Nora ist jetzt eine bekannte Fotografin. Joost, ihr netter Wohnungsnachbar, liebt sie, aber Noras Sehnsucht gilt immer noch Boerris Weigler, mit dem sie einst eine leidenschaftliche Affäre hatte. Inzwischen hat er die ganz grosse Karriere in Hollywood gemacht …
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Es war kurz vor acht, als Nora wieder zu Hause war. Müde, aber zufrieden trug sie die schwere Fotoausrüstung die Treppe hinauf. Mit 31 Jahren hatte sie es geschafft: Seit ihrer vielbeachteten Ausstellung vor einem halben Jahr konnte sie sich vor Aufträgen kaum retten. Und doch war sie immer noch auf der Flucht vor einer Erinnerung …
Oben kam Joost aus seiner Wohnung. Vor einem Jahr war er nebenan eingezogen. Er sprang hinzu, nahm ihr die Last ab und musterte sie besorgt: “Du solltest dir ein bisschen mehr Ruhe gönnen, Nora.”
Unerklärlicherweise wurde ihr das Herz jedesmal leicht, wenn sie ihn sah. “Das sagst ausgerechnet du?” neckte sie ihn. “Du sitzt doch jetzt seit drei Wochen jede freie Minute über dem Artikel, den du für diese wissenschaftliche Zeitung schreibst.” Joost arbeitete als Biologe in einem Forschungsinstitut.
“Er ist fertig!” verkündete er stolz.
“Oh, Joost, das müssen wir feiern”, sagte sie warm.
Sein intelligentes Gesicht mit den grauen Augen leuchtete auf: “Ich hab schon eine Flasche Sekt kalt gestellt, und das Essen ist fertig. Kommst du ‘rüber?”
Nora war gerührt. Wie leer wäre ihr Leben ohne Joost. Scherzhaft fragte sie: “Wieso wusstest du, dass mein Kühlschrank mal wieder leer ist?”
“Ist er das nicht immer?” flachste er zurück.
“Aber ich hab noch eine exquisite Flasche Rotwein, die bringe ich mit.”
Als sie die Wohnzimmertür aufschloss, trillerte das Telefon. “Entschuldigst du mich bitte einen Augenblick?” Rasch nahm sie den Hörer ab.
Er stellte sie Fotoausrüstung in die Diele und lächelte ihr zu: “Komm, sobald du fertig bist, ich lasse die Tür offen.”
Zehn Minuten später war sie bei ihm. Joosts Herz zog sich vor Liebe zusammen, so schön war sie mit ihrem ovalen Gesicht, den tiefblauen Augen und den langen dunklen Haaren. Jetzt waren ihre Wangen gerötet, ihre Augen glänzten.
Er schenkte den Sekt ein. Zuerst tranken sie auf seine fertige Arbeit, dann sagte sie mit einer seltsam fremden Stimme: “Der Telefonanruf, das war Bruce Weigler aus Los Angeles. Zufällig hat er in einer deutschen Zeitschrift eine Reportage über mich gelesen. Nun möchte er, dass ich Fotos von ihm mache.”
“Bruce Weigler, der bekannte Schauspieler?”
“Er nennt sich Bruce, seit er in Hollywood Karriere gemacht hat. Als ich ihn vor fünf Jahren bei Dreharbeiten kennenlernte, hiess er noch Boerris. Er hatte eine Nebenrolle in einem Film, bei dem ich als Standfotografin arbeitete. Er war noch nicht sehr bekannt, hatte aber schon diese ungewöhnliche Ausstrahlung. Und einen soliden Ruf als Don Juan. Keine Frau widerstand ihm.”
Ihr Gesicht trug einen Ausdruck, der ihn nachfragen liess: “Du … du auch nicht?”
“Nein. Ich war keine Ausnahme.”
Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass das weher tat als alles, was er in seinem Leben gekannt hatte.
