awesomatik auf Buchfühlung
Deutschboden – Eine teilnehmende Beobachtung – Moritz von Uslar
Die Kleinstadt – Der Alptraum jedes Berliners. Und wenn sie dann noch in Brandenburg liegt, dann rasen einem nur so die Vorurteile durch den Kopf. Nazihochburgen, No-go Areas, DDR Verherrlichung, Harz 4, Tattoos, getunte Autos und grau-in-graue Immobilien.
Dieser Angst wollte sich Moritz von Uslar stellen. Todesmutig ließ er sich für einige Monate im Landkreis Oberhavel nieder. Wie ein Sozialanthropologe studierte er die Spezies Brandenburger und notierte minutiös alle noch so kleinen Eigenarten der Einheimischen.
Damit die Reportage nicht zu deprimierend wird, bringt er dem Leser seine präzisen Beobachtungen auf humorvolle Weise nahe.
Bei einer Fahrt im Regionalexpress begeistern ihn z.B. die üblichen Verdächtigen:
…beide Mädchen [..] boten derartig topfitte, mit grandioser Präzision gestylte, getunte, polierte Anblicke – nesquik-farbene Gesichter, viel Liedstrich und Kajal, schreiend Rosa Lippenstift dazu weißer Glitzer in den Wimpern. Sie trugen Jeans und Sportkleidung in den Farben Kreischweiß, Brüllgelb und Jaulrosa …
… viel “Weeßte” und “Wa” in ihrer Unterhaltung, aber auch merkwürdig altmodisches Heinz-Rühmann-Film-Vokabular mit Worten wie “Hinz und Kunz”, “Firlefanz” und “Fisematenten”….
Neben modernen Nazis und Prolls fällt von Uslar auch noch der World-of-Warcraft-Mittelalter-Gaukler-Kiff-Öko-Schluff-Schüler auf.
Auch in Oberhavel geht es lustig weiter. Doch um wirklich teilnehmend Beobachten zu können, muss der Reporter erst mal jede Menge saufen. …Na Stadtmensch, noch ne schöne Molle?
So lernt er schnell seine Protagonisten kennen. Kneipenchef Heiko, Geschichtenerzähler Blocky und vor allem die Punkband “5 teeth less”.
Die führt ihn auch in das Nachtleben von Oberhavel ein. Das besteht meistens darin vor der Aral-Tankstelle zu saufen. ...Los geht’s wir fahren nach Aral. …zur blauen Lagune...
Und alle dummen Klischees werden bestätigt. Die meisten Einwohner beziehen Harz 4, sind tätowiert, fahren getunte Autos, haben eine Nazivergangenheit und den ganzen Tag nichts zu tun. Freizeit als tragisches Geschenk (habe ich mal irgendwo gelesen).
Doch nach und nach stellt sich heraus, dass die Lage gar nicht so dramatisch ist. Hinter der rauen Fassade, verstecken sich meist intelligente und sympathische Menschen, die sich eben nicht nur an der DDR Vergangenheit festhalten. Man verfolgt wie der Autor langsam zwischen Euphorie und panischer Langeweile, den Kleinstadtgroove für sich entdeckt, Freundschaften schließt und sich beim Anblick von Touristen schon wie ein Ureinwohner fühlt. Alles also halb so wild.
Nach Ende seiner Recherchen zieht er das Fazit, dass sich nie auch nur die kleinste Kleinigkeit abspielt. Alles immer aufregend, dabei alles ein großes, alles umfassendes, allmächtiges, alles überstrahlendes Nichts.
Auf der Hauptstraße: nichts los.
Auf der Aral-Tankstelle: nichts gewesen.
In der Kneipe Schröder, im Gasthaus zur Alten Eiche, bei Franky’s, im Haus Heimat, in den Autos, die Tag und Nacht durch die Kleinstadt bumsten, im Proberaum der Band 5 Teeth Less: Nie war etwas gewesen, nie war je irgendetwas passiert.
Es würde auch in in Zukunft: nichts passieren.
Und doch ist es Moritz von Uslar gelungen, genau dieses Nichts unterhaltsam in Worte zu fassen und laut süddeutsche Zeitung …eines der besten Bücher über Deutschland nach der Wiedervereinigung… zu schreiben.
Fazit – Eine Reportage über Nichts
Ob es das Beste ist, muss jeder selbst für sich entscheiden. Auf jeden Fall ist ihm ein vielschichtiges Portrait der Brandenburgischen Provinz gelungen, das zu einer weiteren Annäherung zwischen Ost und West ermutigt. Trotz Zynismus seitens von Uslar (und obwohl der Autor im Boxclub mit dem Kommentar “Westsau” ausgeknockt wurde) könnte man “Deutschboden” als Beitrag zur deutsch-deutschen Völkerverständigung verstehen.
Die Reportage fügt sich dabei nathlos ein, in die Reihe großartiger Kleinstadt-Epen wie “Fleisch ist mein Gemüse” von Heinz Strunk oder “Die Beschissenheit der Dinge” von Dimitri Verhulst. Nur, dass der Autor hier nicht selbst aus dem Milieu stammt, sondern auf sozial-anthropologische Entdeckungsreise geht.
Nicht nur für Berliner ein gruseliger Lesespaß aus dem man mit versöhnlichen Gefühlen für seine Nachbarn hervorgeht.
Wertung 3/5
1. Geht gar nicht 2. Is OK 3. Gut 4. Richtig gut 5. awesomatik!
awesomatik Kuriosum
Da es sich bei Deutschboden um non-fiction handelt, existiert die Band 5 Teeth less tatsächlich. Eine sympathische Truppe, wie man im Buch nachlesen kann. Und so hören sich die Kollegen an:
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Deutschboden: Eine teilnehmende Beobachtung