Der Tod eines Ḥezbollāhis Revolutionäre Dynamik und staatliche Ordnung in der Islamischen Republik

Unter Ḥezbollāh bzw. den Ḥezbollāhis werden im Iran jene lose organisierten radikalen Kräfte verstanden, die über das ganze Land verstreut aktiv sind und deren Einfluss auf die Politik des Landes nicht unterschätzt werden darf, über die aber viel zu wenig bekannt ist. Nur über die radikale Miliz Anṣār-e Ḥezbollāh hatte man in den letzten Jahren mehr in Erfahrung bringen können. Gemeinsam mit den „werteorientierten" Kräften (arzešihā) sehen sich die einzelnen Gruppen und Individuen als Teil einer ommat-e Ḥezbollāhi also der „Gemeinschaft der Partei Gottes", wobei ommat ein Begriff ist, der eigentlich für die Gemeinschaft der Muslime reserviert ist. Und als sektenartige „eigentliche" Muslime die im scharfen Gegensatz zur lauen und schwachen - also quasi „unislamischen" -- Mehrheitsbevölkerung stehen, betrachten sie sich auch. Diese radikalen Kräfte sehen sich aufgrund ihrer vermeintlich höheren Moral dazu berufen, die Gesellschaft zu verbessern, indem sie aus eigenem Antrieb ( ḫvod-ǧuš), die islamischen Sitten und Tugenden durchzusetzen. Das aus dem Koran entnommene Prinzip hierzu lautet: „das Gute Fördern und das Schlechte unterdrücken" ( amro l-maˁruf va nahiy ˁan al-monker/amr be maˁruf va nahiy az monker).Dieser Grundsatz findet sich auch als Artikel 8 der iranischen Verfassung. In der Realität sieht dies so aus, dass selbsternannte Sittenwächter sich das Recht herausnehmen, „Sünder" zu tadeln oder zu bestrafen.

Heutzutage üben zwei Elemente die Rolle als islamische Sittenpolizei aus, der in der Öffentlichkeit fast unbekannte „Stab zur Wiederbelebung der Förderung des Guten und zur Verhinderung der Sünde ( setād-e eḥyā-ye amr be maˁruf va nahy az monker)", welcher keine Exekutive ist und aus freiwilligen Ḥezbollāhis besteht. Generalsekretär dieses Stabes ist ein gewisser Ḥoǧǧatoleslām-va-l-moslemin Zargar. Ihm verdanken wir auch die Information, dass es in Teheran 80 und über das Land verstreut fünftausend solcher Stäbe gibt, denen immer ein Rat ( šurā) zur Seite gestellt ist. Es steht zu vermuten, dass in diesen Räten Kleriker den Ton angeben, die unter anderem dafür sorgen sollen, dass die Aktionen der Ḥezbollāhis nicht aus dem Ruder laufen. Die Aufgabe dieser Stäbe besteht darin, die kulturell-ideologischen und sittlichen Werte in der Gesellschaft zu verankern. Daneben existieren die mittlerweile weltberühmten „Moralpatrouillen" ( gašt-e eršād) der Polizei und der Basiǧis, deren Mitglieder überwiegend ebenfalls aus den Reihen der Ḥezbollāhis rekrutiert werden. Die Moralpatrouillen sind vom Blickpunkt der Polizeiarbeit unwichtig, weder nützen sie in der Bekämpfung des Drogenhandels noch verhindert sie die Prostitution. Sie erfüllen aber einen doppelten, politisch-sozialen Zweck: Einerseits schüchtern sie die säkulare Mittel- und Oberschicht ein und sorgen dafür, dass der islamischen Mittel- bzw. unteren Mittelschicht (der sprichwörtliche „Süden Teherans") garantiert wird, dass ihre Wert- und Moralvorstellungen in der Islamischen Republik gelten. Darüber hinaus sollen die Moralpatrouillen verhindern, dass radikale Islamisten das Gesetz des Handelns selbst in die Hand nehmen. Allerdings wird dieses Ziel durch die Existenz des „Stabes" unterlaufen, wie der Fall ˁAli Ḫalili beweist.

