Der Nisko-Plan ✡ Erste Deportationen gen Osten 1939

Nach dem Überfall auf  Polen am 1. September 1939 und den Kriegserklärungen seitens Frankreich und Englands war für Hitler in Erfüllung gegangen, was er sich wünschte, nämlich Kriegswirren in Europa. Doch immer gingen zu seinen Kriegsgelüsten auch, die ‚Vernichtung des Weltjudentums’ für ihn einher, beides stand für ihn in engem Zusammenhang, ebenso die unterschiedliche Handhabung des Kriegsgeschehens im Osten, beziehungsweise im Westen. Wurde der Westfeldzug später weitgehenst nach ‚kriegsrechtlichen’ Gesichtspunkten geführt, so sah er selbst dahingehend im Osten keine Notwendigkeit, da er die Menschen im Osten pauschal als ‚Untermenschen’ betrachtete. Die jüdische Bevölkerung Europas rangierte hier für ihn noch weit darunter. So muss das Kriegsgeschehen mit dem Schicksal der Juden in einem gewissen Zusammenhang gesehen werden, denn für Hitler gehörten beide eng verknüpft miteinander zusammen. Am 21. September 1939 beorderte Adolf Hitler den Chef des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich und die Leiter der Einsatzgruppen aus dem neu eroberten Polen zu sich nach Berlin zum Rapport. Eines der Ziele dieser ‚Konferenz’, die eher in Monologen seitens Hitlers mündeten, hieß, dass er ein ‚Judenreservat’ an der östlichen Grenze des nunmehr ‚vergrößerten’ Deutschen Reiches für erstrebenswert halte. Hitler dachte an die Deportation von Juden vor allen Dingen aus Österreich und dem besetzten Polen, denn obwohl ihn sein Antisemitismus mehr als antrieb, so war Hitler doch ein Taktiker, er wusste (noch) nicht wie die deutsche Gesellschaft auf die Deportation reagieren würde, hier war er sich ‚seiner’ Wiener weitaus sicherer, dass diese das gelassen, wenn nicht sogar unterstützend hinnehmen würden; doch wollte der den Kriegsgegner England nicht zu sehr ‚erzürnen’, hoffte er doch noch diesen in sein ‚Boot’ holen zu können. Auch wenn wir heute solchen Gedankenkonstrukten kopfschüttelnd gegenüber stehen, so muss die Sichtweise Hitlers auf die damalige Zeit und seinen Horizont betrachtet werden. So wurde in dieser Besprechen, bei auch Eichmann anwesend war, die Grundlage für die erste Aussiedelung jüdischer Menschen gelegt, er firmiert unter dem Namen des ‚Nisko-Plan’. 

Nisko-Plan

Dieser sogenannte ‚Nisko-Plan’ unterstand dem Reichssicherheitshauptamt, federführend war Adolf Eichmann.

Der Name des ‚Nisko-Plans’ leitet sich durch die polnische Stadt ab, sie liegt knapp 90 km südlich von Lublin an der San und ist eine Kleinstadt von knapp 20 000 Einwohnern. Rund um Nisko erstrecken sich weite Waldflächen, da die Polen hier nach dem Ersten Weltkrieg versuchten Industrie anzusiedeln, war der Ort sowohl straßentechnisch wie auch per Schiene gut erreichbar. Adolf Eichmann selbst bestimmte den Ort, um den ‚Führer-Willen’ zur Deportation in die Tat umzusetzen. Eichmann veranlasste am 9. Oktober 1939 in Nisko ein Lager zu erreichten. Von der Wiener jüdischen Gemeinde forderte er eine Liste mit 1.000 bis 1.200 Arbeitern, bestehend aus Tischlern, Zimmermännern und Mechanikern, anzufertigen und diese für 4 Wochen für einen Aufenthalt in Mährisch-Ostrau abzukommandieren. Wien, so versprach Eichmann, sollte so binnen Dreivierteljahren ‚judenfrei’ gemacht werden. Ferner sollten Ärzte, Köche und weiteres ‚Versorgungspersonal’ mitgeschickt werden. Für die Wiener Kultusgemeinde war es das erste Mal solch eine Liste zusammenzustellen. Alle dachten, dass es sich um eine groß angelegte Umsiedlungsaktion handeln würde, es gab sogar Männer, die sich feiwillig meldeten, da sie hofften, gute, aber einfache Lebensbedingung für ihre Familien zu schaffen. In Wien dachte man nicht an ein wirkliches Lager, sondern eher an eine neu zu errichtende jüdische, kleine Stadt. Da der Aufenthalt nur auf vier Wochen begrenzt wurde, breitete sich dahingehend auch kein Argwohn aus. So folgte noch weiterer Judentransport am 27. Oktober insgesamt 2.072 Insassen aus Kattowitz und Wien nach Nisko.

