Es ist tiefste Nacht, und ich kann nicht schlafen. Soeben ist der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus zuende gegangen, und am selben Tag verhängte US-Präsident Trump einen Einreisestopp für Menschen aus vielen muslimischen Ländern, in denen mit den Waffen der USA Krieg geführt wird. Trump behauptet, Terrorismus verhindern zu wollen, doch er schürt nur Hass. Und ich denke daran, was aus Hass werden kann, während Michael Gorbatschow vor einem Atomkrieg warnt. In deutschen Parlamenten sitzen wieder Nazis, despoten haben überall Hochkonjunktur, und meine Gedanken kreisen um Angst, Wahrheit und Geschichte.
Vor einer Woche habe ich aufgeschrieben, wie ich die Amtseinführung von Donald Trump erlebt habe, und welche Szenarien für die Zukunft ich mir vorstellen kann. Prompt bekam ich eine Antwort. Sie stammte von einem Rechtsradikalen, der unerklärlicherweise mein Blog liest, aber zu feige ist, sich zu erkennen zu geben. Sein lakonischer Kommentar lautete: „Hysterie in Vollendung. Passen Sie auf, dass Sie nicht den Verstand verlieren.
Mehr weiss ich dazu nicht zu sagen und arbeite lieber weiter meine Linkliste ab…“
Obwohl ich seine Art inzwischen kenne, hat er mich für einen Moment geärgert. Diese Selbstsicherheit, diese Coolness, dieses Gehabe, als durchschaue er allein die Welt, er und seine Vorbeter. Wir anderen, wir armen Irren, wir sollten doch vor Angst schlottern. Er und seinesgleichen, sie strafen uns mit Verachtung, Überheblichkeit und Überlegenheit. Sie wärmen sich an dem Feuer, mit dem all das zugrunde geht, was wir sogenannten Gutmenschen uns aufgebaut zu haben glauben. Aber hat er nicht recht? Spricht und sprach aus meinen Worten nicht die Angst? Seine Intention mag eine Finstere gewesen sein, als er den Kommentar schrieb, aber er hat recht: Ja, ich habe Angst vor der Zukunft. In dieser Nacht raubt sie mir den Schlaf. Sie beweist, dass ich noch Empfindungen für die Welt habe, dass mir nicht alles gleichgültig ist, dass ich nicht mit einem Lachen, einem verächtlichen Grinsen und purer Überheblichkeit über die Leben Anderer hinweg gehe. Ja: Ich habe Angst, was die Gefühllosen vom Schlage eines Donald Trump, eines Recep Tayyib Erdogan, eines Wladimir Putin, einer Marine Le Pen, eines Geert Wilders, einer Frauke Petry, eines Björn Höcke und eines anonymen Neonazis mit dem Pseudonym Goenner mit der Welt anstellen, die ihnen wie eine gebratene Taube in den Rachen fliegt. Ich habe Angst davor, was sie mit den ihrer Meinung nach verweichlichten Andersdenkenden machen, mit denen, die sich nicht wehren können. Frauen, Homo- und Transsexuelle, Behinderte, Muslime, Linke, Grüne und Sozialdemokraten stehen schon wieder auf den Abschusslisten. Weil ich die Welt sehe, wie sie ist, deshalb habe ich Angst. Ich beobachte langfristige Entwicklungen und feiere keine kurzfristigen Siege. Wer die Wahrheit für sich gepachtet hat, der duldet keine anderen Meinungen, kein anderes Leben und keine andere Religion oder Weltanschauung. Und die, die jetzt nach oben drängen, überall auf der Welt, in Washington ebenso wie im Nachbarhaus, die kennen nur ihre Wahrheit, ihre Überlegenheit. Die Sicherheit und Entschlossenheit, die sie ausstrahlen, treibt ihnen die Verunsicherten zu, die sich nach Führung und Klarheit sehnen, und nach einem, dem sie die Schuld an allem geben können. Ja: Ich habe Angst vor der brodelnden Masse Hass, die überall aufsteigt, weil die Politik und die Wirtschaft zu selbstsüchtig waren und wir anderen zu bequem, um zu verteidigen, was wir für selbstverständlich hielten.