“Es hat nur zwei Wochen gedauert”, fuhr sie leise fort. Sie dachte an den Abend, als sie mit dem ganzen Team ausgegangen waren. Boerris hatte den ganzen Abend nur mit ihr getanzt. Er kam ihr vor wie ein Raubtier: schön, geschmeidig und gefährlich. Sie hatten beide ein wenig zuviel getrunken, und als sie später ins Hotel zurückgegangen waren, in dem sie alle für die Zeit der Aussenaufnahmen wohnten, hatte er sie geküsst. Der Kuss hatte alles beiseitegefegt: Ihren gesunden Menschenverstand, ihre gewohnte Zurückhaltung, sogar die Idee, die sie sich von der Liebe machte. Sie hatte immer von einer glücklichen Familie geträumt, von Zärtlichkeit, Verständnis und gegenseitiger Treue. Sie wusste, dass sie bei Boerris nichts davon finden würde, trotzdem konnte sie nicht ‘nein’ sagen. Es war eine Nacht voll brennender Leidenschaft geworden …
Der Morgen dämmerte schon, als sie als erste aufwachte. Sie beugte sich über ihn und erkannte mit Schrecken, dass sie schon süchtig war nach ihm. Ein Rest von Stolz und Klarsicht liess sie leise aufstehen und in ihr eigenes Zimmer zurückgehen. Sie wollte nachdenken, wollte versuchen, zu sich selbst zurückzufinden. Aber Boerris ertrug es nicht, wenn eine Frau sich ihm entzog. Er umwarb sie wie keine andere. Und natürlich war es ihr unmöglich, ihm zu widerstehen. Die Tage und Nächte vergingen wie in einem Rausch. Dann kam Boerris letzter Drehtag. Am Nachmittag würde er abreisen. Zum ersten Mal war Nora die ganze Nacht bei ihm geblieben. Sie wachten gleichzeitig auf, und Nora betrachtete das Gesicht ihres Liebhabers mit schmerzlicher Intensität. Jede einzelne Linie hätte sie im Schlaf nachzeichen können. Leise fragte sie: “Werden wir uns wiedersehen, Boerris?”
Er hatte sie überrascht angesehen, dann hatte er gelacht und sich selbstzufrieden gestreckt: “Und ich dachte schon, du wärst aus Eis, selbst wenn unter dem Eis das Feuer brannte.” Mit beiden Beinen sprang er aus dem Bett, und ein wenig später rief er ihr durch das Rauschen der Dusche zu: “Nein, Schatz, ich werde nach Amerika gehen. Stell dir vor, ich habe ein Angebot aus Hollywood bekommen, und, glaub mir, ich werde meine Chance zu nutzen wissen. Mein Leben wird jetzt erst richtig anfangen!”
“Ich könnte mitkommen, ich könnte dir helfen.”
Seine Stimme klang schon gelangweilt: “Das ist gut gemeint, aber – ich bin nun einmal ein Jäger, kein Wild. Ich mag es nicht, wenn Frauen klammern.”
Sie hatte still das Zimmer verlassen. Er sollte nicht sehen, dass Schmerz und Enttäuschung ihr beinahe das Herz zerrissen. Am Nachmittag richtete Nora es so ein, dass sie nicht da war, als er abreiste …
Er hatte dann tatsächlich Karriere in Hollywood gemacht. Weltweit strömten die Menschen in Scharen in seine Action-Filme. Und jetzt wollte er, dass sie Fotos von ihm machte! Es nützte nichts, dass sie sich dagegen wehrte: Sie fieberte dem Wiedersehen entgegen, und gleichzeitig fürchtete sie sich davor.
Joost schenkte Sekt nach: “Ich habe dir nie gesagt, dass ich dich liebe”, sagte er endlich schwerfällig, “und jetzt ist es vielleicht zu spät.”
Zutiefst überrascht sah sie ihn an. Jetzt erinnerte sie sich an die vielen kleinen Anzeichen, die ihr seine Gefühle hätten verraten können: Seine bewundernden Blicke, seine liebevolle Fürsorge. Joost hatte sie gepflegt, als sie im letzten Winter eine schwere Grippe hatte. Er hatte sie energisch ins Bett gesteckt und den Arzt gerufen. Ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie so schnell wieder auf die Beine gekommen war. Bei Joost fühlte sie sich geborgen, in Sicherheit. Er war ein Mann, von dem jede Frau nur träumen konnte. Er war der Mann, von dem sie selbst geträumt hatte – ehe Boerris wie ein Sturmwind über ihr Leben hinweggefegt war.
