Deutschland auf dem Weg in den Kirchenstaat

von Uwe Lehnert

Deutschland auf dem Weg in den KirchenstaatZur Zeit schauen wir sehr inter­es­siert auf das Wahlverhalten jener ara­bi­schen Bürger, die sich durch mona­te­lange Proteste end­lich so etwas wie demo­kra­ti­sche Wahlen ertrot­zen und erkämp­fen konn­ten. Dabei stel­len wir anhand der Wahlergebnisse mit nicht gerin­gem Entsetzen fest, dass isla­mis­ti­schen Parteien offen­bar der Vorzug gege­ben wird. Ihre über­all domi­nante Stellung im Gefüge der sich neu bil­den­den Parteien ist aber leicht zu erklä­ren. Einerseits geht sie auf die dort fest ver­wur­zelte Religion als ver­bin­dende Ideologie zurück, zum andern auf ent­wi­ckelte Organisationsstrukturen, die sich wäh­rend ihrer jahr­zehn­te­lan­gen Untergrundarbeit her­aus gebil­det haben. Die Sorge, die uns befällt, ist die vor einer Entwicklung hin zu reli­gi­ons­zen­trier­ten Staaten nach ira­ni­schem oder saudi-arabischem Muster.

Wir Europäer, vor allem wir Deutsche, betrach­ten die Einstellung vie­ler die­ser Wähler aber auch mit einem deut­li­chen Über­le­gen­heits­ge­fühl. Halten wir uns doch für ein auf­ge­klär­tes, die Trennung von Staat und Religion strikt ach­ten­des poli­ti­sche Gemeinwesen. Aber ist dem wirk­lich so? Gibt es bei uns diese Beachtung zweier zu tren­nen­der Sphären – der poli­ti­schen und der welt­an­schau­li­chen? Dem ist bekannt­lich kei­nes­wegs so, im Gegenteil die Verfilzung zwi­schen Staat und Kirche schrei­tet bei uns, wenn auch von der media­len Öffent­lich­keit ungern wahr­ge­nom­men, mun­ter wei­ter.

In frü­he­ren Beiträgen hatte ich bereits an viele Beispiele der engen, aber dem Geiste des Grundgesetzes wider­spre­chende Verquickungen staat­li­cher und kirch­li­cher Interessen erin­nert: z.B. an theo­lo­gi­sche Fakultäten an staat­li­chen Universitäten (neben christ­li­chen dem­nächst auch mus­li­mi­sche), an das über­kom­mene Mitspracherecht der Kirche bei der Besetzung sog. Konkordats-Lehrstühle; Religion als ordent­li­ches und beno­te­tes Schulfach in eigent­lich welt­an­schau­lich neu­tra­len Schulen, Bezahlung der Religionslehrer aus all­ge­mei­nen Steuermitteln, Pfarrer in Bundeswehr und Strafvollzug; Bezahlung von Bischöfen, Kardinälen und Domherren samt Nebenkosten aus Steuermitteln; staat­li­che Zuschüsse zu den Kirchentagen in teil­weise zwei­stel­li­ger Millionenhöhe aus all­ge­mei­nen Steuermitteln; Kirchensteuereinzug durch die staat­li­chen Finanzämter; jah­re­lang erfolg­ter zwangs­wei­ser und nicht rück­er­stat­tungs­fä­hi­ger Kirchensteuerabzug beim Arbeitslosengeld, auch wenn keine(!) Kirchenmitgliedschaft vor­lag; kirch­li­ches Arbeitsrecht mit signi­fi­kant weni­ger Rechten für den Arbeitnehmer und Zwangsmitgliedschaft in der Kirche über staat­li­chem Arbeitsrecht ste­hend; Alleinvertretungsanspruch der Kirchen in welt­an­schau­li­chen Fragen in den Rundfunk- und Fernsehräten; erdrü­ckende Dominanz christlich-religiöser Vertreter in Ethik-Kommissionen; nicht künd­bare Verträge (Konkordate) zwi­schen Staat und Kirche, die der Kirche Einfluss und vor allem Finanzmittel in Milliardenhöhe sichern; Finanzierung von Caritas und Diakonie und vie­ler ande­rer kon­fes­sio­nel­ler Institutionen durch Staat und Sozialkassen; Auswahl der höchs­ten Richter nach ihrem Bekenntnis zum christ­li­chen Glauben.

Bundeskanzlerin Merkel meinte auf dem Deutschlandtag der Jungen Union im Oktober 2010 in Potsdam: “Wir füh­len uns dem christ­li­chen Menschenbild ver­bun­den, das ist das, was uns aus­macht.” Wer das nicht akzep­tiere, “der ist bei uns fehl am Platz” (Spiegel-Online 15.10.10). Diese Worte waren zwar an die Zuwanderer gerich­tet, aber in die­ser Form muss ich sie auch auf mich bezie­hen. Ich fühle mich dem christ­li­chen Menschenbild kei­nes­wegs ver­pflich­tet. Die CDU geht aber offen­bar davon aus, dass das Christentum aus­nahms­los für alle Deutschen das ver­bind­li­che Wertefundament dar­stellt. Welche unglaub­li­che Anmaßung steckt in die­ser Äuße­rung, bezo­gen zumal auf ein Land, von des­sen 82 Millionen Einwohnern etwa 32 Millionen nicht den christ­li­chen Kirchen ange­hö­ren, von den unge­zähl­ten Zwangs- und Scheinchristen unter den offi­zi­el­len Kirchenmitgliedern ganz zu schwei­gen.

