Der Wahltag am 8. September: Kein Sieg für Nawalnyj

Alexey Navalny
Auf Nachfrage eines Lesers soll nachfolgend eine kurze Analyse der Kommunal- und Regionalwahlen, die am vergangenen Sonntag in 80 rußländischen Föderationssubjekten stattfanden, gegeben werden.
Interessant sind diese Wahlen vor allem deshalb, weil die Bestimmung der regionalen Regierungschefs (Gouverneure und Oberbürgermeister der Stadt Moskau, vergleichbar den Ministerpräsidenten der deutschen Länder) nicht mehr, wie seit 2004, von den Parlamenten durchgeführt wird (wie auch in der BRD), sondern diese Amtsträger wieder direkt vom Volk gewählt werden. Die Bürger der Stadt Moskau, um vorerst bei diesem Beispiel zu bleiben, besitzen also ein demokratisches Recht, welches den Bürgern der deutschen Städte Berlin, Hamburg und Bremen seit Jahrzehnten vorenthalten wird. Denn dort - wie in allen deutschen Ländern - werden die Regierungschefs (Regierender Bürgermeister etc.) von der Legislative und nicht vom Volk gewählt. Dies sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man die Berichterstattung der deutschen Medien betrachtet.
Das Hauptergebnis der Wahlen vom letzten Sonntag ist für viele Deutsche wieder einmal überraschend: Die Partei Einiges Rußland, die auch Präsident Wladimir Putin stützt, hat vielerorts gewonnen. Und das nicht aufgrund von Wahlbetrug (wo sind eigentlich die Beweise für die angeblichen Betrügereiene 2011/2012?), sondern weil die Bürger es zu einem großen Teil so wollen. Letzteres müssen auch deutsche Kommentatoren zähneknirschend eingestehen.
Bei der am stärksten beachteten Wahl des Oberbürgermeisters der 13-Millionen-Metropole Moskau konnte sich der Amtsinhaber Sergej Sobjanin gegen fünf Konkurrenten durchsetzen. Deren erfolgreichster war der Jurist, ehemalige Staatsbeamte, Geschäftsmann und Blogger Alexej Nawalnyj, der für die Partei Parnas angetreten war und nicht als unabhängiger Kandidat, wie manche Journalisten behaupteten.
Die Ergebnisse im Detail: Sobjanin (Einiges Rußland) - 51,37 %, Nawalnyj (Parnas) - 27,24 %, I. Melnikow (Kommunistische Partei) - 10,69 %, S. Mitrochin (Jabloko) - 3,51 %, M. Degtjarjow (Liberaldemokratische Partei) - 2,86 %, N. Lewitschew (Gerechtes Rußland) - 2,79 %.
Die Wahlbeteiligung war mit 32 % sehr niedrig. Die landesweiten Sommerferien sind erst am 1. September zuende gegangen und viele Bürger, vor allem Rentner, sind noch im Urlaub oder verbringen das Wochenende in ihren Sommerhäusern. Dieser Umstand hat nach Ansicht von Beobachtern vor allem den Kandidaten von KPRF und ER geschadet. Sie konnten ihr theoretisches Wählerpotential nicht hinreichend mobilisieren.
Die niedrige Wahlbeteiligung relativiert auch den Erfolg von Nawalnyj, den die deutschen Medien so bejubeln, stark. Nawalnyj konnte zwar seine Anhänger besser mobilisieren als Sobjanin oder Melnikow, doch sind seine 27 % bei Lichte betrachtet keineswegs so glänzend. Denn für Nawalny votierten vorgestern lediglich 632.697 Bürger. Zum Vergleich: Der ideologisch ähnlich ausgerichtete, dabei aber erheblich seriöser auftretende Präsidentschaftskandidat Michail Prochorow kam bei der Präsidentenwahl 2012 in der Stadt Moskau auf 868.736 Stimmen, was einem Anteil von 20,45 % entsprach - bei einer fast doppelt so hohen Wahlbeteiligung von 58,1 %. 
Die Begesiterung über Nawalnyjs Abschneiden ist also unangebracht. Er war nicht fähig, auch nur annähernd so viele Wähler anzuziehen wie der seinerzeitige Politnewcomer Prochorow. Außerdem hatten links-grün-liberal eingestellte Wähler vorgestern noch einen zweiten Kandidaten, dem sie ihre Stimme geben konnten. Mitrochin, Vorsitzender der Partei Jabloko, erhielt 81.493 Stimmen (3,51 %). Diese haben Nawalnyj (der früher Mitglied von Jabloko war, bis er wegen seiner rassistischen Äußerungen gehen mußte) natürlich gefehlt.
