Von Stefan Sasse
RTL hat ein unschönes Erkenntnis-Erlebnis. Anlässlich der Gamescom, einer Art Videospielmesse in Köln, erstellte das RTL-Magazin "Explosiv", das stets mit relevanten Nachrichten und guter Recherche aufzuwarten weiß, einen Beitrag. In der üblichen tendenziösen Machtart gedachte man, ein bisschen auf Minderheiten herumzutrampeln und gemeinsam mit den Zuschauern Hohn und Spott über eine Randgruppe auszuschütten. Man fröhnte also in anderen Worten dem üblichen Geschäftsmodell. Dumm nur, dass man sich fundamental verschätzt hatte: die Gamer, die man mit Bildern der absurdesten Exemplare ins Lächerliche zu ziehen hoffte, sind nämlich keine Randgruppe mehr. Noch zu Beginn der 2000er Jahre konnte Gerhard Schröder ungestraft Punkte sammeln, indem er die Indizierung und am besten gleich Verbot und Beschlagnahmung für das Spiel "Counter-Strike" forderte, bei dem es nach einhelliger Presserecherche etwa der FAZ hauptsächlich darum ging, Punkte durch das Erschießen von Großmüttern und Kinderwägen zu erzielen.
Nur, diese glorreichen Zeiten des gedruckten Qualitätsjournalismus sind zehn Jahre her. Schon der damalige tendenziöse FAZ-Artikel rief einen solchen Proteststurm der Gamer-Community hervor, der sich vorrangig in verhältnismäßig seriösen Kommentaren manifestierte, dass sich die Zeitung zu einer Entschuldigung genötigt sah. Weitere Ausrutscher dieser Art fanden zwar regelmäßig weiter statt, wurden aber seltener. Besonders anlässlich von Amokläufen feierten sie immer wieder ihr Stelldichein; zuletzt durften wir erfahren, dass Breivik seine Tat im Ego-Shooter (!) "World of Warcraft" plante (wie auch immer er das gemacht haben will). Nun hat auch RTL als Reaktion auf seinen Beitrag einen wahren Shitstorm erlebt, musste sich offiziell entschuldigen und - das ist neu - wurde sogar von den Mainstreammedien für seine Quatsch-Berichterstattung auf dem Sektor abgewatscht. Das hat, ich erwähnte es, mit den vergangenen zehn Jahren zu tun. RTL stolperte hier mit seinem "Explosiv"-Team über den demographischen Faktor.
Inzwischen ist eine ganze Generation erwachsen, die mit Videospielen aufgewachsen ist. Auch haben inzwischen viele Menschen Zugang zu Spielen gefunden, die schon ein wenig älter sind, was wohl auch auf die großen Erfolge der auf familienfreundlich getrimmten Wii zurückgeht. Im Durchschnitt ist der deutsche Videospieler inzwischen 31 und die Geschlechterverteilung fast bei 50:50 angelangt. Das alte Bild vom männlichen, jugendlichen Kellerkind trifft einfach nicht mehr zu. Das Spielen von Videospielen ist mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen und keinesfalls mehr eine Beschäftigung einer leicht ein- und ausgrenzbaren Randgruppe. Auch ist die Bandbreite von Spielen deutlich größer geworden: wir reden hier nicht nur vom klassischen PC-Spiel oder Konsolenspiel, sondern auch von den zahllosen Handy- und Facebookspielen, die einen elementaren Anteil an der Verbreitung des Hobbys haben.
Nur um ein kurzes Beispiel eines in Deutschland weitgehend übersehenen Wandels zu geben: die E-Sport-Szene, die in Korea ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hat, wird inzwischen auf Fernsehkanälen live übertragen und lässt die Athleten um Preisgelder im fünfstelligen Dollarbereich kämpfen. Viele Spieler haben das professionelle Spielen inzwischen zu ihrem Beruf gemacht. Der Trend wird derzeit in den USA ebenfalls stärker, wo der durchschnittliche Spieler 37 Jahre alt und der Anteil der über 50-jährigen mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland ist. Diverse Sportbars im ganzen Land übertragen inzwischen mit großem Zuspruch neben Football und Basketball auch StarCraft II, wie das Wallstreet Journal berichtet. Eine eigene Studie beschäftigt sich mit der Frage, was StarCraft II überhaupt zum Zuschauen interessant macht.