Die Berichte über die Umstände unter denen ˁAli Ḫalili jene Verletzungen in der Nacht vom 25. Tir 1390/16. Juli 2011 zugefügt wurden, an denen er drei Jahre später im März 2014 starb, widersprechen sich in wichtigen Details, auf die noch einzugehen ist. Übereinstimmend heißt es, Ḫalili sei gegen Mitternacht mit befreundeten Studenten nach einer religiösen Abendveranstaltung mit seinem Moped nach Hause gefahren. Auf dem Weg trafen sie auf eine Gruppe Jugendlicher, die von Ḫalili gemaßregelt wurden, im anschließenden Gerangel wurde Ḫalili mit einem Taschenmesser an der Halsschlagader verletzt. Danach dauerte es von 00:30 bis 05:00 morgens, bis ein Spital in Teheran den schwerverwundeten aufnahm und im letzten Moment behandelte. Ḫalili lag danach aufgrund des hohen Blutverlustes eine Woche lang im Koma und musste sich regelmäßig in medizinische Behandlung begeben. Der Täter konnte schnell ausfindig gemacht werden, weil einer der Freunde Ḫalilis ihn mit dem Motorrad verfolgt und die Nummer notiert hatte. Er wurde schließlich festgenommen und zu drei Jahren Haft und zum Blutgeld verurteilt, seine Begleiter zu siebzig bis 80 Peitschenhieben. Dieses Urteil erschien in den Kreisen der Ḥezbollāhis lächerlich gering, die Empörung darüber machte sich im Zuge seiner Beerdigung Luft. Darüber hinaus wurde sein Tod sofort Teil der politischen Polemik.

Von den insgesamt drei Versionen des Vorfalls dienen die ersten beiden der ideologisch-moralischen Verortung des Falles. Sie ergänzen die faktische Realität um Details, die sich so nicht zugetragen haben. Folgt man der Darstellung der Ereignisse in diesem Artikel bei Seratnews dann war Ḫalili der ideale Revolutionär: Er wurde 1371/1992 also dreizehn Jahre nach der Revolution geboren, hatte ihre Ideale verinnerlicht und diese aus eigenem Antrieb und unentgeltlich - wie die Autoren nicht müde werden zu betonen - an die nächste Generation weitergegeben indem er in einer ungenannten Moschee eine Kindergruppe aufbaute. Die Absicht, der Autoren, den verantwortungsvollen Ḫalili umso deutlicher über die anderen Beteiligten strahlen zu lassen, wird rasch offensichtlich.

Am fraglichen Abend soll er mit seinen Freunden zwei Kinder aus seiner Gruppe nach Hause gebracht haben, als sich der fatale Zwischenfall ereignete (derselbe Bericht wurde auch hier bei Mašreqnews wiedergegeben). Auf dem Weg dorthin sahen sie eine Gruppe von fünf oder sechs betrunkenen Männern, die zwei oder drei Frauen bedrängten und diese zwingen wollten, in ihr Auto zu steigen. Ḫalili hielt an und wollte den bedrängten Damen zur Hilfe kommen. Zweifel an dieser Darstellung sind angebracht: erstens wird die Anwesenheit der Kinder in keinem anderen Bericht erwähnt; vor allem ist unklar, wer sie zwischen Mitternacht und 5h morgens neben dem aus seiner Wunde blutenden Ḫalili nach Hause gebracht haben soll, ohne dass ihre Eltern sie zu suchen begannen. Die Funktion der Kinder im Text soll vielmehr die Unschuld und Reinheit des Ḥezbollāhi Ḫalili unterstreichen. Ebenso funktional ist die Rolle der Frauen, die ja tatsächlich anwesend waren und die man nach ihrer Darstellung des Vorfalls hätte fragen können. Sie werden auf islamistische Art idealisiert und somit zu Objekten der ḥezbollahischen Projektion, da ihre Erwähnung nur dazu dient, den Edelmut Ḫalilis zu illustrieren. Jede andere Situation, zum Beispiel ein einvernehmliches Zusammensitzen unter Jugendlichen beiderlei Geschlechts bei Musik und Alkohol würde vom islamistischen Lesepublikum als unschicklich, ungehörig oder moralisch verwerflich gesehen werden und den Damen Sittenlosigkeit oder noch schlimmeres unterstellt werden. Die betrunkenen Männer wiederum sind als Angehörige wohlhabender Kreise erkennbar, jedenfalls geht es ihnen materiell besser als Ḫalili, denn sie haben ein Auto während die Ḥezbollāhis mit Mopeds am Weg sind. Ganz in diesem Sinne des Gegensatzes wohlhabende=sittenlose Oberschicht - sprich Nord-Teheran - und sittenstrenge, fromme Mittelschicht ist auch der Widerspruch in einem anderen Detail des Vorfalls zu lesen: Ḫalili selbst spricht von „zwei Jugendlichen aus dem Norden der Stadt ( do ǧavān az baččehā-ye šomal-e šahr)", die ihn in ihrem Auto mitgenommen und ins Spital brachten. Seiner Mutter waren hilfreiche Mitbürger aus dem sittenlosen Norden offensichtlich zu anstößig: in ihrer Version macht sie kurzerhand zwei junge Burschen daraus, die auf dem Weg in den Urlaub im Norden des Landes waren und ihre Reise sofort unterbrachen, um ihrem Sohn zu helfen.

