Des Morgens

Ich betrete das Wartezimmer meiner freundlichen Hausarztpraxis. Wie immer ist es gut gefüllt: 1 Dorf, 2 Ärzte, ein gutes Dutzend Patienten und jede Menge Gesprächsstoff.
Kaum sitze ich, kommt ein Junge hereingeschlappt. 13, maximal 14 Jahre. Lässt sich mit einem tiefen Schnaufer auf den Stuhl neben mir fallen und hat sein Smartphone in der Hand, noch ehe sein Hintern die Sitzfläche berührt.

„Na“, sage ich, „gehst du nicht mehr zum Kinderarzt?“
„Pfff!“ Ich werde mir einem verächtlichen Blick abgestraft. „Ich bin doch kein Baby mehr!“
Das sehe ich anders: Schließlich ist ein Kinderarzt ein Arzt für Kinder und da gehören sie auch hin!
Andererseits ist auch Fakt, dass der Kinderarzt einige Kilometer weit weg residiert, während Groß-Bummelsdorf über eine ausreichende Anzahl Hausärzte verfügt. Sprich: Wenn Papa mit dem Auto auf Arbeit ist, bleibt oft nur der „Erwachsenenarzt“ oder eine lange Busfahrt mit etlichen Bummelanhaltstationen. Na schön, mein Verständnis hat der Junge. Ausnahmsweise.

Anscheinend hat sich damit der Kommunikationswille IRL (= in real life) ausreichend erschöpft und der Junge tippt eifrig auf dem Touchscreen seines Handys herum. Ich wette 50 Cent, das ungefähr jetzt irgendwo in irgendeinem Klassenraum ein Schüler verstohlen sein lautlos vibrierendes Handy aus der Hosentasche zieht …

So sitze ich also da und benüge mich damit, den Altersduchschnitt im Wartezimmer zu senken. Kleinstes spielt in der Spielecke bzw. lässt sich von sämtlichen Wartenden bewundern und ich lausche den bewunderswert emotionslos vorgetragenen Gesprächen zwischen Frau Zwiebel (sehr alt, weißhaarig, robust aussehend), Frau Kohl (alt, klein und dick und eindeutig rheumatisch), Frau Pfanne (eine Mischung aus den anderen beiden), Frau Topf (alt, schlank, würdevoll, noch immer eine Grande Dame mit feiner Brillenkette) und Herrn Bauch (alt und mit enorm Bauch).

Und das geht so:
Herrn Bauch: „Guten Tach, die Damen, *zwinkerzwinker* So ein hübscher Anblick hier im Wartezimmer heute!“
Frau Zwiebel: „Ach Herr Bauch! *Strahl*“
Frau Kohl: „Ach Herr Bauch! *Rotwerd*“
Frau Pfanne: „Na ja“
Frau Topf: „Guten Morgen, Herr Bauch“

Herrn Bauch: „Ich bin ja hier wegen meinem Blutdurck!“
Frau Zwiebel: „Ach ja, das is immer ein Elend! Mal gebense einem zu viel Blutverdünner, dann zu wenig …“
Frau Kohl: „Bei mir liegt`s ja immer an der Pumpe …“
Frau Pfanne: „Ach ja, der Blutdruck immer …!“
Frau Topf: „Hm“

Herrn Bauch: „Ja, erst neulich war ich wieder im Krankenhaus …“
Frau Zwiebel: „In welchem denn?“
Herr Bauch: „Im Bittehilmir-Krankenhaus in Vollzivilisation“
Frau Zwiebel: „Oh Herre!“
Frau Kohl: „Also da lag mein Hannes ja mal, also nee, das hat uns ü-ber-haupt-nicht gefallen da! Nee, also die .. nee!“
Frau Pfanne: „Da hört man ja auch viel drüber … Also dass die Ärzte da wohl gerne mal schludern!“
Frau Kohl: „Ja und die Schwestern! Sowas Unfreundliches!“
Frau Topf: „Hm. Ich war dort immer sehr zufrieden, ich wurde ausgezeichnet behandelt!“
Frau Kohl: „Nee, sag ich, Herr Bauch. Da gehense nächstes Mal besser nach HinterdensiebenBergen“