Diese Entwicklung wird, wenngleich mit Verzögerung, vermutlich auch Deutschland erreichen. Die Bundesrepublik ist ein Phänomen auf dem weltweiten Spielemarkt. Nirgendwo sonst wird so rigide zensiert wie hier, sind die Vorurteile so beständig und aggressiv wie hier, und ist zugleich der Markt so wichtig, dass trotz dieser Faktoren die Spielefirmen große Mühen auf sich nehmen. Wie sonst ist es zu erklären, dass es von Actionspielen fast immer zwei Versionen gibt - eine für Deutschland und eine für den Rest der Welt? Der deutschen Zensurschere fallen regelmäßig Darstellungen von Gewalt zum Opfer; bisweilen aber nimmt die Zensur übertriebene Formen an: aus "Call of Duty: Black Ops" etwa wurde ein im Hintergrund dudelnder Rolling-Stones-Song "Dancing with the devil" entfernt, weil der Text des Lieds im Bezug zum Geschehen für Jugendliche verstörend sein könnte. Ernsthaft, ich erinnere mich nicht einmal mehr daran dass überhaupt ein Rocksong in diesem Spiel lief, geschweige denn dass ich in dem spezifischen, echt nervigen Level den Nerv gehabt hätte die Lyrics im Hinterkopf zu übersetzen und zum Geschehen in Bezug zu setzen.
An der deutschen Zensurpraxis zeigt sich auch erneut das deutsche Vorurteil, dass Spiele eine Beschäftigung der Jugend währen, denn die solcherart entschärften Versionen sind oftmals die Einzigen, die im Handel erhältlich sind. Warum ich aber Geld für die deutsche Version von Bulletstorm ausgeben sollte, entzieht sich vollständig meinem Verständnis. So oder so wird das Vordringen von Videospielen in alle Gesellschaftsschichten ein kaum aufzuhaltender Prozess sein und dürfte auch in Zukunft Formen annehmen, wie sie derzeit kaum vorhersehbar sind. Wer beispielsweise hätte noch vor fünf Jahren den Erfolg der Facebook-Spiele oder der Spiele-Apps auf Smartphones auf der Platte gehabt? Oder die beiden Plattformen überhaupt, davon einmal ganz abgesehen?
Videospiele haben sich in den letzten Jahren enorm diversifiziert und weiterentwickelt. Die Evolution ist aber noch lange nicht am Ende. Zwar hat inzwischen jeder, der irgendwie mit dem Internet in Verbindung steht Spiele zur Verfügung, ob auf Smartphone, Facebook oder Browser, aber Spiele könnten noch in völlig andere Lebensbereiche vorstoßen und tun dies teilweise bereits. Einige Softwareentwickler, die auf der Seite "The Escapist" die Videokolumne "Extra Credits" betreiben, haben diese Entwicklung unter dem Schlagwort "Gamification" vorausgesagt und besprochen. Kurz zusammengefasst bedeutet Gamification, dass die Grundprinzipien von Spielen auf andere Lebensbereiche übergreifen und diese bereichern - beispielsweise indem ein Barcodescanner eine Art interne Fortschrittsanzeige erhält, die das Durchführen einer Inventur gleich viel spannender gestaltet. Extra Credits haben Recht wenn sie sagen, dass der Arbeitsalltag auf einem katastrophal rückständigen Niveau der Langeweile und Abgehobenheit existiert und psychologische Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte über Motivation geflissentlich ignoriert werden - ebenso wie im pädagogischen Bereich, nebenbei bemerkt.