Das erste Opfer der Demagogen ist die Wahrheit. Um verunsicherte Anhänger zu bekommen, muss man Zweifel säen. Wie man das macht, haben Trumps Berater in dieser Woche gezeigt. Der Präsident behauptete, die Menschenmasse bei seiner Amtseinführung sei die größte aller Zeiten gewesen. Als man es ihm widerlegte, erklärte seine Beraterin Kellianne Conway, es handle sich nicht um eine Lüge, sondern um alternative Fakten. Alternative Fakten? Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man darüber lachen. Jeder sucht sich seine eigene Wahrheit selbst aus, lässt sich unter keinen Umständen überzeugen, nent die Anderen lügner, auch wenn sie – wie im Falle des von Trump verächtlich gemachten behinderten Journalisten – beweiskräftige Videoaufnahmen haben. Die Rechten behaupten einfach dreist ihre sogenannten Wahrheiten, ohne sich die Mühe zu machen, sie belegen zu wollen. Es sind alternative Fakten. Bei jedem, der sich nun fragt, ob nicht ein Körnchen Wahrheit an den so vehement vorgebrachten Aussagen sein könnte, haben sie Zweifel gesät, und irgendwann ernten sie diese Zweifel. Man kann dieses Spiel durchschauen, aber man kann nur wenig dagegen unternehmen. Wenn man seine eigene Meinung weiterhin vertritt, brauchen die Rechten nur das Schlagwort von alternativen Fakten zu nutzen, um nie wieder etwas beweisen zu müssen. Die ehemalige Piratenpolitikerin Marina Weisband hat darauf hingewiesen, dass die Verunsicherung der Menschen, das In-Zweifel-ziehen der Wahrheit genau die Strategie ist, die verfolgt wird, um sich unangreifbar zu machen gegenüber beweisbaren Fakten, und dass dies jeder wirklichen Auseinandersetzung auf Dauer die Grundlage entzieht und Misstrauen erzeugt. Und es stimt: Man kann nur mit Menschen debattieren, wenn sie bereit sind, sich auf gleiche Grundlagen einzulassen: 2+2=4, auch wenn die Partei sagt, dass es 5 ist. In dem Moment, wo unwiderlegbare Beweise, selbst gehörtes, selbst erlebtes sogar, zu nur einer von vielen möglichen Wahrheiten degradiert wird, ist jede Auseinandersetzung witzlos. Dann kann man ein Gespräch nur noch beenden mit dem Satz: „Du hast deine Wahrheit, ich hab meine.“ Und genau davor warnt Marina Weisband, denn damit überlassen wir die Deutungshoheit den Demagogen und ziehen uns zurück. Und einer der Gründe für meine Angst ist, dass ich dagegen keine Strategie finde.
Eine Woche Donald Trump hat die Welt verändert. Wissenschaftler und ehemalige Politiker warnen vor einem drohenden Atomkrieg, der Einreisestopp für Iraner könnte den Atom-Deal gefährden, der US-Präsident erwähnt bei seiner Erklärung zum Holocaustgedenktag die Juden nicht, eine Mauer gegenüber Mexico und die Strafzölle für Importeure würde vor allem amerikanische Unternehmen treffen, die Rechte von Frauen, Lesben, Schwulen, Transgenderpersonen und Behinderten werden bereits eingeschränkt, soweit es die Erlassbefugnisse des Präsidenten zulassen, die – zugegeben unzureichende – Krankenversicherung wird bald abgeschafft, die Folter soll wieder eingeführt werden, und Menschen aus muslimischen Ländern werden willkürlich und grundlos diskriminiert. Und zwar nicht Menschen aus Saudi Arabien, aus dem fast alle Attentäter der Anschläge vom 11. September 2001 kamen, sondern die Bewohner der Kriegsgebiete Syrien, Irak, Sudan und Jemen, neben ein paar Anderen. Dies alles läuft auf Konfrontation hinaus, und die zunehmend stärker werdenden rechten Bewegungen in der Welt jubeln. Hattet ihr denn keine Großeltern, die euch erzählt haben, wie schrecklich der Krieg war? Die Gedanken- und Gefühllosen haben immer mehr Oberwasser, und sie schert die Geschichte nicht, sie hören nicht auf Mahnungen und Warnungen, sie wollen ihren eigenen Krieg oder glauben, sie könnten sich alles leisten, ohne dass er ausbricht. Sie scheinen zu glauben, keine Grenzen zu haben, keine Rücksichten nehmen zu müssen, ganz allein auf der Welt zu sein oder sie beherrschen zu können. Ich gestehe, davor habe ich Angst.