Frau Zwiebel: „Du, da war meine Nachbarin mal gelegen, du, da glaubste nicht, was der passiert ist …“
Frau Kohl: „Was denn?“
Frau Zwiebel: „Du, die lach mit einer aufm Zimmer und dann wurde die nachts wach und dann war der ihre Operationsnaht gerissen, am Hals oder wo. Das spritzte da durch die Gegend, das Blut, sachte meine Nachbarin, die halbe Nacht konntese nicht mehr schlafen, so lange waren die da am putzen!“
Frau Topf: „Und wie ging es der Dame dann?“
Frau Zwiebel: „Ach, pfff, das hammse dann fix nochmal genäht und dann war auch wieder gut. Ich sachs ja, das kommt alles von diesem Blutverdünner, ob das mal immer so gut ist?“
Frau Pfanne: „Ja, mein Willie, der hatte auch neulich, also der war in unserem Garten zugange mit der Sense das Gras mähen, da haut er sich die nichtmal ins Bein, schrappt nur mal eben da so lang. Ja und alles voller Blut! Da ist es so aus dem Willie sein Bein rausgelaufen, ich dachte schon, der verblutet mir da! Kommt alles nur von diesem Zeuch, das sie einem immer geben, das sach ich euch aber!“
Herr Bauch: „Ja aber guck, ohne ist auch schlecht! Wie da mit dem Josef neulich, da sieht man`s ja!“

Frau Zwiebel: „Josef? Welcher Josef? Doch nicht etwas der alte Schreber?“
Frau Kohl: „Nee, den hab ich gestern noch getroffen, bei der Annelise warer, nee, das muss der alte Wiener gewesen sein. Der ist doch jetzt tott, oder?“
Frau Pfanne: „Der Wiener ist tott, aber schon seit letzter Woche wohl. Ist ganz friedlich eingeschlafen. Bis ihn das Elschen dann morgens fand, noch in seinem Fernsehsessel gessessen warer“
Frau Topf: „Ich glaube, es geht um Josef Walter?“
Herr Bauch: „Genau! Walter, auf den Namen war ich jetzt nicht gekommen!“

Frau Kohl: „Ja und was war jetzt mir dem Josef?“
Herr Bauch: „Na tott isser! Hat seine Blutverdünner abgesetzt-“
Frau Zwiebel: „Der hat`s doch so am Herzen oder nicht?“
Frau Kohl: „Anner Pumpe? Ich dachte, der hat`s mit den Knien so?“
Frau Pfanne: „Knie, ah, Knie sind immer Mist! Ein Knie, da kannste mal locker 6 Monate rechnen, biste wieder aufe Beine bist. Wollense bei mir ja auch noch machen …“
Frau Zwiebel: „Ach, hör mir auf! Hüfte hab ich, ganz schlimm, wollense ja auch neu machen bei mir, dabei hatte ich letztes Jahr erst beide Knie machen lassen … Da hab ich lange gelegen. Auch mit meinem Diabetes und alles“
Frau Kohl: „Willste deine Hüfte nicht machen lassen?“
Frau Zwiebel: „Pffff! Ich steh doch schon mit einem Bein im Grabb, da loht sich das doch auch nicht mehr!“
Frau Kohl: „Ach ja, so ist das“
Frau Topf: „Und was war jetzt mit dem Josef?“
Herr Bauch: „Ja, der hat also seinen Blutverdünner abgesetzt und seine Herztabletten auch, weil der meinte, da könnter immer so schlecht schlafen und alles. Bockig warer, ist nichtmal zum Arzt gegangen, einfach so! Ja und dann hat er wohl `nen Herzklabaster gekriegt, wie er grad oben in seinem Haus an der Treppe gestanden ist, ja und dann ….“
Frau Zwiebel: „Ja und dann? Tott?“
Herr Bauch: „Jaja, tott. Aber nicht vom Herzklabaster, sondern, weil er die Treppe runtergefallen ist. Da lag er dann und ist verblutet, war alles voll, wie se ne gefunden haben, sacht die Annegret“
Frau Kohl: „Die Annegret?“
Frau Topf: „Das ist doch die Schwiegertochter, oder?“
Frau Pfanne: „Genau, von Rudi die Frau ist das. Die hat`s ja jetzt auch schon, da sindse grad am testen, ob die Rheuma hat!“
Frau Zwiebel: „Rheuma? Die ist doch erst … was , 41?“
Frau Kohl: „Hach ja, schlimm sowas, wenn es die so jung schon erwischt …“

*DRING* „Frau Logan bitte!“
Halleluja! Gut, dass ich heute nur auf ein Rezept warten musste!
ich schnappe mir Kleinstes, freundliches Nicken nach links und rechts, und dann, bevor ich rausgehe, noch einen Blick auf den kalkweißkäsebleichen Jungen.
„Na“, sage ich, „nächstes Mal doch wieder besser zum Kinderarzt?“
Ich zwinkere ihm mitfühlen zu und mache, dass ich hier rauskomme.


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