Es werden also drei Topoi bedient, die das Selbstbild eines Ḥezbollāhi charakterisieren: Unschuld/Reinheit, Edelmut und Ritterlichkeit sowie Opferbereitschaft:

(I) Die „Kinder" unterstreichen die Unschuld und Reinheit der Ḥezbollāhis

(II) Die „sittsame, bedrängte Frauen" zeigen den Edelmut und die Ritterlichkeit der Ḥezbollāhis

(III) Die „betrunkenen Unholde" erklären Kampf gegen die Ungerechtigkeit und Sittenlosigkeit der Welt, den die Ḥezbollāhis führen müssen, also ihre Opferbereitschaft

Vergegenwärtigt man sich die Szene und rechnet die frei erfundene Anwesenheit der Kinder ab, ergibt sich ein ganz anderes Bild. In der Nacht wurde der Geburtstag eines der vielen schiitischen Heiligen gefeiert. Ḫalili und seine Freunde verbrachten daher den ganzen Abend bei stundenlanger religiös-politischer Indoktrination in der Moschee und brachen erst gegen Mitternacht auf. Was dann geschah wurde in einem anderen, ebenfalls von Ṣerāt veröffentlichter Bericht viel glaubwürdiger dargestellt: Ḫalili und die seinen sahen eine Gruppe junger Leute, Männer und Frauen gemischt, die im Auto laute „unanständige" Musik hörten. Ḫalili ermahnte sie, die Musik abzustellen, daraufhin kam es zum Streit und zum fatalen Stich in die Halsschlagader. Mit anderen Worten: Ḫalili handelte als Anführer eines typischen Rollkommandos der Ḥezbollāhis indem er für sich sofort und selbstverständlich das Recht in Anspruch nahm, als Sittenpolizei agieren zu dürfen. Dass sich die Jugend Irans und Teherans zumindest von den selbsternannten Sittenwächtern - im Gegensatz zu den offiziellen der Moralpatrouillen - immer weniger gefallen lässt, ist hinlänglich bekannt, auch wenn es nicht viele Berichte über solche Auseinandersetzungen gibt. In diesem Zusammenhang kommt es immer wieder zu Schlägereinen und Raufereien zwischen Jugendlichen verschiedener Wertvorstellungen, wenn auch nur selten mit tödlichem Ausgang, wie es hier der Fall ist. Dass die „Förderung des Guten" durch die Ḥezbollāhis bei vielen in der Bevölkerung auf wenig Gegenliebe stößt, ist in islamistischen Kreisen bekannt. Ḫalili spricht daher in geheuchelter Bescheidenheit davon, dass er sein Tun nicht als „Förderung des Guten" sieht, vielmehr sei es seine edle Pflicht gewesen, die Damen zu retten, „denn die Verteidigung der Ehre von Muslimen sei auch eine religiöse Pflicht für alle Muslime". Ḫalili hatte also nicht als Islamist sondern als einfacher anständiger Mensch gehandelt. - Diese Version ist auch die, welche seine Mutter verbreitete. Aber selbst dieser Satz lässt sich leicht als Propagandaphrase enttarnen: die Pflicht zur Verteidigung der Ehre der Muslime ist eine islamistische Standardrechtfertigung für den Kampf um Palästina bzw. gegen Israel. Diese Einstellung ist typisch für die manichäische Weltsicht der Ḥezbollāhis, die ihr persönliches Engagement als Teil eines globalen Kampfes um islamische Gerechtigkeit sehen. Islamische Sittlichkeit und Moral im Inland und der Kampf um Palästina sind für die Ḥezbollāhi eben zwei Seiten einer Medaille.

