Von Stefan Sasse
Die herrschende Krise scheint den Staat in praktisch allen relevanten Nationen vollständig aus der politischen Arena verdrängt zu haben. Ob Merkel in Deutschland die "marktkonforme Demokratie" fordert, der griechische Premier irgendwo zwischen Cannes und Canossa aus dem Amt gedrängt oder ob Berlusconi durch Druck "der Finanzmärkte" seinen Posten räumen muss - der überwältigende Eindruck ist eine Dominanz von Mächten, die außerhalb der staatlichen Sphäre liegen, eine überragende Schwächung der staatlichen Macht zugunsten anderer Konstrukte und Interessen. Konsequenterweise fordern Linke in ganz Europa eine Stärkung des Staates und sein entschlossenes Eingreifen. Dem liegt aber eine Fehlperzeption zu Grunde: der Staat ist überhaupt nicht schwach. Er ist stärker als je zuvor. Der Blick auf diesen Sachverhalt wird durch das einseitige Muster, nach dem die Linken für mehr und die Rechten beziehungsweise Neoliberalen für weniger Staat seien, verdeckt. Das mag auf den ersten Blick merkwürdig klingen. Tatsächlich aber ist es so, dass der Staat in der herrschenden Krise nicht Opfer, sondern Täter ist.
Unzweifelhaft war der Auslöser der Krise das über alle vernünftigen Grenzen hinaus wuchernde Wachstum eines aggressiv expandierenden Finanzsektors, der eine so große Blase erschuf, dass die Schockwellen noch heute um die Welt gehen ohne dass klar wäre, wann sie abebben werden. Auch wenn das im Folgenden anders klingen mag: die Jongleure der "Finanzindustrie" sind zu einem erheblichen Teil schuldig an den aktuellen Kalamitäten, und ihr Gebahren bedroht unsere Welt, wie wir sie kennen, in ihren Grundfesten. Allein, der Staat griff ihnen dabei nicht nur nicht in den Arm, sondern gleich darunter und stützte und förderte sie. Die Lage ist vergleichbar mit einem Gesetz, das Raub und Mord straffrei stellt. In dem resultierenden Chaos wären die Menschen individuell immer noch für ihre Untaten verantwortlich, der Staat aber, der sie ihnen erst erlaubt hat, mindestens ebenso. Oh, sicherlich, die massive, von vielen Millionen gestützte Lobbyarbeit der Finanzindustrie selbst hat einen wesentlichen Anteil an diesem Prozess gehabt. Das verringert allerdings die Schuld der beteiligten Staatsdiener nicht. Ein aktuelles Beispiel sind die unbezahlten "Praktika" bei Amazon. Sicher, das ist eine Schweinerei. Aber Amazon betont völlig zu Recht ausdauernd, dass dies in enger Kooperation und auf ausdrückliche Vermittlung der Arbeitsämter vor sich ging. Der Staat ist hier ebenso sehr Täter wie Amazon. Bereits vor der Katastrophe arbeitete der Staat mit seinen scheinbaren Gegnern auf Seiten des Marktes, ob es sich nun um die in der INSM organisierten Metallarbeitgeber oder die Finanzindustrie handeln mag, Hand in Hand zusammen. Man sollte nicht vergessen, dass das aktive Nichtstun auf bestimmten Feldern nicht zwingend eine Schwäche des Staates bedeutet. Er entscheidet sich nur sehr bewusst, sie nicht einzusetzen. Ein Vater, der zwei prügelnde Kleinkinder nicht auseinanderzieht, ist deswegen nicht weniger schwach. Er entscheidet sich nur - wahrscheinlich zum Schaden der Kinder - seine Stärke nicht einzusetzen. Spätestens mit dem totalen Ausbruch der bereits seit 2007 schwärenden Krise durch den Lehmann-Schock 2008 gingen der Staat und seine scheinbaren Gegner eine Symbiose ein. Die Troika, die gerade in der EU Regierungen stürzt und eine neokolonialistische Politik verfolgt, ist ein ziemlich reines Produkt von Staat. Sie fasst staatliche Macht in eine konzentrierte Form, freilich ohne auch nur den Anschein demokratischer Legitimation. Aber genau hier ist der Irrtum vieler Betrachter der Krisengeschehnisse zu finden: eigentlich fordern viele Progressive keinen starken, sondern einen schwachen Staat. Der starke Staat nämlich befreit sich von demokratischen Elementen, scheint schon allein deswegen schwach, weil sein Tun sich mehr und mehr der öffentlichen Sphäre entzieht, wo einige Posterboys hilflos herumzappeln. Man kann das als bloße Semantik abtun. Es ist allerdings wesentlich bedeutungsvoller.