Da technische Entwicklungen en detail praktisch unmöglich zu prognostizieren sind, kann man nur über grundsätzliche Möglichkeiten, nicht aber über die genaue Ausgestaltung sinnvoll nachdenken. Warum aber sollte es undenkbar sein, alltägliche Aufgaben sinnvoll in Spiele zu integrieren? Der Siegeszug des Mikrochips wird dessen Verbreitung in alle möglichen Geräte so oder so begünstigen. Staubsauger und Geschirrspüler, die bei der Benutzung Punkte verteilen, wären eine Motivationsspritze der ganz anderen Art für den Nachwuchs, sich an den Haushaltsarbeiten zu beteiligen. Und die psychologischen Studien zeigen, dass bereits solch primitven Systeme funktionieren. Der Mensch funktioniert so.
Das zeigt der bisherige Fortschritt von Gamification in der Werbeindustrie, der zugleich gewissermaßen die dunkle Seite einer potenziell positiven Entwicklung darstellt. Denn all diese psychologischen Erkenntnisse können auch dazu benutzt werden, um das Konsumverhalten der Menschen, und hier besonders der gegenüber solchen Strategien sehr verwundbaren Jugendlichen, entscheidend zu steuern. Payback-Karten und das Monolopy-Spiel von McDonalds zeigen bereits einen ersten Vorgeschmack darauf, wie das gehen könnte. Der feuchte Traum jedes Marketingspezialisten ist es, das bewusste Ansehen von Werbung durch die Kunden begehrenswert und spannend zu gestalten. Das könnte zu einer wahren und angsteinflößenden Revolution der Werbung führen.
Es macht wenig Sinn, diese Implikationen zu beklagen und zu hoffen, dass mit ein paar geschickten Regulierungsgesetzen oder dem Glauben an die Integrität familiärer Erziehung diese Probleme präventiv bekämpft werden können. Die Marketingleute sind viel zu kreativ, um sich von ein paar Regeln auf einem so erfolgversprechenden Pfad abhalten zu lassen, und der Glaube an die pauschale moralische Überlegenheit von Familien kann tatsächlich jeden Tag auf RTL erschüttert werden. Es scheint vielmehr angebracht, die positiven Potentiale zu ergreifen und selbst in der alltäglichen Erziehung der nächsten Generation zu nutzen. Ich erinnere mich noch daran, wie uns auf der Grundschule die Tricks der Supermärkte und Werbefirmen beigebracht wurden, mit denen Süßkram möglichst attraktiv erscheinen sollte. Solche Erziehung bräuchte es dann für die Werbeformen der nächsten Generation ebenfalls.
Dies kann am besten funktionieren, wenn Gamification genutzt wird, um die Schule interessanter zu machen. Extra Credits haben einige Beispiele dafür exemplarisch auseinandergenommen, und es kann definitiv funktionieren. Im Idealfall würde Gamification tatsächlich dazu führen, dass sich Kinder und Jugendliche spielerisch mit Lernen beschäftigen anstatt der jüngsten Zurschaustellung von sozial schwachen Familien am Pranger von RTL zu beobachten oder Instanzen bei WoW zu durchlaufen. Das allerdings würde voraussetzen, dass einerseits die dafür produzierten Spiele qualitativ ansprechend sind und an Attraktivität und Spannung mit den derzeitigen reinen Entertaintmentprodukten mithalten können. Andererseits aber müssten auch diejenigen, die meiner Generation angehören, diese Entwicklung mitmachen, denn wir wären diejenigen, die unseren Kindern den verantwortlichen Umgang mit diesen neuen Instrumenten beibringen müssten. Wir dürfen dann nicht den Fehler machen, mit Zensur und Ignoranz gegen diese Formen vorzugehen, nur weil wir sie nicht verstehen, wie es 20 verlorene Jahre lang mit dem Videospielsektor geschehen ist. Dies führt nur zur Bildung einer eigenständigen, nicht mehr voll integrierten Welt - und damit genau dem Szenario, dass die übereifrigen Sittenwächter verhindern wollen.