“Joost, ich …” Sie wollte sich entschuldigen, weil sie so begriffsstutzig gewesen war, aber er kam ihr zuvor: “Bitte, sag jetzt nichts. Sag mir nur, ob du ihn noch immer liebst.”
“Ich weiss nicht einmal, ob es Liebe ist”, erwiderte sie verzweifelt. “Und ich weiss auch nicht genau, warum er mich kommen lässt. Vielleicht will er tatsächlich nur, dass ich Fotos von ihm mache? Vielleicht wird er wieder Katze und Maus mit mir spielen? Ich weiss nur, dass ich ihn wiedersehen muss.”
Sie wollte nicht, dass Joost sie zum Flughafen brachte, wollte ihm nicht noch weher tun. Er bestand darauf, wenigstens ihr Gepäck bis zum Taxi zu tragen. Zum Schluss nahm er sie fest in die Arme: “Nora, ich wünsche dir von Herzen, dass du glücklich wirst”, sagte er.
Ihr stiegen auf einmal Tränen in die Augen: “Joost, es wäre schrecklich für mich, dich als Freund zu verlieren.”
“Das wirst du nicht. Du wirst immer auf mich zählen können.”
“Und du auf mich.”
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Im Flughafen von Los Angeles wartete Boerris’ Chauffeur auf sie. In einer Luxuslimousine fuhr er sie ins Hotel, wo eine Suite für sie reserviert war. Auf dem Tisch stand ein riesiger Strauss roter Rosen. Ihre Hand zitterte, als sie die beigefügte Karte herauszog: “Danke, dass du gekommen bist, liebste Nora. Bitte, iss mit mir zu Abend. Ich werde um acht Uhr in der Bar des Hotels auf dich warten”, schrieb Boerris.
Er sah noch besser aus als in seinen Filmen, aber sie wusste, dass auch sie sich sehen lassen konnte. Sie trug ein hinreissend elegantes Kleid aus schwarzem Seidencrêpe mit einer rosa Rose im Gürtel. Das dunkle Haar hatte sie hochgesteckt, ihr schönes Gesicht war diskret geschminkt.
Er begrüsste sie mit einem Wangenkuss und half ihr galant auf den Barhocker. Dabei behielt er ihre Hand ein wenig länger in der seinen, als es nötig gewesen wäre. Das Glas Whisky, das vor ihm stand, war fast leer.
“Was möchtest du trinken?” fragte er.
“Einen Martini, bitte.”
“Einen Martini, und für mich noch einen doppelten Whisky”, wandte er sich auf amerikanisch an den Barkeeper, der rasch das Gewünschte vor sie hinstellte.
“Wenn du möchtest, dass die Fotos morgen gut werden, pass ein bisschen auf mit dem Trinken”, warnte sie ihn.
“Was hat das schon zu bedeuten? Natürlich werden wir die Fotos machen, aber wichtiger ist für mich das Wiedersehen mit dir!”
“Warum, Boerris, warum … nach all den Jahren?” fragte sie später, als er nach dem erlesenen Mahl noch eine Flasche Champagner kommen liess.
“Weil du die Einzige bist, die ich nie vergessen konnte. Weil ich die Abenteuer leid bin. Alle Frauen, mit denen ich geschlafen habe, waren nichtssagend, langweilig, auswechselbar. Du bist die einzige Frau, die ich kenne, die Format hat, die stark ist. Wir sind uns ebenbürtig, Nora.”
Er fragte sie nicht, ob es einen Mann in ihrem Leben gab, so siegesgewiss schien er zu sein. Und hatte er nicht Recht? War sie nicht sofort gekommen, als er nur mit dem Finger schnippte?
Er nahm ihre Hand, strich sanft darüber. “Bleib bei mir, Nora. Ich brauche dich. Ich habe eine riesige Villa, viel zu gross für mich allein. Wir werden zusammen Partys geben, wir werden uns amüsieren. Du hast mir damals vorgeschlagen, mich nach Hollywood zu begleiten, erinnerst du dich? Wenn du möchtest, heiraten wir.”