Der Schrei nach mehr Staat ist ein sehr janusköpfiger. Wie viel mehr Staat als gerade kann es denn noch werden? Die meisten großen Unternehmen sind längst so eng mit den verschiedenen administrativen Ebenen verflochten, dass sie kaum mehr unterschieden werden können. Im gesamten Bankensektor ist überhaupt nicht mehr auszumachen, wo private und wo öffentliche Einflüsse vornehmlich am Walten sind. Die immer fließenderen Wechsel von Personal zwischen privatem und politischen Sektor sind nicht nur eine Frage des Geldes, quasi einer grassierenden Korruption. Sie folgen der Logik dieser Verflechtung, weil für die Beteiligten selbst die Unterschiede zwischen den Sektoren hauptsächlich im Gehalt und der Repräsentation bestehen. Diese Entwicklung ist es, die uns Sorge bereiten muss. Der Ruf nach stärkerem Staatseinfluss selbst ist da eher hinderlich, denn er kann von den Wegbereitern und Profiteuren dieser Entwicklung problemlos für die eigene Agenda hergenommen werden. Stärkere staatliche Aufsicht des Bankensektors? Aber klar. Der Staatssekretär im Finanzministerium wird ab sofort auch im Vorstand der Deutschen Bank setzen, der Chefvolkswirt der EZB in engem Kontakt zum Aufsichtsrat von Goldman Sachs stehen.
Wäre das hier ein Buch, käme jetzt das Kapitel darüber was man tun muss. Das Problem ist, dass mir dieses Kapitel bisher völlig fehlt. Ich habe meine politische Sozialisation als Linker erfahren, und ich war lange Zeit gläubiger Jünger etwa Albrecht Müllers. Die Gedanken, die ich in diesem und anderen jüngeren Artikeln dargelegt habe, beunruhigen mich. Sie zerstören eine Art Ordnung, die ich bisher als gegeben angenommen habe, aber setzen (noch) nichts an ihre Stelle. Ein Zurück zur Orthodoxie der politischen Linken aber kann ich mir auch nicht vorstellen. Immerhin bleibt mir der Trost, darin nicht alleine zu sein. Auch andere, auf deren Gedanken ich hier zurückgreife - Colin Crouch, Frank Schirrmacher, Jürgen Habermas, Gabor Steingart, Georg Seesslen, Albrecht von Lucke - haben bislang keine echte Antwort, analysieren erst noch den jetztigen Zustand. Eine tiefe Ratlosigkeit hat mich ergriffen, und ich kann nur hoffen, dass Ideen gefunden werden, die aus diesem Dilemma herausführen könnten. Dass die politischen Linken sie finden könnten glaube ich immer weniger. Sie sind ohne es zu merken in einem Dilemma: stärken sie den Staat in ihrem Sinne, können sie zwar versuchen, entflechtend tätig zu werden. Da Demokratie aber immer auch die Möglichkeit eines Machtwechsels impliziert, können die so geschaffenen staatlichen Stärken - wie unter Rot-Grün geschehen - problemlos für völlig andere Zwecke eingesetzt werden. Der einzige Ausweg wäre, den demokratischen Machtwechsel zu verbauen. Diese Perspektive mal mehr, mal weniger bewusst einzunehmen habe ich den Linken bereits vorgeworfen.
