Der Schlager-Marathon (Teil 1). Oder: Der lange Lauf gegen die Ü35-Verfettung.

Bevor Sie in Begeisterungsstürme ausbrechen, dass ich Marathon gelaufen bin, möchte ich vorwegschicken, dass die folgende Geschichte von meinen Teilnahmen beim Berlin Marathon 2010 und 2013 inspiriert ist. Um aktuell einen Marathon zu laufen, habe ich 1.000 Trainingskilometer zu wenig in den Beinen und fünf Kilo zu viel auf den Hüften.

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„Nein, einen Marathon werde ich nie laufen. Das ist nur was für Irre mit zu viel Zeit, die keinen Sex mehr haben.“ Das waren meine exakten Worte, als ich vor ungefähr fünf Jahren damit angefangen habe, regelmäßig zu joggen. Und doch stehe ich jetzt gemeinsam mit 40.000 Menschen auf der Straße des 17. Juni, warte auf den Start des Berlin Marathons und frage mich, wie das alles passieren konnte.

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Aber der Reihe nach: Mit dem Laufen habe ich begonnen, nachdem ich vor einigen Jahren zum 20-jährigen Abitur in meiner alten Heimat war. Damals stellte ich bei vielen Klassenkameraden eine Unschärfe in den Konturen fest. Selbst vormals sportliche Schulfreunde waren anscheinend jenseits der 30 von einer gewissen, sagen wir, Schwammigkeit heimgesucht worden. Kleine Wohlstandsbäuche brachten Hemden zum Spannen, zu dicke Hintern waren in zu enge Hosen gequetscht und bei dem ein oder anderen stellte ich mir die Frage, ob er einen modisch fragwürdigen Rollkragenpulli trug, bis ich erkannte, dass sich ein wulstiges Doppelkinn unter dem pausbäckigen Gesicht wölbte.

Da auch ich nur durch geschickte Klamottenwahl die ersten nicht zu leugnenden Anzeichen einer sich anbahnenden Ü35-Verfettung kaschieren konnte und meine Bundweite parallel zum Alter anstieg, fasste ich nach dem Klassentreffen den Entschluss, mehr Sport zu treiben. Beziehungsweise überhaupt Sport zu treiben. Schließlich wollte ich nicht irgendwann in den RTL2-Nachrichten landen, die darüber berichten, wie der Moppel von Moabit mit einem Kran aus der Wohnung im fünften Stock gehievt werden muss, weil das komplette Haus einzustürzen droht.

Mannschaftssportarten wie Volleyball oder Handball schieden aufgrund meiner soziophoben Persönlichkeitsstruktur aus für mich von vornherein aus. Schwimmen wiederum scheiterte an meiner Abneigung gegen öffentlichen Bäder (und gegen das Schwimmen selbst) und Fahrradfahren erschien mir in einer Großstadt als wenig erquicklich. Daher entschied ich mich fürs Laufen, denn dazu benötigt man nur ein Paar ordentliche Schuhe, und außerdem kann man an Orten und zu Uhrzeiten laufen gehen, wo man so gut wie keinen Menschen begegnet. Der ideale Sport für mich!

Der Schlager-Marathon (Teil 1). Oder: Der lange Lauf gegen die Ü35-Verfettung.

Laufen. Die ideale Betätigung für den menschenscheuen Sportskameraden.

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Laufen. Die ideale Betätigung für den menschenscheuen Sportskameraden.

Wer hätte das vor 20 Jahren gedacht. Damals hasste ich es, wenn wir im Sportunterricht 5.000 Meter laufen mussten. Was allerdings auch daran lag, dass unser Sportlehrer die Angewohnheit hatte, während des Laufens mit dem Zeigefinger ein Nasenloch zuzuhalten, um aus dem anderen Nasenloch den Rotz zu pusten. Wenn man hinter ihm lief und der Wind ungünstig blies, konnte es passieren, dass das eigene T-Shirt mit einer gelbgrünen Brosche verziert wurde.