Links:SpOn - Spieler verspottetCNN - KoreaboomGames reportComputer Bild - Zensur in SpielenWall Street Journal - Barcraft Extra Credits - GamificationExtra Credits - Games in education
PS: Wenn jemand von euch StarCraft II spielt - meine Email-Adresse im Impressum ist auch meine BattleNet-Adresse. :)
RTL hat ein unschönes Erkenntnis-Erlebnis. Anlässlich der Gamescom, einer Art Videospielmesse in Köln, erstellte das RTL-Magazin "Explosiv", das stets mit relevanten Nachrichten und guter Recherche aufzuwarten weiß, einen Beitrag. In der üblichen tendenziösen Machtart gedachte man, ein bisschen auf Minderheiten herumzutrampeln und gemeinsam mit den Zuschauern Hohn und Spott über eine Randgruppe auszuschütten. Man fröhnte also in anderen Worten dem üblichen Geschäftsmodell. Dumm nur, dass man sich fundamental verschätzt hatte: die Gamer, die man mit Bildern der absurdesten Exemplare ins Lächerliche zu ziehen hoffte, sind nämlich keine Randgruppe mehr. Noch zu Beginn der 2000er Jahre konnte Gerhard Schröder ungestraft Punkte sammeln, indem er die Indizierung und am besten gleich Verbot und Beschlagnahmung für das Spiel "Counter-Strike" forderte, bei dem es nach einhelliger Presserecherche etwa der FAZ hauptsächlich darum ging, Punkte durch das Erschießen von Großmüttern und Kinderwägen zu erzielen.
Nur, diese glorreichen Zeiten des gedruckten Qualitätsjournalismus sind zehn Jahre her. Schon der damalige tendenziöse FAZ-Artikel rief einen solchen Proteststurm der Gamer-Community hervor, der sich vorrangig in verhältnismäßig seriösen Kommentaren manifestierte, dass sich die Zeitung zu einer Entschuldigung genötigt sah. Weitere Ausrutscher dieser Art fanden zwar regelmäßig weiter statt, wurden aber seltener. Besonders anlässlich von Amokläufen feierten sie immer wieder ihr Stelldichein; zuletzt durften wir erfahren, dass Breivik seine Tat im Ego-Shooter (!) "World of Warcraft" plante (wie auch immer er das gemacht haben will). Nun hat auch RTL als Reaktion auf seinen Beitrag einen wahren Shitstorm erlebt, musste sich offiziell entschuldigen und - das ist neu - wurde sogar von den Mainstreammedien für seine Quatsch-Berichterstattung auf dem Sektor abgewatscht. Das hat, ich erwähnte es, mit den vergangenen zehn Jahren zu tun. RTL stolperte hier mit seinem "Explosiv"-Team über den demographischen Faktor.
Inzwischen ist eine ganze Generation erwachsen, die mit Videospielen aufgewachsen ist. Auch haben inzwischen viele Menschen Zugang zu Spielen gefunden, die schon ein wenig älter sind, was wohl auch auf die großen Erfolge der auf familienfreundlich getrimmten Wii zurückgeht. Im Durchschnitt ist der deutsche Videospieler inzwischen 31 und die Geschlechterverteilung fast bei 50:50 angelangt. Das alte Bild vom männlichen, jugendlichen Kellerkind trifft einfach nicht mehr zu. Das Spielen von Videospielen ist mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen und keinesfalls mehr eine Beschäftigung einer leicht ein- und ausgrenzbaren Randgruppe. Auch ist die Bandbreite von Spielen deutlich größer geworden: wir reden hier nicht nur vom klassischen PC-Spiel oder Konsolenspiel, sondern auch von den zahllosen Handy- und Facebookspielen, die einen elementaren Anteil an der Verbreitung des Hobbys haben.
Nur um ein kurzes Beispiel eines in Deutschland weitgehend übersehenen Wandels zu geben: die E-Sport-Szene, die in Korea ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hat, wird inzwischen auf Fernsehkanälen live übertragen und lässt die Athleten um Preisgelder im fünfstelligen Dollarbereich kämpfen. Viele Spieler haben das professionelle Spielen inzwischen zu ihrem Beruf gemacht. Der Trend wird derzeit in den USA ebenfalls stärker, wo der durchschnittliche Spieler 37 Jahre alt und der Anteil der über 50-jährigen mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland ist. Diverse Sportbars im ganzen Land übertragen inzwischen mit großem Zuspruch neben Football und Basketball auch StarCraft II, wie das Wallstreet Journal berichtet. Eine eigene Studie beschäftigt sich mit der Frage, was StarCraft II überhaupt zum Zuschauen interessant macht.