Und dann ist da ja noch Björn Höcke. Ich habe seine umstrittene Rede gelesen und gehört. Er ist intelligent und gefährlich. Im Bezug auf die Nazizeit spricht er vielen Deutschen aus der Seele, wenn er sagt, dass mal schluss sein müsse mit der beschämenden Erinnerung, dass kein anderes Land sich ein Denkmal der Schande in seine Hauptstadt setze. Er behauptet damit etwas, was viele deutsche bis heute glauben, dass nämlich die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus immer wieder hervorgeholt werde, um Deutschland seine Schuld vor Augen zu führen, um es klein und beschämt zu halten. Dabei geht es darum gar nicht. Diese Zeit ist längst vorbei. Sie war schon vorbei, als Adenauer die BRD zum Mitglied im westlichen Bündnis machte und ein eigenes Militär aufstellen durfte, das von Nazigenerälen geführt wurde. Nein: Die Erinnerung an Faschismus und Holocaust dient heute nur noch einem einzigen Zweck: Sie soll verhindern, dass sich so etwas je wiederholt, egal durch wen, egal warum. Das Erinnern ist keine deutsche Angelegenheit mehr, es geht darum, die Barbarei nirgendwo auf der Welt mehr so aufkommen zu lassen. Doch auch hier schlagen die sogenannten alternativen Fakten wieder zu. Es gibt viele Rechte, die behaupten, dass es so schlimm doch damals gar nicht gewesen sei. Natürlich könnte ich von meinen Eltern und Großeltern erzählen, die aus ihrem Leben erzählten, die Krieg und Terror mitgemacht haben. In meiner Familie gab es Nazis und nazigegner, Sozialdemokraten, Kommunisten und Parteimitglieder der NSDAP. Sie konnten viel erzählen, und Gott sei dank haben es einige getan. Aber wenn all diese Geschichten von den jungen Wilden heute als alternative Fakten abgetan und verachtet werden, was soll man dann noch sagen? Wenn die Geschichte nichts mehr wert ist, was kann man dann noch tun?
Es ist tiefste Nacht, und ich kann nicht schlafen. Vielleicht werde ich noch einen Krieg erleben, von dem meine Eltern, die ihn als Jugendliche erlebten, sagten, dass er schrecklich sei. Vielleicht werde ich einen Atomkrieg erleben, den Zusammenbruch der Welt und meines Lebens. Warum sollte Donald Trump, der alles aus einem momentanen Gefühl der Beleidigtheit heraus tut, davor zurückschrecken? Vielleicht denken die Rechten ja auch, die Zerstörungskraft von Atombomben sei nur eine alternative Realität? Vielleicht werde ich die Machtübernahme der Rechten erleben, diese Rechten, denen das Leben anderer nichts gilt, die ihren Zorn und ihren Hass an immer neuen Schuldigen auslassen müssen, und die andere Meinungen nicht ertragen können. Während wir andere Meinungen mit Worten und mit Verzweiflungen bekämpfen, mit Diskussionen und Überzeugungsarbeit, bekämpfen sie andere Meinungen mit Häme, Geringschätzung, Ausgrenzung und Vernichtung. Vielleicht werde ich das alles noch erleben, und dann bin ich als Linker und als Behinderter betroffen. Dies ist meine Wahrheit. Für Andere mag sie alternativ sein, unerheblich, lächerlich. Für mich ist sie alternativlos, denn sie gehört mir, ist in mir. Mir bleibt nur, jeden Tag, an dem sie noch nicht vollständig eingetreten ist, als das Geschenk zu genießen, dass das Leben nun einmal ist, trotz meiner Angst meine Stimme zu erheben, den Mut zu besitzen, diese Angst zuzugeben und alles in meiner Macht stehende dafür zu tun, dass nicht Geschehe, was sich so deutlich abzeichnet.
Ich bin kein Kämpfer, sondern ein Redner, und ich möchte nicht vor der Zeit verstummen. Wenn wir überhaupt etwas erreichen wollen, wir, die wir die Wahrheit nicht kennen, sondern uns jeden Tag aufs neue erkämpfen und erarbeiten, wir, die wir Angst haben, weil wir mitmenschlich denken, wir, die wir uns an die Geschichte erinnern und nicht wollen, dass sie sich wiederholt, wenn wir also überhaupt etwas erreichen wollen, dann müssen wir uns selbst treu bleiben. Zorn, Hass und Wut mögen uns überrennen und übertönen, sie mögen uns in Grund und Boden lachen, aber ich werde nicht wie die Zornigen und wütenden werden. Ich werde weiter machen mit meinen Zweifeln, meiner Angst und meiner Suche nach Erkenntnis.