Im Erwachsenenalter und ohne speuzenden Sportlehrer machte mir das Laufen aber richtig Spaß. Ich nahm sogar bei einigen Volksläufen und Halbmarathons teil und erzielte dabei ganz respektable Zeiten. Die Vorstellung einen ganzen Marathon zu laufen, fand ich jedoch wenig attraktiv. Zu lang, zu anstrengend und zu zeitaufwändig in der Vorbereitung. Und dass der erste Marathonläufer der Welt seinerzeit im Ziel tot zusammenbrach, ist auch nicht gerade eine Werbung für diese Strecke.

In einer Mischung aus geistiger Umnachtung und einem Midlife-Crisis getriebenen Zwang, mir etwas beweisen zu müssen, überraschte ich dann Ende letztes Jahres meine Familie und insbesondere mich, als ich mich für den Berlin Marathon anmeldete. Als weiteres Indiz eines fortschreitenden Hirnschadens setzte ich mir außerdem das Ziel, den Marathon in deutlich weniger als vier Stunden, nämlich idealerweise in dreieinhalb Stunden zu laufen. Etwas pathetisch nannte ich das Unterfangen „Projekt 210“, was wider Erwarten nicht cool, sondern ziemlich dämlich klang.

Aus Angst vor meiner eigenen Courage und vor den 42 Kilometern verbrachte ich die folgenden Monate damit, sehr viel zu laufen, wobei ich mich penibel an einen von mir akribisch ausgearbeiteten Trainingsplan hielt. Außerdem recherchierte ich ausgiebig, was man während eines Marathons isst und trinkt, und rechnete immer wieder aus, wie schnell ich laufen muss, um meine Zielzeit zu erreichen. Zwischendurch schickte mich die Frau, die anscheinend wenig zutrauen in meinen körperlichen Gesundheitszustand hatte, zu einem medizinischen Check-Up, wo man mir die Fitness eines 38-jährigen beschied, was ich beruhigend fand, da ich kurz zuvor meinen 38. Geburtstag gefeiert hatte.

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Mein wichtigstes Projekt in der Vorbereitung bestand jedoch darin, die richtige Musik zu finden, die mich beim Laufen zur Höchstleistung antreiben sollte. Klassische Musik erwies sich als ungeeignet, denn der Triumphmarsch aus Aida ist zwar eine gute Hintergrundmusik für den Zieleinlauf, nicht aber bei Kilometer 38, wenn man von Krämpfen geplagt herumtaumelt wie ein Giraffenbaby bei seinen ersten Gehversuchen. Der Rocky-Soundtrack wiederum war zu übermotivierend, so dass ich einige Male zu den Klängen von „Eye of the Tiger“ durch den Charlottenburger Schlosspark sprintete, um nach ungefähr 500 Metern fast zu kollabieren, so dass ich gezwungen war, den Lauf im Tempo einer altersschwachen Meeresschildkröte fortzusetzen.

Nach einigen weiteren Experimenten mit obszönem Gangsta-Rap, peruanischer Panflötenmusik und lateinamerikanischen Tanzrhythmen, stellte ich zu meiner eigenen Überraschung fest, dass 60er-Jahre Schlager und einige Hits aus der Neuen Deutschen Welle die idealen musikalischen Laufbegleiter für mich sind. Zugegebenermaßen eine Musikrichtung, die zu feuilletonistischem Nasenrümpfen ob der einfältigen Melodien und Texte führt. Aber der flotte 4/4-Takt der Lieder, der früher ganze Busladungen geriatrischer Musikfans in der ZDF-Hitparade zum ekstatischen Mitklatschen animierte, war der optimale Rhythmus für das Tempo meines läuferischen Niveaus.

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Und ja, Schlagertexte mögen etwas schlicht sein, aber gleichzeitig verbreitet ihre Heile-Welt-Romantik („Ich liebe das Leben“, Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“, „Ich bin verliebt in die Liebe“) eine positive Grundstimmung, die nicht ganz unwichtig ist, wenn man die Strapazen eines 42-Kilometer-Laufs vor sich hat. Da will man nicht unbedingt von R.E.M. hören, dass dies das Ende der Welt ist, wie man sie kennt, oder von der Bloodhound Gang ins Ohr gebrüllt bekommen, dass der Mutterficker gefälligst brennen soll. Also haute ich im Dienste des „Projekts 210“ meinen Handyspeicher voll mit mehreren Stunden Kultschlagern und NDW-Gassenhauern und fühlte mich gewappnet für meinen ersten Marathon.