Bezeichnender Weise lässt die Presse der Ḥezbollāhis andere skandalöse Aspekte des Falles sehr lange unkommentiert. So zum Beispiel die Tatsache, dass es offensichtlich kein funktionierendes Notrufsystem in Teheran gibt, es dauerte daher eine halbe Stunden, bis Ḫalili von Passanten in ihrem Wagen mitgenommen und dann in die Notaufnahme eines Spitals gebracht wurde. Doch vorher mussten mindestens drei andre Spitäler aufgesucht werden, bis ein Privatspital gefunden wurde, dessen Notaufnahme in der Lage war, den Schwerverwundeten aufzunehmen und zu behandeln. Ebenso scheint es mit der Versicherung im Argen zu liegen, so wurden die Kosten der Behandlung, die sich auf sechs Millionen Tuman (60 Millionen Riyal nach damaligen Kurs ungefähr 2000 Euro) beliefen, durch Spenden aus dem Freundeskreis aufgebracht und später durch das Gesundheitsministerium aufgrund der Intervention der Ministerin übernommen, die Kosten für die Physiotherapie und die Heimpflege musste jedoch die Familie selbst tragen. Die anschließenden neunhundert Tage verbrachte Ḫalili bettlägerig zuhause, unterbrochen nur von Nachbehandlungen im Spital. Die Mutter des Opfers beklagt sich darüber, dass ihr Sohn nicht die nötige Aufmerksamkeit bekommen hätte. So sei in der langen Zeit, die er in häuslichere Pflege verbracht hatte, weder jemand vom Parlament gekommen, noch hätte sich ein einziger Kandidat im Zuge der Präsidentschaftswahlen die Mühe gemacht, ihn zu besuchen. Außerdem hätten offizielle Stellen, die unmittelbar nach dem Vorfall Hilfe versprachen, keines ihrer Versprechen eingehalten. Dieses Urteil ist nicht ganz gerecht und teilweise muss die Kritik seiner Mutter auch als zweckorientiert verstanden werden. Das trifft vor allem auf die von ihr gescholtene Veteranenorganisation zu, die für ihr relativ effizientes Sozialsystem, das auch Hinterbliebene mitversorgt, bekannt sind. Und darüber hinaus wurde Ḫalili dafür, dass es sich bei ihm um ein 19-jähriges Opfer einer gewöhnlichen Messerstecherei handelt, viel Aufmerksamkeit zuteil. So erwähnt seine Mutter den Besuch des damaligen Freitagspredigers Āyatollāh Kāẓem Ṣadiqi und des Āyatollāh Ḥā'eri Širāzi. Selbst die damalige Gesundheitsministerin Marżiye Vaḥid-Dastǧerdi besuchte ihn am nächsten Tag. Vaḥid-Dastgerdi ist die Gattin Ḥoseyn Šariˁatmadāris, des Chefredakteurs der radikalen Zeitung Keyhān, mit der er seit Jahrzehnten Einfluss auf die politische Entwicklung des Landes nimmt. Zu Keyhān gehören auch die Internetseiten Ṣeratnews und Mašraqnews, die der Berichterstattung über Ḫalili viel Raum widmen. Und schließlich interessierte sich nach vier oder fünf Monaten, als der Fall vor Gericht gebracht wurde, auch der Kommandant der Basiǧis, General Naqadi für Ḫalili. Man kann also nicht sagen, dass es überhaupt kein Interesse am Schicksal Ḫalilis gab.

Šariˁatmadāri und Naqadi sind beides Personen, die aus ihrer radikalen Einstellung nie ein Hehl gemacht haben. Sie brachten auch viel Verständnis für den Radikalismus der jungen Ḥezbollāhis und die Forderungen des extremistischen Flügels der Prinzipalisten in der großen Regimekrise von 2009-2011 entgegen. Ḫāmeneis größte Sorge in der Krise war nach der politischen Kaltstellung der Reformisten die Eigenmächtigkeit der Ḥezbollāhis einzuhegen und zu kontrollieren. Das gelang nur durch einen ausgeglichenen Kompromiss. Doch Scharfmacher wie Šariˁatmadāri agitierten gegen den von den Lāriǧāni Brüdern (Parlamentspräsident ˁAli und Oberster Richter Āyatollāh Ṣādeq) vermittelten und von Ḫāmenei erwünschten Elitenkompromiss zwischen Fundamentalisten und Reformisten, der nach Ansicht Šariˁatmadāris den Reformkräften immer noch zu viel Handlungsspielraum lässt und die von ihm favorisierten Ḥezbollāhis zu sehr einschränkt. Die Wahl Ruḥānis, ein politisches Schwergewicht aus dem Sicherheitsapparat, der zudem das Vertrauen des Revolutionsführers genießt und dessen politischer Diskurs, der auf Deeskalation und Beruhigung nach innen und nach außen setzt, muss von den Ḥezbollāhis und den ihnen gewogenen Kreisen als weitere Bedrohung betrachtet werden. Das umso mehr, als die neue Regierung unverzüglich radikale Seiten und Zeitungen schließen ließ: kurzzeitig 598.ir, eine Seite hoher Offiziere und politischer Aktivisten, die den Iran-Irak-Krieg eigentlich fortsetzen wollten, und mit 9. Dey und Yā-Lās̱erātolḥoseyn wurde auch die Flaggschiffe der Extremistenszene nicht verschont. - Nicht unerwähnt soll bleiben, dass Gruppen, die diese Seiten betrieben, Ruḥāni schon seinerzeit das Leben schwer gemacht haben, als er noch Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrats war. Die Szene der Ḥezbollāhis und ihrer Hintermänner geriet mit Ruḥāni und mit dessen Unterstützung durch Ḫāmenei also unter Druck, gab sich aber noch lange nicht geschlagen. Der Tod Ḫalilis erlaubte einerseits eine Massenversammlung und andererseits Kritik an den Verhältnissen zu üben. Offene Kritik am Revolutionsführer zu äußern, der für diesen Kurs letzten Endes verantwortlich ist, verbietet sich jedoch. Es sei denn, man kann auf Zitate eines Todgeweihten zurückgreifen.