Doch auch die Addition der Ergebnisse von Nawalnyj und Mitrochin zeigt, daß sie in der Hauptstadt Prochorows Erfolg vom März 2012 nicht erreichen konnten. Das theoretische Potential einer "liberalen" politischen Kraft, das von Soziologen für Moskau auf etwa 20 bis 30 % der Bürger geschätzt wird, konnte mithin am besten nur der von seinen Konkurrenten als "Werkzeug des Kremls" verunglimpfte Prochorow mobilisieren. Offenbar wollten viele von Prochorows Wählern nicht für Nawalnyj stimmen, weil sie - trotz aller Abneigung gegen Putin und dessen Gefolgsleute - Nawalnyjs rabaukenhaftes Auftreten und seine rechts- und linksextremen Positionen nicht goutieren.
Doch welche Bedeutung hat das Abschneiden von Nawalnyj? Realpolitisch war es, wie eben dargestellt, keineswegs der glänzende Sieg, den viele ausländische Kommentatoren ihm andichten. Wenn jemand sogar meint, Nawalnyj würde jetzt für Präsident Putin "richtig gefährlich", dann liegt dem eine erhebliche Überschätzung sowohl von Nawalnyjs Person und Programmatik als auch eine Fehleinschätzung der Stimmung im Volk zugrunde.
Die wahre Bedeutung des Wahlergebnisses besteht darin, daß sich Nawalnyj nunmehr als Führer der radikalen Anti-Putin-Kräfte sehen darf. Immerhin haben 632.000 von 7,25 Millionen wahlberechtigten Moskowitern für ihn gestimmt. Das ist mehr, als sein früherer Parteichef Mitrochin, aber auch weitaus mehr, als die ganzen übrigen Radikalinskis wie Kasparow, Nemzow, Limonow & Co., die uns von den deutschen Medien als bedeutende Oppositionsführer verkauft worden sind. Nawalny kann nunmehr von sich behaupten, daß er eine reale Gefolgschaft außerhalb der virtuellen und oft sektenartigen außerparlamentarischen Opposition hat. Diese Gefolgschaft ist sehr klein und auf Moskau (und andere Großstädte) beschränkt, aber sie ist immerhin vorhanden.
Das heißt, daß in nächster Zeit wohl neue Machtkämpfe innerhalb der APO ausbrechen werden. Nawalnyj wird versuchen, sich als großer Führer durchzusetzen. Es bleibt abzuwarten, wie die vielen anderen Egozentriker und teilweise selbsernannten Chefs darauf reagieren werden. Denn die geschlossene "demokartische Opposition" gegen die Regierung ist eine Schimäre. In den letzten anderthalb Jahren hat sich deren Gefolgschaft stark reduziert. Bereits im Frühjahr 2012 haben sich viele der rechten/patriotischen/konservativen Putin-Gegner von den sog. Liberalen zurückgezogen, nachdem diese lautstark Partei für die Chaotinnen von Pussy Riot ergriffen und sich selbst durch ihr Verhalten als Agenten des Auslands geoutet hatten (eines förmlichen Gesetzes hätte es dafür gar nicht bedurft). Doch damit fehlt Nawalnyj und seinen Genossen die Massenbasis, wie sich auf den "Großdemonstrationen" der letzten Zeit gezeigt hat.
In der realen politischen Landschaft ist von Nawalnyj nicht mehr viel zu erwarten. Er taugt bestenfalls als Populist, der die verschiedensten Stimmungen und Ressentiments für sich nutzbar macht. Er versucht, mit sozialer Polemik im Revier der Kommunisten zu wildern. Mit rassistischer Rhetorik, die sich vor allem gegen nicht-russische Bürger Rußlands (insbesondere aus dem Nordkaukasus) und damit gegen den multiethnischen Charakter des Staates richtet, sollen national denkende Wähler geködert werden. (Daher stimmt es nicht, wenn die ARD behauptet, Nawalny würde die "Ausländerfrage" ansprechen. Es geht um Inländer, die besonderen, ethnisch definierten Beschränkungen unterworfen werden sollen. Im Moskauer Wahlkampf hatte Nawalnyjs Rassismus noch eine Spitze gegen den Amtsinhaber Sobjanin, denn dieser stammt wohl auch von Ureinwohnern des Gebietes Tjumen ab.)
Dieses Gebräu wurde noch mit ein wenig Wirtschaftsliberalismus für die Mittelschicht angereichert. Doch all das hat ihm bei der Wahl am Sonntag ebensowenig geholfen wie sein betont legeres Auftreten. Nawalnys wirre Programmatik wird nur durch eines zusammengehalten: die Gegnerschaft zu Präsident Putin. Doch diese allein wird längerfristig nicht ausreichen, um bei Wahlen zu punkten. Zumal es schon genügend seriöse politische Kräfte sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums gibt.