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Nun stehe ich um 8 Uhr an einem Sonntagmorgen eingepfercht zwischen tausenden anderer Läuferinnen und Läufer und warte darauf, dass es endlich losgeht. Die Temperaturen sind kühl, der Wind ist windig und der Himmel ist bedeckt. Das passt ganz gut zu meiner Stimmung denn ich bin mir inzwischen sicher, dass die Anmeldung zu einem Marathon zu meinen dümmeren Ideen zählt. Um mich abzulenken, starte ich auf meinem Handy die Marathon-Schlager-Playlist. Cindy und Bert begrüßen mich mit einem vergnügten „Immer wieder sonntags“, ich hoffe inständig, dass ich nicht von nun an jedes Wochenende Marathon laufen muss.

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Kritisch mustere ich die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Die sind hochkonzentriert und tippen geschäftig auf ihren Laufuhren rum. Lauter hagere, drahtige Gestalten, die eine freudlose Askese ausstrahlen und ausschauen, als ernährten sie sich von nichts anderem als stillem Wasser, Rohkost und den Sohlen ihrer ausgelatschten Laufschuhe. Der durchschnittliche Körperfettanteil im Startblock liegt schätzungsweise im einstelligen Bereich und ich fühle mich wie eine übergewichtige Seekuh.

Dabei habe ich durch die viele Lauferei in den letzten Monaten etliche Kilos und zwei Hosengrößen verloren. Mein Versuch, mich in der Familie als „Der weiße Massai“ zu positionieren, um meinem reduzierten Körpergewicht ein wenig Anmut und Würde zu verleihen, scheiterte aber kläglich. Die Kinder meinten, „Der laufende Lauch“ passe viel besser und dabei klatschen sie sich hämisch lachend ab, als seien sie die missratenen Gören einer RTL2-Frauentausch-Familie. Irritierenderweise rief die Frau sie nicht unverzüglich zur Räson und maßregelte sie für ihr ungebührliches Benehmen, sondern sie kicherte stattdessen wie eine hormonverwirrte Teenagerin.

Aufgrund meiner häufigen Abwesenheit durch die viele Lauferei fehlte in der Familie anscheinend ein strenger väterlicher Einfluss, der die Kinder daran erinnert, ihre Eltern mit dem gebotenen Respekt zu behandeln. Allerdings traute ich mich nicht, diesen Gedanken laut zu äußern, denn so etwas führt schnell zu einer hitzigen Diskussion, im Laufe derer die Frau einem an den Kopf wirft, Strenge habe nichts mit männlich oder weiblich zu tun, sondern damit ob man ein kleinkarierter Spießer ist, der nicht auch mal Fünfe grade sein lassen kann.

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Ich konzentriere mich auf den bevorstehenden Marathon, werde aber von einer Wespe gestört, die um meinen Kopf schwirrt. Derweil singt Karel Gott von der „Biene Maja“, was darauf hindeutet, dass er im Biologieunterricht nicht sonderlich gut aufgepasst hat. Andererseits wären ein Lied und eine Fernsehserie über eine „Wespe Maja“ sicherlich nicht so erfolgreich gewesen.

Mit ein paar fuchtelnden Handbewegungen verscheuche ich die Wespe, so dass sie genervt von mir ablässt und sich stattdessen auf dem Hintern einer Läuferin vor mir niederlässt. Dem Hintern einer äußerst attraktiven, gut gebauten Mittzwanzigerin mit blondem glänzenden Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat. Da es für die junge Frau sehr enttäuschend wäre, wenn ein Wespenstich in den Allerwertesten dafür sorgt, dass der Lauf für sie endet, bevor er überhaupt anfängt, und da ich mich nicht der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen möchte, nehme ich den Kopfhörerstöpsel aus meinem rechten Ohr und weise die Frau diskret darauf hin, dass eine Wespe auf ihrem Po sitzt.