Mit der tragischen Figur des ˁAli Ḫalili lässt sich nun vortrefflich Kritik an der vom Standpunkt der Ḥezbollāhis aus betrachtet milden Haltung des Revolutionsführer Ḫāmenei üben. So heißt es bei Ṣerat (wo sonst) dass Ḫalili fünfzehn Tage vor seinem Tod einen Brief an den Revolutionsführer geschrieben hätte. Zweifel an dieser Darstellung sind angebracht, denn fünfzehn Tage vor seinem Ableben war Ḫalili so geschwächt, dass man ihn noch einmal zur Behandlung ins Spital brachte. Im Brief wird außerdem ein dermaßen selbstbewusster fast frecher Ton angeschlagen, wie er für einen mit dem Tod ringenden und vom Ḫāmenei-Kult indoktrinierten Ḥezbollāhi ungewöhnlich ist. Ebenso irritiert die Form des offenen Briefes. Ḫalili hätte eine Ergebenheitsadresse direkt an das Büro des Revolutionsführers schicken können, was ihm mit seinen Beziehungen möglich gewesen wäre, anstatt ihn am Tage seines Ablebens bei Ṣerātnews veröffentlichen zu lassen. Ein früherer Zeitpunkt hätte ihm vielleicht sogar eine Audienz oder gar allerhöchsten Besuch eingetragen: Großāyatollāh Seyyed ˁAli Ḫāmenei kümmert sich um die Treuesten der Treuen, wie seine zahlreichen Audienzen für Veteranen und Besuche bei Kriegsversehrten und Einrichtungen von „vorbildlichen Studenten" belegen. Die Autorschaft Ḫalilis darf also angezweifelt werden und der Text klingt sehr nach Šariˁatmadāri, bemerkenswert ist sein Inhalt trotzdem.

Der Brief beginnt mit dem Wunsch, die Feinde des Revolutionsführers mögen doch endlich sterben, genau diese Forderung stellten radikale Ḥezbollāhis 2009 in ihrem Kampf gegen die „Grüne Bewegung" ( marg bar żedd-e velāyat-e moṭlaq Tod denen, die den absoluten Führerstaat ablehnen). Dann unterstreicht der Autor seine Opferbereitschaft und Bescheidenheit mit der er seine Leiden und seinen baldigen Tod zu erdulden bereit ist. Schließlich nimmt er Bezug auf ein Wort des Propheten, das besagt, dass, wenn die Befehle Gottes auf Erden nicht befolgt werden, Gott die Gebete nicht mehr erhört und ein großes Unglück auf die Welt hernieder kommt. Anders ausgedrückt: wer sittenlos lebt bringt die Menschheit in Gefahr und raubt den Frommen das Seelenheil. Daher also die theologische und politische Pflicht der Muslime, die Einhaltung religiöser Sitten durchzusetzen. Es geht jedoch nicht nur um Religion sondern um die Handlungsfreiheit der Ḥezbollāhis, die dabei sowohl von der Gesellschaft als auch von Teilen des Staatsapparates kritisch gesehen wird. So fragt Ḫalili oder „jemand" - vielleicht Šariˁatmadāri selbst - legt ihm die folgenden Worte in den Mund:

„Einige sagen, ich hätte etwas Böses getan. Sogar einige, denen meine Lage so leid getan hat, dass sie Geld für das Spital gespendet haben, fragten: was ging Dich denn das an? Das Land hat Gesetze und Polizei! Aber in jener Nacht, wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre, wäre die Ehre der Schia[evtl ein Schreibfehler: šiˁe statt šariˁe?] zertrampelt worden und die Polizei ohnehin zu spät oder vielleicht gar nicht gekommen. Ein bärtiger Herr, der immer die Gebetskette in Händen hält, meinte als er erfuhr, was ich getan habe: ‚Mein Sohn, warum hast Du Dich denn eingemischt? Der Führer des Landes [Ḫāmenei] ist damit bestimmt nicht einverstanden! Du hast Dich selbst in Gefahr gebracht.' Ich bat meine Freunde darum, von ihm keine Spende für die Spitalskosten zu nehmen, aber eine Frage quält mich seither: Lieber Führer, sind Sie wirklich nicht damit einverstanden [was ich getan habe]? Letztlich haben Sie doch selbst befohlen, dass „das Gute befehlen und das Schlechte untersagen" religiöse Pflicht wie das Gebet zur Nacht ist. Lieber Führer, die Schmerzen, die ich erdulde sind nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die ich leiden würde, wenn - Gott behüte - ich etwas gegen Ihren Willen getan hätte. Haben Sie nicht oft genug gepredigt und erläutert, dass der Grund für den Aufstand des Hl. Imam Ḥoseyn die Pflicht, das Gute zu befehlen und das Schlechte zu bekämpfen ist? Haben Sie nicht oft genug befohlen, dass der beste Weg, die Gesellschaft zu verbessern die mündliche Ermahnung (taẕakkor-e lesāni) ist? Also, all die Leute, die mich tadeln und so revolutionär tun, haben gar nichts von Ihnen verstanden!? Oder sind Sie uns schon so fremd geworden? Mein Führer, ich und tausende wie ich opfern sich für Sie auf! Gott gebe es, dass ich meine Schmerzen angesichts Ihrer Schmerzen vergessen kann, denn Sie hören vom Tod des Anstands und der Tapferkeit mit Gram. Mein lieber Führer, ich und tausende wie ich werden angesichts Ihres Leidens nicht schweigen, und wenn sie noch einmal meine Halsschlagader durchschneiden, und wenn überhaupt keines meiner Organe mehr behandelt werden kann, trotzdem werde ich nicht aufgeben bis meine Adern für die Ehre und den Glauben in den Gassen unserer Stadt verdorrt sind!"

Die Beerdigung Ḫalilis fand am 5. Farvardin 1393/25. März 2014 in Teheran statt. Den von Mašraqnews veröffentlichten Bildern zufolge nahm eine große Masse, die vielleicht mit Bussen hergebracht wurde, daran teil. Prominente Ḥezbollāhis wie Šariˁatmadāri oder der geschasste Generalstaatsanwalt Mortażavi, der unter anderem für das Foltergefängnis Kahrizak verantwortlich war, lassen sich unter den Trauernden erkennen. Außerdem nahmen noch Āyatollāhs und hohe Offiziere der Revolutionsgarden und Basiǧis teil. Die Beerdigung Ḫalilis war in doppelter Hinsicht eine politische Veranstaltung: einerseits diente sie der Mobilisierung und zur Schau Stellung der „ḥezbollāhi" und „werteorientierten" ( arzešihā) Gruppen, andererseits ist sie als politische Protestkundgebung gegen weitere Liberalisierungsschritte der Regierung Ruḥāni zu verstehen, was in den Grabreden und Kommentaren deutlich wurde: So sei den Ḥezbollāhis und arzešis für ihren freiwilligen Enthusiasmus für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Moral und Sitte ausdrücklich zu danken, das forderte zumindest der ehemalige Kulturminister unter Aḥmadinežād, Seyyed Moḥammad Ḥoseyni in einem Gespräch gegenüber Mašreq. Und wie es sich für einen richtigen Freund der Ḥezbollāhis gehört, brachte Ḥoseyni den Fall mit den allgemeinen Verhältnissen in der Welt in Zusammenhang und nutzte die Gelegenheit zur Kritik an der als zu milde verschrienen Regierung Ruḥāni. So klagte er über den Besuch Frau Ashtons, die nur Sympathisanten der Reformisten besucht aber niemals den Angehörigen der ermordeten Atomwissenschaftler einen Kondolenzbesuch abstattete. Ins gleiche Horn stieß der ebenfalls anwesende Abgeordnete Mehrdād Beẕrpāš, der den Europäern vorwarf, die Opfer der iranischen Grenzpolizei, die im Kampf gegen den Drogenschmuggel fielen, nicht zu würdigen und man würde sehen, dass auch dieser „Gefallene" also Ḫalili, den Europäern keine lobende Zeile wert sein wird (womit er freilich Recht hat). Die milde Strafe für den Täter wiederum, führt dazu, dass das „Gesindel" frecher wird. Beiden Politikern dürfte klar sein, dass sie nicht den Lauf der Verhandlungen oder die Außenpolitik Ruḥānis verhindern oder verändern können, aber eine Machtdemonstration war das Begräbnis Ḫalilis allemal.