Diese Entwicklung wird, wenngleich mit Verzögerung, vermutlich auch Deutschland erreichen. Die Bundesrepublik ist ein Phänomen auf dem weltweiten Spielemarkt. Nirgendwo sonst wird so rigide zensiert wie hier, sind die Vorurteile so beständig und aggressiv wie hier, und ist zugleich der Markt so wichtig, dass trotz dieser Faktoren die Spielefirmen große Mühen auf sich nehmen. Wie sonst ist es zu erklären, dass es von Actionspielen fast immer zwei Versionen gibt - eine für Deutschland und eine für den Rest der Welt? Der deutschen Zensurschere fallen regelmäßig Darstellungen von Gewalt zum Opfer; bisweilen aber nimmt die Zensur übertriebene Formen an: aus "Call of Duty: Black Ops" etwa wurde ein im Hintergrund dudelnder Rolling-Stones-Song "Dancing with the devil" entfernt, weil der Text des Lieds im Bezug zum Geschehen für Jugendliche verstörend sein könnte. Ernsthaft, ich erinnere mich nicht einmal mehr daran dass überhaupt ein Rocksong in diesem Spiel lief, geschweige denn dass ich in dem spezifischen, echt nervigen Level den Nerv gehabt hätte die Lyrics im Hinterkopf zu übersetzen und zum Geschehen in Bezug zu setzen.
An der deutschen Zensurpraxis zeigt sich auch erneut das deutsche Vorurteil, dass Spiele eine Beschäftigung der Jugend währen, denn die solcherart entschärften Versionen sind oftmals die Einzigen, die im Handel erhältlich sind. Warum ich aber Geld für die deutsche Version von Bulletstorm ausgeben sollte, entzieht sich vollständig meinem Verständnis. So oder so wird das Vordringen von Videospielen in alle Gesellschaftsschichten ein kaum aufzuhaltender Prozess sein und dürfte auch in Zukunft Formen annehmen, wie sie derzeit kaum vorhersehbar sind. Wer beispielsweise hätte noch vor fünf Jahren den Erfolg der Facebook-Spiele oder der Spiele-Apps auf Smartphones auf der Platte gehabt? Oder die beiden Plattformen überhaupt, davon einmal ganz abgesehen?
Videospiele haben sich in den letzten Jahren enorm diversifiziert und weiterentwickelt. Die Evolution ist aber noch lange nicht am Ende. Zwar hat inzwischen jeder, der irgendwie mit dem Internet in Verbindung steht Spiele zur Verfügung, ob auf Smartphone, Facebook oder Browser, aber Spiele könnten noch in völlig andere Lebensbereiche vorstoßen und tun dies teilweise bereits. Einige Softwareentwickler, die auf der Seite "The Escapist" die Videokolumne "Extra Credits" betreiben, haben diese Entwicklung unter dem Schlagwort "Gamification" vorausgesagt und besprochen. Kurz zusammengefasst bedeutet Gamification, dass die Grundprinzipien von Spielen auf andere Lebensbereiche übergreifen und diese bereichern - beispielsweise indem ein Barcodescanner eine Art interne Fortschrittsanzeige erhält, die das Durchführen einer Inventur gleich viel spannender gestaltet. Extra Credits haben Recht wenn sie sagen, dass der Arbeitsalltag auf einem katastrophal rückständigen Niveau der Langeweile und Abgehobenheit existiert und psychologische Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte über Motivation geflissentlich ignoriert werden - ebenso wie im pädagogischen Bereich, nebenbei bemerkt.