Die herrschende Krise scheint den Staat in praktisch allen relevanten Nationen vollständig aus der politischen Arena verdrängt zu haben. Ob Merkel in Deutschland die "marktkonforme Demokratie" fordert, der griechische Premier irgendwo zwischen Cannes und Canossa aus dem Amt gedrängt oder ob Berlusconi durch Druck "der Finanzmärkte" seinen Posten räumen muss - der überwältigende Eindruck ist eine Dominanz von Mächten, die außerhalb der staatlichen Sphäre liegen, eine überragende Schwächung der staatlichen Macht zugunsten anderer Konstrukte und Interessen. Konsequenterweise fordern Linke in ganz Europa eine Stärkung des Staates und sein entschlossenes Eingreifen. Dem liegt aber eine Fehlperzeption zu Grunde: der Staat ist überhaupt nicht schwach. Er ist stärker als je zuvor. Der Blick auf diesen Sachverhalt wird durch das einseitige Muster, nach dem die Linken für mehr und die Rechten beziehungsweise Neoliberalen für weniger Staat seien, verdeckt. Das mag auf den ersten Blick merkwürdig klingen. Tatsächlich aber ist es so, dass der Staat in der herrschenden Krise nicht Opfer, sondern Täter ist.
Unzweifelhaft war der Auslöser der Krise das über alle vernünftigen Grenzen hinaus wuchernde Wachstum eines aggressiv expandierenden Finanzsektors, der eine so große Blase erschuf, dass die Schockwellen noch heute um die Welt gehen ohne dass klar wäre, wann sie abebben werden. Auch wenn das im Folgenden anders klingen mag: die Jongleure der "Finanzindustrie" sind zu einem erheblichen Teil schuldig an den aktuellen Kalamitäten, und ihr Gebahren bedroht unsere Welt, wie wir sie kennen, in ihren Grundfesten. Allein, der Staat griff ihnen dabei nicht nur nicht in den Arm, sondern gleich darunter und stützte und förderte sie. Die Lage ist vergleichbar mit einem Gesetz, das Raub und Mord straffrei stellt. In dem resultierenden Chaos wären die Menschen individuell immer noch für ihre Untaten verantwortlich, der Staat aber, der sie ihnen erst erlaubt hat, mindestens ebenso. Oh, sicherlich, die massive, von vielen Millionen gestützte Lobbyarbeit der Finanzindustrie selbst hat einen wesentlichen Anteil an diesem Prozess gehabt. Das verringert allerdings die Schuld der beteiligten Staatsdiener nicht. Ein aktuelles Beispiel sind die unbezahlten "Praktika" bei Amazon. Sicher, das ist eine Schweinerei. Aber Amazon betont völlig zu Recht ausdauernd, dass dies in enger Kooperation und auf ausdrückliche Vermittlung der Arbeitsämter vor sich ging. Der Staat ist hier ebenso sehr Täter wie Amazon. Bereits vor der Katastrophe arbeitete der Staat mit seinen scheinbaren Gegnern auf Seiten des Marktes, ob es sich nun um die in der INSM organisierten Metallarbeitgeber oder die Finanzindustrie handeln mag, Hand in Hand zusammen. Man sollte nicht vergessen, dass das aktive Nichtstun auf bestimmten Feldern nicht zwingend eine Schwäche des Staates bedeutet. Er entscheidet sich nur sehr bewusst, sie nicht einzusetzen. Ein Vater, der zwei prügelnde Kleinkinder nicht auseinanderzieht, ist deswegen nicht weniger schwach. Er entscheidet sich nur - wahrscheinlich zum Schaden der Kinder - seine Stärke nicht einzusetzen. Spätestens mit dem totalen Ausbruch der bereits seit 2007 schwärenden Krise durch den Lehmann-Schock 2008 gingen der Staat und seine scheinbaren Gegner eine Symbiose ein. Die Troika, die gerade in der EU Regierungen stürzt und eine neokolonialistische Politik verfolgt, ist ein ziemlich reines Produkt von Staat. Sie fasst staatliche Macht in eine konzentrierte Form, freilich ohne auch nur den Anschein demokratischer Legitimation. Aber genau hier ist der Irrtum vieler Betrachter der Krisengeschehnisse zu finden: eigentlich fordern viele Progressive keinen starken, sondern einen schwachen Staat. Der starke Staat nämlich befreit sich von demokratischen Elementen, scheint schon allein deswegen schwach, weil sein Tun sich mehr und mehr der öffentlichen Sphäre entzieht, wo einige Posterboys hilflos herumzappeln. Man kann das als bloße Semantik abtun. Es ist allerdings wesentlich bedeutungsvoller.