Es gab jedoch auch konkrete Forderungen, so ein allgemeines Verbot von Stichwaffen und Ḥoseyn Šariˁatmadāri forderte eine Untersuchung, warum es so lange gedauert hatte, bis Ḫalili behandelt wurde. Doch diese an sich nachvollziehbare Forderung war nicht das Hauptanliegen der Ḥezbollāhis sondern dient ebenfalls nur zur Inszenierung Ḫalilis als idealistisches Opfer einer ungerechten Gesellschaft, die zu verbessern er sich auf die Fahnen geschrieben hat. Konkreter wurde der ehemalige Geheimdienstminister und Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs Ġolāmḥoseyn Moḥseni-Ežei. In einem Pressegespräch verteidigte er die Strafverfolgungsbehörden gegenüber Vorwürfen, sie hätten damals zu milde gehandelt. Denn seinerzeit - also vor zwei Jahren - hatte der Vater des Opfers Blutgeld und Bestrafung des Täters und seiner Gefährten akzeptiert und damit auf weitere Strafverfolgung verzichtet ( reżāyat-e qaṭˁi va bedun-e qeyd-o-šarṭ-e ḫvodrā az ẓāreb eˁlām kardand). Nach dem Ableben des Opfers im März, ergab sich jedoch eine neue Rechtslage für den öffentlichen Ankläger, sodass der Fall wieder aufgerollt werden kann. Wie wichtig ihm der Fall ist, beweist die Tatsache, dass es sich um die erste Presseerklärung des neuen iranischen Jahres handelt, die traditioneller Weise von offiziellen Stellen genutzt wird, um ihre Jahresprogramme zu erklären.

Dass eine Wiederaufnahme des Falles genügen wird, darf angezweifelt werden, schließlich geht es für die Ḥezbollāhis um mehr: Aḥmadinežāds ehemaliger Kulturminister Ḥoseyni bringt ihre Forderungen auf dem Punkt indem er verlangt, dass der „Stab zur Wiederbelebung (usw)" auch offiziell Exekutivaufgaben übernehmen soll und besser in die Sicherheitskräfte und in die Gerichtshöfe integrieren wird. Das würde auch bedeuten, dass sie Gehälter erhalten würden. Offizielle Stellen reagieren auf diese konkrete Forderung nicht. Zwei andere Forderungen werden aber offensichtlich ernst genommen, erstens Gesetzeslücken hinsichtlich der Verpflichtung „das Gute zu fordern und das Schlechte zu bekämpfen" zu schließen, ob mit oder ohne erläuterndem Gesetz für den Artikel 8 der Verfassung, wie von Šariˁatmadāri gefordert, bleibt allerdings dahingestellt. Zweitens ist der vorsichtigen Antwort Justizminister Āyātollāh Ṣādeq Āmoli-Lāreǧānis zu entnehmen, welcher betonte, dass selbst liberale Gesellschaften ihre Grenzen haben, dass man innenpolitisch den kulturellen Forderungen der Ḥezbollāhis entgegenkommen wolle. Schließlich steht das neue Jahr 1393 unter dem Slogan „Wirtschaft des Widerstands und Kultur", also zwei Slogans, die so klingen als ob die Zurückdrängung des politischen Diskurses der Ḥezbollāhis, wie sie von der Bevölkerung durch die Wahl des als gemäßigt geltenden Ruḥānis gewünscht wurde, nie stattgefunden hätte.

Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun aus dem „Tod eines Ḥezbollāhis" ziehen? Zunächst das Selbstbild des (selbst)gerechten, ritterlichen, sich aufopfernden und bescheidenen Glaubenskämpfers, der der Welt und der iranischen Gesellschaft Gutes tut, indem er die Prinzipien des Koran überall durchsetzt. Das binäre manichäische Weltbild wird dabei auch (pseudo)-soziologisch bzw. -klassenkämpferisch untermauert, der Norden Teherans gilt den aus dem Süden der Stadt stammenden noch immer als „reich", sprich moralisch verderbt. Für die Anfangszeit der Revolution - also die Elterngeneration Ḫalilis - stimmt dieses Bild. Zu ihrer Zeit waren es die „Ḥezbollāhis" aus der Unterschicht, die politische Oppositionelle von der Straße prügelten und mit Säureattacken auf die unverschleierten Gesichter liberaler Frauen diese unter das Kopftuch zwangen. Damals wurde ein kultureller Klassenkampf installiert, der zwar die sozialen Verhältnisse nicht wirklich in Frage stellte aber als Repressions- und Einschüchterungselement gegenüber säkularen Schichten der Gesellschaft für das Regime von großem Nutzen war (und ist). Der klassenkämpferische Aspekt bleibt daher bestehen, aber er stärkt in erster Linie die Selbstgerechtigkeit und rechtfertigt den Mangel an Empathie der Ḥezbollāhis. Am Rande sei noch bemerkt, dass die Zelebration des Todes Ḫalilis zeigt, wie stark das morbide, beinahe nekrophile Flair der Ḥezbollāhis, die seinerzeit zu Tausenden den Tod auf den Schlachtfeldern suchten, noch bis in die heutige Zeit fortwirkt: Ḫalili kam nach dem Krieg auf die Welt.

