Der Wählerentscheid und die Verantwortung

Von Stefan Sasse
@Korbinian hat auf Twitter einen mehr als interessanten Gedanken formuliert, an dem ich eine ganze Weile hängen geblieben bin: Der Wählerentscheid und die VerantwortungEr bezog sich aufs Kinderwahlrecht, wie aus dem Hashtag hervorgeht, aber darum soll es hier gar nicht gehen. Viel mehr ist die Aussage auf eine andere Art und Weise interessant, nämlich für den viel geforderten Volksentscheid zumindest in wichtigen, umstrittenen Maßnahmen. Man denke an Stuttgart21, den Fiskalpakt oder den Dauerbrenner der Legalisierung von Marihuana (/Ironie). Das Demokratiedefizit besonders bei der Holterdipolterverabschiedung von Maßnahmen wie dem Fiskalpakt und anderen Krisengesetzen wurde oftmals krisitiert, und nicht zu Unrecht. Was aber folgt aus @Korbinians Satz? 
Nehmen wir einmal an, eine neue Krisenwelle rollt heran. Irgendwelche Länder in Europa brauchen irgendwelche Sofortmaßnahmen, die BILD trommelt dagegen, die Stimmung im Volke schwärt, in den Parteien artikulieren sich Abweichler à la Bosbach und Schäffler, und es gibt keine Mehrheit für irgendeine Maßnahme. Man kommt also auf die clevere Idee, die Regierungsvorlage einfach einer Volksabstimmung zu unterwerfen. Der Souverän höchstselbst entscheidet dann in einer Sache, die unglaublich wichtig ist und die Grundrechte des Landes und damit jedes Einzelnen direkt berührt. Eine Sternstunde der Demokratie, quasi. Aber genau das wäre es nicht. Es wäre ein riesiger Betrug des Parlaments am Wähler. Denn wie @Korbinian richtig gesagt hat, die Wähler sind nicht verantwortlich. Ihre gewählten Vertreter aber sind es sehr wohl. In unserem fiktiven, aber keinesfalls unplausiblen Beispiel würde die Vorlage mit überwältigender Mehrheit durchfallen, Deutschland würde die Hände im Schoß falten und die Geschehnisse in der EU nähmen einen Gang, der weder vorhersehbar noch irgendwie durch die deutsche Politik beeinflusst wäre. Das Zurückgreifen auf einen Volksentscheid ist Feigheit des Parlaments, eine Flucht aus der Verantwortung. Es war bereits bei S21 so, als sich die Regierung nicht einigen konnte. Es ist eigentlich jedes Mal so. 


Das führt uns zu der aktuellen Debatte um die geplante Reform des Rederechts im Parlament. Frank Lübberding hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Lage so klar, wie das in den aktuellen Medienartikeln zum Thema dargestellt wird, keinesfalls ist. Man muss ihm Recht geben. Das Parlament war nie ein Ort, an dem irgendwelche rhetorischen Schlachten um die beste Lösung ausgetragen wurden. Die Bildung von Fraktionen und die Einhaltung von Fraktionsdisziplin (siehe auch hier) ist keine schlechte Sache. Die Weimarer Republik scheiterte unter anderem am Fehlen eines Fraktionszwangs; die Regierungen brauchten absurd hohe Mehrheiten, weil bei Abstimmungen regelmäßig ein Teil der Abgeordneten anders abstimmte, als die Regierung das wollte. Das ständige Auseinanderbrechen der Regierungen und die Instabilität der ersten deutschen Demokratie gehen Hand in Hand.


Abgeordnete sind dem Wähler verantwortlich. Die Wähler selbst sind niemandem verantwortlich, außer ihrem Gewissen. Ich habe hier im Blog bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass im deutschen Wahlsystem Parteien gewählt werden und keine individuellen Abgeordneten. Niemand hat Herrn Schäffler direkt in den Bundestag gewählt, weil er davon ausging, dass der Mann so grandiose Ideen hat. Er wurde über die Liste der FDP gewählt, und die FDP wurde gewählt, weil man sich von ihr eine bessere Regierung erhoffte. Die ständig bemühte Unabhängigkeit des Abgeordneten ist ein Witz. Noch nie ist in Deutschland ein unabhängiger Kandidat gewählt worden. Versuche hat es genug gegeben. Das Gewissen des Abgeordneten erlaubt ihm, anstatt dem Abstimmen über eine Maßnahme die er für falsch hält, jederzeit zurückzutreten. Es erlaubt ihm nicht, sich einfach über den demokratisch legitimierten Willen der Mehrheit hinwegzusetzen. Man erinnere sich an Ypsilantis Untergang 2008 - Niemand hatte die vier Rebellen damals dafür gewählt, sich Ypsilanti in den Weg zu stellen. Die Repräsentanten des Volkes stellen sich ihrem Souverän bei Wahlen und übernehmen hier direkt die Verantwortung für ihr Tun. Darum kommen sie nicht herum, und das kann und darf ihnen niemand abnehmen.


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