Der Schrei nach mehr Staat ist ein sehr janusköpfiger. Wie viel mehr Staat als gerade kann es denn noch werden? Die meisten großen Unternehmen sind längst so eng mit den verschiedenen administrativen Ebenen verflochten, dass sie kaum mehr unterschieden werden können. Im gesamten Bankensektor ist überhaupt nicht mehr auszumachen, wo private und wo öffentliche Einflüsse vornehmlich am Walten sind. Die immer fließenderen Wechsel von Personal zwischen privatem und politischen Sektor sind nicht nur eine Frage des Geldes, quasi einer grassierenden Korruption. Sie folgen der Logik dieser Verflechtung, weil für die Beteiligten selbst die Unterschiede zwischen den Sektoren hauptsächlich im Gehalt und der Repräsentation bestehen. Diese Entwicklung ist es, die uns Sorge bereiten muss. Der Ruf nach stärkerem Staatseinfluss selbst ist da eher hinderlich, denn er kann von den Wegbereitern und Profiteuren dieser Entwicklung problemlos für die eigene Agenda hergenommen werden. Stärkere staatliche Aufsicht des Bankensektors? Aber klar. Der Staatssekretär im Finanzministerium wird ab sofort auch im Vorstand der Deutschen Bank setzen, der Chefvolkswirt der EZB in engem Kontakt zum Aufsichtsrat von Goldman Sachs stehen.
Wäre das hier ein Buch, käme jetzt das Kapitel darüber was man tun muss. Das Problem ist, dass mir dieses Kapitel bisher völlig fehlt. Ich habe meine politische Sozialisation als Linker erfahren, und ich war lange Zeit gläubiger Jünger etwa Albrecht Müllers. Die Gedanken, die ich in diesem und anderen jüngeren Artikeln dargelegt habe, beunruhigen mich. Sie zerstören eine Art Ordnung, die ich bisher als gegeben angenommen habe, aber setzen (noch) nichts an ihre Stelle. Ein Zurück zur Orthodoxie der politischen Linken aber kann ich mir auch nicht vorstellen. Immerhin bleibt mir der Trost, darin nicht alleine zu sein. Auch andere, auf deren Gedanken ich hier zurückgreife - Colin Crouch, Frank Schirrmacher, Jürgen Habermas, Gabor Steingart, Georg Seesslen, Albrecht von Lucke - haben bislang keine echte Antwort, analysieren erst noch den jetztigen Zustand. Eine tiefe Ratlosigkeit hat mich ergriffen, und ich kann nur hoffen, dass Ideen gefunden werden, die aus diesem Dilemma herausführen könnten. Dass die politischen Linken sie finden könnten glaube ich immer weniger. Sie sind ohne es zu merken in einem Dilemma: stärken sie den Staat in ihrem Sinne, können sie zwar versuchen, entflechtend tätig zu werden. Da Demokratie aber immer auch die Möglichkeit eines Machtwechsels impliziert, können die so geschaffenen staatlichen Stärken - wie unter Rot-Grün geschehen - problemlos für völlig andere Zwecke eingesetzt werden. Der einzige Ausweg wäre, den demokratischen Machtwechsel zu verbauen. Diese Perspektive mal mehr, mal weniger bewusst einzunehmen habe ich den Linken bereits vorgeworfen.