Besonders anläss­lich des Besuches des höchs­ten Vertreters der katho­li­schen Kirche im September d. J. über­schlu­gen sich viele poli­ti­sche Repräsentanten gera­dezu bei ihren ser­vi­len Verbeugungen und kro­chen im wahrs­ten Sinne des Wortes zu Kreuze. Mit wel­cher Eilfertigkeit Bundeskanzlerin Merkel zum Berliner Sitz der Deutschen Bischofskonferenz eilte, um dort von einem abso­lu­tis­tisch regie­ren­den Kirchenfürsten emp­fan­gen zu wer­den, wider­sprach mei­nem Verständnis von ihrem Amt. Bedarf das welt­li­che Amt immer noch der kirch­li­chen Weihen wie einst, als Thron und Altar Komplizen waren? Völlig unak­zep­ta­bel, weil gegen die ver­fas­sungs­mä­ßig gebo­tene welt­an­schau­li­che Neutralität ver­sto­ßend, emp­fand ich die Pilgerreise deut­scher Bundesverfassungsrichter in ein Freiburger Priesterseminar. Sie haben dort eben jenem letz­ten abso­lu­ten Monarchen Europas, der wesent­li­che Grundsätze der deut­schen Verfassung und inter­na­tio­nal aner­kann­ter Menschenrechte in der Praxis miss­ach­tet, ihre Reverenz erwie­sen. Aber neben­bei bemerkt, ist diese ideo­lo­gi­sche Nähe so über­ra­schend, wenn man weiß, dass Kirche und die meis­ten (nicht alle!) Richter des Bundesverfassungsgerichts sich regel­mä­ßig in sog. Arbeitskreisen tref­fen?

Bleibt schließ­lich noch die Unredlichkeit zu erwäh­nen, dass Bundespräsident und Bundestagspräsident vor­ga­ben, den rang­höchs­ten poli­ti­schen Repräsentanten des Kirchenstaates in den Bundestag ein­ge­la­den zu haben, ihn aber tat­säch­lich durch­weg als Vertreter einer bevor­zug­ten Religionsgemeinschaft behan­del­ten. Die etwa hun­dert Abgeordneten, die sich mit guten Gründen der Rede des Papstes im Bundestag ent­zo­gen, ver­die­nen unser aller Respekt. Dass sie durch wil­lige Beifallklatscher eiligst und wider­spruchs­los ersetzt wur­den, ist eine Schande für Parlament und Parlamentspräsident.

Haben wir fak­tisch doch so etwas wie eine Staatskirche? Kaum ein Staatsakt von Bedeutung ohne die wei­he­volle Anwesenheit von Bischöfen und Kardinälen. Diese feh­lende religiös-weltanschauliche Neutralität unse­res Staates, ins­be­son­dere sei­ner tra­gen­den Institutionen, ist in mei­nen Augen als Verstoß gegen den Geist der Verfassung zu wer­ten (vgl. etwa Artikel 4, Absatz 1 des Grundgesetzes!). Ich bin nicht bereit, diese weit­ge­hende Verkirchlichung der Politik – siehe z.B. obige Auflistung! – als angeb­lich »legi­time Interessenverschränkung« in einer plu­ra­lis­ti­schen Gesellschaft anzu­se­hen. Ist das sich aus den Prinzipien eines libe­ra­len Staates – als den wir uns ja anse­hen – erge­bende Gebot der Trennung von Staat und Kirche nur eine bloße und beru­hi­gend gemeinte, gar in die Verfassung nur hin­ein inter­pre­tierte Absichtserklärung, die hin­ter dem gesell­schafts­po­li­ti­schen Anspruch und der ange­maß­ten Bedeutung der Kirche zurück­zu­ste­hen hat?

Meines Erachtens fin­det hier eine schlei­chende Inanspruchnahme von alten Vorrechten statt, die in einem breit geführ­ten Dialog end­lich offen gelegt und dis­ku­tiert wer­den sollte. Die mediale Öffent­lich­keit igno­riert diese Vorgänge weit­ge­hend. Nur wenige Zeitungs-Kommentatoren äußer­ten ihr Missfallen anläss­lich der beim Papstbesuch zu beob­ach­ten­den Vermischung von staat­li­chen und reli­giö­sen Interessen und Handlungen. Die dies­be­züg­li­chen lai­zis­ti­schen Initiativen inner­halb z.B. der SPD sind sehr zu begrü­ßen, ihre schroffe Ablehnung durch die Parteiführung bestä­tigt aber ganz offen­bar oben aus­ge­führte grund­sätz­li­che Kritik an unse­ren füh­ren­den poli­ti­schen Akteuren.


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