Und die Mitte ist nach wie vor von Putin und Einiges Rußland besetzt. Die einzige ernstzunehmende liberale Partei i.e.S. ist Prochorows Bürgerplattform. Nachdem Prochorow im letzten Jahr die Parole ausgegeben hatte, zunächst auf regionaler Ebene zu arbeiten, stellen sich nun erste Erfolge ein. Die Partei stellt mittlerweile mehrere Bürgermeister, darunter der am Sonntag in Jekaterinburg gewählten Jewgenij Rojsman, der mit 30 % der Stimmen mehr Zustimmung erhielt als sein Konkurrent von ER, der auf 26,5 % kam. Doch Rojsman war schon vorher in seiner Stadt bekannt, wo er sich u.a. gegen Drogenhändler engagiert hatte. Er wurde also wegen seiner realen Tätigkeit in der Kommune gewählt, nicht (nur) wegen seiner Gegnerschaft zu Putin. 
Damit steht die Bürgerplattform für eine andere Herangehensweise als die APO um ihren Gröfaz Nawalnyj. Hier eine durchdachte Programmatik und logisches Argumentieren, dort wilder Populismus und lautstarker Krawall. Wenn sich Prochows Bürgerplattform weiter so entwickelt, dürfte sie in einigen Jahren tatsächlich eine der wichtigsten Parteien in Rußland sein. Nawalnyj taugt nur als Person, um allgemein unzufriedene Protestwähler anzuziehen. Ein attraktives Programm hat er nicht zu bieten. Deshalb dürfte seine Partei Parnas, ebenso wie die zahlreichen anderen Klein- und Kleinstparteien, auch in Zukunft kaum nennenswerte Bedeutung im politischen Leben des Landes besitzen. Ihre Bedeutung liegt zuvörderst in ihrer (Selbst-)Darstellung gegenüber dem Ausland.
Aus Nawalnyj kann nichts konstruktives mehr werden. Er ist, wie viele seiner APO-Genossen, in einem Paralleluniversum gefangen. Diese Leute sehen sich selbst als bedeutende Politiker, die dem rußländischen Volk die Freiheit bringen wollen. Wenn dieses Volk sie nicht wählt, dann reagieren sie mit dem - meist unbelegten - Vorwurf von Wahlfälschungen und/oder, wie 2012, mit Wählerbeschimpfung und Bürgerkriegsdrohungen. Auch gestern konnte Nawalnyj der Versuchung nicht widerstehen, das Bild eines Bürgerkrieges zu beschwören und von umgestürzten Autos und Bränden zu schwärmen.
Jedenfalls kann die Mehrheit der Bürger mit diesen Politikern und ihrer Ideologie nichts anfangen. Deshalb sind diese Menschen für die "Liberasten" eine vernachlässigbare Größe. Die sog. außerparlamentarische demokratische Opposition ist nicht nur eine Minderheit in der politischen Landschaft, sie vertritt auch nur die Interessen eines sehr kleinen Teils des Volkes. Darin unterscheiden sie sich von allen in der Staatsduma vertretenen Parteien (und auch von der Bürgerplattform), die einer eher inklusiven Programmatik folgen.
Abschließend noch eine Bemerkung zur Berichterstattung der deutschen Medien. Es ist schon bemerkenswert, mit wieviel Wohlwollen und Sympathie Nawalnyj von ihnen bedacht wurde. Dabei sind dessen migrationsfeindliche Einlassungen weitaus schärfer als alles, was man z.B. von Thilo Sarrazin je gehört hat. Gegen letzteren wurde jedoch eine Kampagne geführt und er verlor seinen Job (schöne Meinungsfreiheit à la BRD), während man Nawalnyj zujubelt. Wenn Parteien wie der Front National in Frankreich oder Jobbik in Ungarn Wahlerfolge feiern, wird in den deutschen Medien heftig die Nazikeule geschwungen. Doch wenn es Rassist (sei er auch ökonomisch motiviert, wie manche von Nawalnys Anhängern meinen) in Rußland Stimmen gewinnt, dann herrscht eitel Freude.
Offenbar ist hierzulande der Haß auf Wladimir Putin so groß, daß man sogar wie anno 1917 einen neuen Lenin unterstützen würde (inklusive neuem Roten Terror), nur um den derzeitigen Präsidenten loszuwerden. So wurde im deutschen Staatsfernsehen auch verbreitet, Nawalnyjs Partei Parnas würde die Registrierung verweigert. Dem ist jedoch nicht so. Seit Frühjahr 2012 ist Parnas beim Justizministerium der RF als politische Partei registriert. Nun ja, die übliche Desinformation eben.

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