine riesige Kontroverse und tonnenweise politische Munition für den Gegner. Gleichzeitig öffnet sie alle Tore für das offene Austragen des innerparteilichen Konflikts. Die SPD hat sich von diesem Dilemma nie erholt. Die permanente Koalitionsdiskussion delegitimierte die Agenda2010 in den Augen der Basis und der Wähler völlig, ohne je den tatsächlichen Bruch herbeiführen zu können; bis heute ist die Partei nicht Fisch oder Fleisch beim Thema und wird zwischen den Polen zerrieben. Dasselbe Schicksal droht der CDU über die Modernisierung mit der Koalitionsdebatte über die AfD.
Darüber hinaus ist die AfD aktuell aber auch nicht koalitionsfähig. Die Traumvorstellung etwa der Thüringer CDU-Basis ist es, sie als billige Mehrheitsbeschaffer für einen Machtwechsel nutzen zu können. Das Problem ist aber, dass dies einen krassen Bruch in der politischen Kontinuität erforderlich macht; eine solche Koalition ist, in den unsterblichen Worten Gustav Heinemanns, "ein Stück Machtwechsel". Der Koalitionspartner ist nicht Mehrheitsbeschaffer, er ist Hebel für eine Neuorientierung der Partei, eine Neuorientierung, die die Partei gar nicht will. Die SPD ist an diesem Dilemma zerbrochen. Es ist fraglich, warum es der CDU da besser gehen sollte.
Dazu kommt das Problem, dass die AfD (noch) keine gemäßigten Landesverbände aufweist. Der thüringische Landesverband, mit dem Michael Heym so gerne koalieren würde, wird von einem ausgewiesenen Faschisten geführt und hat zahllose Rechtsextremisten in seinen Reihen. Der Landesverband Baden-Württemberg ist kontinuierlich zerrissen und duldet Holocaust-Leugner. Und so weiter. Es ist durchaus realistisch anzunehmen, dass einer oder mehrere dieser Landesverbände sich über kurz oder lang zu einem rechtsdemokratischen Verband entwickelt, ähnlich wie es die LINKE heute ist. Sicherlich am Rand des Spektrums, aber grundsätzlich demokratisch und koalitionsfähig.
Zu diesem Zeitpunkt wird die CDU mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Versuchung nicht mehr widerstehen können. Eine solche Koalition, die mit einer Partei der Gaulands geschlossen würde, wäre immer noch widerwärtig ins Extrem und potenziell enorm schädlich, aber sie wäre nicht so offensichtlich demokratiegefährdend und systemerschütternd wie die Idee, mit Faschisten zu koalieren.
Nimmt man sich aber die Entwicklung der SPD als Beispiel, wird diese Entscheidung möglicherweise gar nicht mehr die der CDU sein. Denn es könnte gut passieren, dass die Union zu diesem Zeitpunkt bereits gar nicht mehr stark genug ist, eine Zwei-Parteien-Koalition mit der AfD einzugehen. Sie müsste dann versuchen, schwarz-gelb-blaue Bündnisse zu schmieden - eine durchaus mögliche Konstellation, aber mit noch viel mehr Unwägbarkeiten und Instabilitäten gesegnet.
Und die permanente Koalitionsdebatte, die der CDU dadurch absehbar ins Haus steht, wird die Themen konstant auf der Tagesordnung halten. Die aktuelle Wadenbeißerei Friedrich Merz' gibt einen Vorgeschmack darauf, wie das aussehen könnte. Egal welche Entscheidung gefällt wird, ein signifikanter Teil der Partei wird unzufrieden sein. Und so wird die Partei zwischen den Polen langsam zerrieben. Wer sich für das "konservative Profil" (das rapide zu einem durchsichtigen Codewort für rechtsradikale Politik wird) begeistert, findet in der AfD eine unverdünnte und (voraussichtlich wenigstens in manchen Ländern) wählbare Alternative. Wer die moderne Bürgerlichkeit mag, findet diese auch bei den Grünen (wenn deren Entwicklung so weitergeht wie bisher). Und wer sich für Marktwirtschaft und alles was dazugehört erwärmt, kann immer zur FDP zurückkehren.
Natürlich ist nichts davon sicher. Aber ich halte dieses Dilemma für sehr real, und es würde mich nicht wundern, wenn die Beschäftigung mit der jüngeren SPD-Parteigeschichte gerade zu den heißen Themen im Konrad-Adenauer-Haus gehört. Die CDU steht am Scheidepunkt ihrer Entwicklung, weg von der Volkspartei und hin zu einer, aber nicht der einzigen Partei auf der Rechten. Es ist eine Position, wie sie seit den Wahlen von 1953 nicht mehr gekannt hat.
Meine Eingangsthese, dass der Umgang mit der AfD die Gretchenfrage der CDU ist, hat damit noch einen weiteren, düsteren Unterton. Möglicherweise ist es für das Schicksal der Partei völlig egal, welche Entscheidung sie trifft, einfach, weil es keine guten Entscheidungen gibt. Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Entscheidung für die Bundesrepublik von höchster Wichtigkeit ist, und ich hoffe, dass Paul Ziemiak und seine Gesinnungsgenossen die Oberhand behalten werden. Aber ich will nicht so vermessen sein zu behaupten, dass das die CDU retten könnte. Aber wenn die Partei mit ihrer Standhaftigkeit die BRD vor einem Abrutschen in den Totalitarismus bewahrt, wäre das nicht wenig. Es gibt schlimmere Sachen, die auf einem Grabstein stehen können.

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