Da technische Entwicklungen en detail praktisch unmöglich zu prognostizieren sind, kann man nur über grundsätzliche Möglichkeiten, nicht aber über die genaue Ausgestaltung sinnvoll nachdenken. Warum aber sollte es undenkbar sein, alltägliche Aufgaben sinnvoll in Spiele zu integrieren? Der Siegeszug des Mikrochips wird dessen Verbreitung in alle möglichen Geräte so oder so begünstigen. Staubsauger und Geschirrspüler, die bei der Benutzung Punkte verteilen, wären eine Motivationsspritze der ganz anderen Art für den Nachwuchs, sich an den Haushaltsarbeiten zu beteiligen. Und die psychologischen Studien zeigen, dass bereits solch primitven Systeme funktionieren. Der Mensch funktioniert so.
Das zeigt der bisherige Fortschritt von Gamification in der Werbeindustrie, der zugleich gewissermaßen die dunkle Seite einer potenziell positiven Entwicklung darstellt. Denn all diese psychologischen Erkenntnisse können auch dazu benutzt werden, um das Konsumverhalten der Menschen, und hier besonders der gegenüber solchen Strategien sehr verwundbaren Jugendlichen, entscheidend zu steuern. Payback-Karten und das Monolopy-Spiel von McDonalds zeigen bereits einen ersten Vorgeschmack darauf, wie das gehen könnte. Der feuchte Traum jedes Marketingspezialisten ist es, das bewusste Ansehen von Werbung durch die Kunden begehrenswert und spannend zu gestalten. Das könnte zu einer wahren und angsteinflößenden Revolution der Werbung führen.
Es macht wenig Sinn, diese Implikationen zu beklagen und zu hoffen, dass mit ein paar geschickten Regulierungsgesetzen oder dem Glauben an die Integrität familiärer Erziehung diese Probleme präventiv bekämpft werden können. Die Marketingleute sind viel zu kreativ, um sich von ein paar Regeln auf einem so erfolgversprechenden Pfad abhalten zu lassen, und der Glaube an die pauschale moralische Überlegenheit von Familien kann tatsächlich jeden Tag auf RTL erschüttert werden. Es scheint vielmehr angebracht, die positiven Potentiale zu ergreifen und selbst in der alltäglichen Erziehung der nächsten Generation zu nutzen. Ich erinnere mich noch daran, wie uns auf der Grundschule die Tricks der Supermärkte und Werbefirmen beigebracht wurden, mit denen Süßkram möglichst attraktiv erscheinen sollte. Solche Erziehung bräuchte es dann für die Werbeformen der nächsten Generation ebenfalls.
Dies kann am besten funktionieren, wenn Gamification genutzt wird, um die Schule interessanter zu machen. Extra Credits haben einige Beispiele dafür exemplarisch auseinandergenommen, und es kann definitiv funktionieren. Im Idealfall würde Gamification tatsächlich dazu führen, dass sich Kinder und Jugendliche spielerisch mit Lernen beschäftigen anstatt der jüngsten Zurschaustellung von sozial schwachen Familien am Pranger von RTL zu beobachten oder Instanzen bei WoW zu durchlaufen. Das allerdings würde voraussetzen, dass einerseits die dafür produzierten Spiele qualitativ ansprechend sind und an Attraktivität und Spannung mit den derzeitigen reinen Entertaintmentprodukten mithalten können. Andererseits aber müssten auch diejenigen, die meiner Generation angehören, diese Entwicklung mitmachen, denn wir wären diejenigen, die unseren Kindern den verantwortlichen Umgang mit diesen neuen Instrumenten beibringen müssten. Wir dürfen dann nicht den Fehler machen, mit Zensur und Ignoranz gegen diese Formen vorzugehen, nur weil wir sie nicht verstehen, wie es 20 verlorene Jahre lang mit dem Videospielsektor geschehen ist. Dies führt nur zur Bildung einer eigenständigen, nicht mehr voll integrierten Welt - und damit genau dem Szenario, dass die übereifrigen Sittenwächter verhindern wollen.
Links:SpOn - Spieler verspottetCNN - KoreaboomGames reportComputer Bild - Zensur in SpielenWall Street Journal - Barcraft Extra Credits - GamificationExtra Credits - Games in education
PS: Wenn jemand von euch StarCraft II spielt - meine Email-Adresse im Impressum ist auch meine BattleNet-Adresse. :)