Die Frau versucht hektisch die Wespe zu erblicken, was ihr aber nicht gelingt. Deswegen sagt sie mit leichter Panik in der Stimme: „Mach die mal weg!“ Eine Aussage, die mich gleichermaßen überrascht und überfordert, da mich fremde, gutaussehende Frauen normalerweise nicht auffordern, ich solle ihnen an den Hintern langen. (Meine Frau freut sich sicherlich, dies zu lesen.)

Während ich fieberhaft überlege, wie ich die Wespe vertreiben kann, ohne der Frau unbotmäßig am Gesäß rumzufummeln, schnulzt der allzeit bereite und stets willige Roland Kaiser „Manchmal möchte ich schon mit dir“ vor sich hin, was war mir für meine delikate Aufgabe keine große Hilfe ist. Ich schwitze, als befände ich mich bereits bei Kilometer 35, aber schließlich gelingt es mir doch, dass Tier zu verjagen, ohne die Frau unsittlich zu begrapschen und im Startbereich eine Aufschrei-Diskussion auszulösen.

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Nachdem ich wieder Normalpuls erreicht habe, meldet sich meine Blase bei mir. Ich muss schon den ganzen Tag auf Toilette. Bereits mehr als sieben Mal. Die Anspannung vor dem großen Lauf verlangt ihren Tribut. Eigentlich ist meine Blase schon ganz leer und es kommen nur noch ein paar blasse Tröpfchen raus, wie bei einem Rentner, der mit Prostataproblemen kämpft. (Eine urologische Detailinformation, die Sie, werte Leserinnen und Leser, bestimmt zu schätzen wissen.) Aber die Nervosität versucht trotzdem, sich ihre Bahn zu brechen. Das kennt man von jungen Welpen, die einem vor Aufregung auf die Füße pinkeln.

Für einen Mann meines Alters ist es aber gesellschaftlich nicht akzeptiert, anderen Menschen auf die Schuhe zu pieseln. Zumindest sofern man sich nicht auf dem Oktoberfest befindet. Im Starblock ist es jedoch so eng, dass es undenkbar ist, zum Straßenrand zu gehen und sich kurz in die Büsche zu schlagen. Ich versuche durch Selbstsuggestion meine Blase davon zu überzeugen, dass alles im grünen Bereich ist und es keinen Grund gibt, sich zu entleeren.

Neben mir steht ein älterer Mann, weit jenseits der 60, der sich anscheinend weniger Gedanken um die soziale Erwünschtheit öffentlichen Urinierens macht. Er fummelt unter seiner Mülltüte, die er sich als Schutz gegen die Kälte übergezogen hat, an der Hose rum und lässt es einfach inmitten der Menge fröhlich plätschern. Inzwischen trällert Udo Jürgens davon, dass mit 66 Jahren noch lange nicht Schluss ist, sondern das Leben erst so richtig anfängt. Wahrscheinlich stand er auch noch nie neben einem Mittsechziger, der inmitten einer Menschenmenge auf den Boden pinkelt und danach eine bepullerte Mülltüte auszieht, um diese an den Straßenrand zu werfen, wo sie einem Ordner auf den Kopf fällt. Sonst wäre seine Jubel-Hymne über rüstige Rentner sicherlich weniger enthusiastisch ausgefallen.

Glücklicherweise ertönt in diesem Moment der Startschuss, so dass Bewegung ins Läuferfeld kommt und ich nicht länger über den Pinkel-Vorfall nachdenken muss. Die Umstehenden klatschen sich alle motivierend ab und der Puller-Opa hält mir erwartungsfroh seine Pfote entgegen, mit der er gerade noch seinen Penis abgeschüttelt hat. Ich beschließe, es bei einem knappen Nicken zu belassen und laufe los.

Als ich die Startlinie überquere, stimmt Udo Jürgens „Heute beginnt der Rest deines Lebens“ an, was für mich weniger wie eine Carpe-Diem-Motivation, sondern angesichts der bevorstehenden 42 Kilometer eher wie eine Drohung klingt.

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Fortsetzung folgt.

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