Es handelt sich also um die Fortdauer der radikalen Aspekte der islamischen Revolution bis in die Gegenwart. Damit muss ein liberales Paradigma hinterfragt werden, das besagt, dass Wohlstand das beste Mittel gegen Extremismus jeder Art sei. Denn so sehr sich die Ḥezbollāhis auch als bescheiden oder gar arm inszenieren, die Islamische Republik Iran hat sich immer rührend um ihre radikalen Anhänger gekümmert: niemand kann den sozialen Aufstieg dieser Kreise in den letzten dreißig Jahren verleugnen. Ḫalili selbst ist ein gutes Beispiel dafür: so heißt es in diesem schon öfters zitierten quasi- hagiographischen Bericht, dass „er sicherlich auch Opfer des Neides war, schließlich hatte er Arbeit und verdiente Geld" - nicht das schlechteste für einen 21-jährigen in einem Land, dessen Jugendarbeitslosigkeit bei vorsichtig geschätzten 40% liegt. An dieser Stelle sei auch noch einmal an das Selbstbewusstsein seiner Mutter erinnert, die allen Ernstes - und offensichtlich nicht ohne berechtigter Hoffnung - mehr prominenten Krankenbesuch erwartet hatte. Damit wird amro l-maˁruf zum augenfälligsten Symbol der politischen und kulturellen Hegemonie der revolutionären Islamisten. Es ist ein Teil ihres allgemeinen Führungsanspruchs in Staat und Gesellschaft.

Doch beide zeigen den Ḥezbollāhis immer wieder ihre Grenzen auf, ganz zum Erstaunen und zur Verärgerung der Ḥezbollāhis. Dies ist bereits bei Ḫomeyni zu sehen, der bald nach der Revolution die staatlichen Institutionen den Revolutionären gegenüber stärkte. Anders ausgedrückt, um sein Ideal einer islamischen Gesellschaft zu verwirklichen mußte Ḫomeyni zuerst die staatlichen Institutionen islamisieren, dies gelang durch revolutionären Druck, durch den Kleriker an die wichtigsten - auch sicherheitspolitisch relevante Positionen - gesetzt wurden. Danach störte die revolutionäre Dynamik den neuen islamisierten Staat, ohne je aufgehoben zu werden. Zu Recht konfrontiert Ṣerātnews Ḫāmenei mit seinen eigenen Aussagen von 29. Mehr 1371/21. Oktober 1992, wo er selbst ein radikales und selbständiges Vorgehen zur Durchsetzung des amro l-maˁruf von Seiten der Ḥezbollāhis forderte und davor warnte, dass die (von Rafsanǧāni kontrollierten!) Sicherheitskräfte dieses Treiben behindern. Die Eigenmächtigkeiten und radikalen Positionen der Ḥezbollāhis sind also systemimmanent, nicht zuletzt deshalb, weil das Regime in diese Kreise viel finanzielles und soziales Kapital investiert. Der allfällige Schaden, den die Ḥezbollāhis mit ihrem Vorgehen anrichten, steht in keinem Verhältnis zum ideologisch-politischen Nutzen, den das Regime aus ihren Aktivitäten zieht, auch wenn einzelne Regierungen, vor allem die der Reformisten, von ihnen offen angefeindet werden. Schließlich sind sie so stark und so gut vernetzt, dass es bis jetzt keine Regierung gewagt hat, konsequent gegen sie vorzugehen. Dennoch beklagten sich die Ḥezbollāhis über das geringe Interesse der Gesellschaft und offizieller Seite am Fall Ḫalili, was sie wohl zu Recht als mangelnde Akzeptanz ihrer Aktivitäten interpretieren. Noch schlimmer war für sie das schlechte Wahlergebnis von 2013, wo der von ihnen favorisierte Kandidat Ǧalili mit nur knapp 10% abgestraft wurde.

Der Umgang der offiziellen Stellen der Islamischen Republik mit dem Begräbnis Ḫalilis zeigt, dass die Ḥezbollāhis immer noch über großen Einfluss verfügen. Eine mögliche politische Deutung des Vorfalles könnte die sein, dass die Regierung mit Unterstützung Ḫāmeneis auf eine Einigung mit dem Westen hinarbeitet um eine Lockerung der Sanktionen zu erreichen, gleichzeitig jedoch bei der inneren Liberalisierung doppelt vorsichtig sein muss und eventuell überlegt, welche Handlungsspielräume sie den Ḥezbollāhis noch zugestehen will. Daraus ist zu schließen, dass eine Verhärtung des kulturellen Klimas schon in den nächsten Monaten, möglich bis wahrscheinlich ist.

Quelle: http://mehriran.de/artikel/der-tod-eines-hezbollahis-revolutionaere-dynamik-und-staatliche-ordnung-in-der-islamischen-republ.html


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