Sie sah in seinem Gesicht die Spuren, die zuviel Alkohol, zuviele Frauen, und eine Einsamkeit, die immer grösser wurde, hinterlassen hatten. Sanft sagte sie: “Ja, Boerris, damals hätte ich es sofort gemacht, jetzt brauche ich ein bisschen Bedenkzeit.”
“Überleg es dir nicht zu lange”, warnte er. Das war wieder der alte Boerris. Die Wechselbäder der Gefühle. Schmeichelei und sogar Aufrichtigkeit, gefolgt von einer Drohung wie ein schmerzender Tatzenhieb.
Boerris hatte den ganzen Abend mehr getrunken, als ihm gut tat. Es war weit nach Mitternacht, als er sie bis zu ihrer Suite begleitete. Er schloss auf, hob sie hoch wie eine Feder, trug sie bis zum Bett und legte sie darauf nieder. Sie spürte seinen Mund auf ihrem Hals, seine Hände überall auf ihrem Körper, schliesslich seine Lippen auf den ihren. Wie eine scharfe Stichflamme schoss die Lust durch ihren Leib. Unwillkürlich stöhnte sie auf. Aber dann sah sie sein verzerrtes Gesicht mit den geschlossenen Augen. Und plötzlich dachte sie an Joost, an die tiefe Zärtlichkeit in seinen grauen Augen. Wenn Joost sie ansah, wenn er mit ihr sprach, meinte er wirklich sie damit. Wie aufrichtig, wie tief empfunden war seine Liebeserklärung an sie gewesen. Boerris dagegen hatte ihr kein einziges Mal gesagt, dass er sie liebte. Er war wahrscheinlich gar nicht zu wahrer Liebe fähig. Seit jeher nahm er sich rücksichtslos, was er brauchte – und im Allgemeinen bekam er es.
Die Erregung in ihrem Körper klang ab. Sie stemmte die Arme gegen seine Brust und bat: “Boerris, nicht.”
Endlich schlug er die Augen auf. Sie waren gefährlich schmal: “Was soll das? Was ist los?”
“Ich hatte dich um Bedenkzeit gebeten, und du stürzt dich auf mich …”
“Du hattest nichts dagegen, scheint mir.”
“Nein”, erwiderte sie beschämt, “aber, siehst du, es gibt jemanden zu Hause, einen anderen Mann.”
“Das fallt dir aber spät ein!” Boerris konnte sich kaum zügeln vor Wut. Einen Augenblick fürchtete sie, er würde sie schlagen, trotzdem sah sie ihm fest in die Augen: “Du hast Recht, bitte verzeih mir, Boerris.”
Lange herrschte Schweigen. Endlich brachte Boerris ein schiefes Grinsen zustande: “Es ist das erste Mal, dass ich gegen einen anderen Mann verliere. Nun, es wurde wohl Zeit.”
“Du bist nicht böse?”
Er zuckte die Achseln, hatte sich schon wieder in der Gewalt: “I wo, das gehört schliesslich zum Leben.”
“Vielleicht möchtest du jetzt nicht mehr, dass ich die Fotos von dir mache?”
“Natürlich machst du sie. Ich brauche ein Poster für meine Fans.” Er war aufgestanden, brachte seine Kleider in Ordnung und ging zur Tür: “Morgen um acht, ist dir das recht? Ich hole dich ab. Gute Nacht, Nora.” In der Tür blieb er noch einmal stehen. Sie sah, dass es ihm schwer fiel, diesen letzten Satz zu sagen: “Und noch etwas: Dieser andere Mann ist ein Glückspilz.”
Vor ihrem Rückflug hatte sie Joost angerufen, ihm ehrlich alles erzählt und ihn gebeten, sie vom Flughafen abzuholen. Als sie ihn hinter der Absperrung sah, mit diesem Ausdruck voll zärtlicher Liebe im Gesicht und einem bunten Blumenstrauss, bunt wie das Leben selbst, überflutete sie eine heisse Welle des Glücks. Alles würde gut werden, sie war endlich nach Hause gekommen …
ENDE