Doch das gesamte Unternehmen scheiterte, zum einen wurde die Eisenbahnbrücke über den San bei Sosnowiec unpassierbar, zum anderen benötigte die Wehrmacht Transportmittel, die sie für sich beanspruchte. Bereits im April 1940 wurde das Lager wieder aufgelöst, vor allen Dingen hatte Heinrich Himmler ein Interesse daran, dies Lager nicht auszubauen, da er in und rundum Nisko eine Ansiedlung für Volksdeutsche plante. So gab er in Hinsicht auf die Auflösung des Nisko-Plans technische Schwierigkeiten an, die, in ihrer Darstellung von Hitler akzeptiert wurden. Hierzu gibt es eine Randnotiz Hitlers, der die Idee Himmlers, eine groß angelegte Judendeportation gen Afrika befürwortete.

So ist der Nisko-Plan nur eine äußerst kleine Randnotiz in der Historik der Judendeportation durch die Nationalsozialisten, doch zeigt dieser Plan, zum einen Hitler als Initiator auf und zum anderen zeigt er, das die Konzentration und Deportation von europäischen Juden tief verankert war in den nationalsozialistischen Denkmustern. Da in den Ausarbeitungen Eichmanns gar nichts über die Versorgungslage in Hinsicht auf die fast 4 000 Deportierten ausgearbeitet wurde, sie also wenig, bis gar nicht in Betracht gezogen wurde, kann davon ausgegangen werden, das der Faktor des Sterbens dieser Männer völlig ins Kalkül gezogen wurde. Der Historiker Dieter Pohl urteilt über die Abschiebepläne und ‚Versuchstransporte’ Eichmanns 1939: „Schon hier ist die Absicht eines langfristigen Genozids offensichtlich: Im „Reservat“ sollten die Opfer an den schlechten Lebensbedingungen zugrunde gehen, die damals noch lebende würde die letzte Generation der Juden sein.“

Das Scheitern seines Plans machte Adolf Eichmann kurzfristig einen Strich durch die Rechnung; letztendlich wirkte sich das Scheitern allerdings nicht auf seine Karriere aus, denn er ‚lernte’ schnell aus dieser ‚Erfahrung’, griff Himmlers Idee von Afrika auf und arbeitete nun am sogenannten ‚Madagaska-Plan’, als auch dieser, kriegsbedingt, scheiterte, stieg er zum zentralen Organisator der planmäßigen Judenvernichtung im Holocaust auf.

Doch was geschah mit dieser riesigen Anzahl von Männern, die da auf freiem Feld kampierten? Die meisten von ihnen wurden über die Grenze in die Sowjetunion getrieben, denn nun hieß das einzige Ziel, diese Männer aus dem Bereich der Nationalsozialisten zu entfernen. Nach lautstarken Protesten seitens der Sowjetunion, wurden die letzten 501 im Lager verbliebenen jüdischen Männer an ihre Heimatorte zurückgebracht.

Leopold Sonnenfeld, geb. 1892 in Wien, Metallarbeiter. Sozialdemokratische Arbeiterpartei, auch nach dem Verbot 1934 politisch aktiv. März 1938 Verlust des Arbeitsplatzes aus rassistischen Gründen, danach Gelegenheitsarbeiten. Leopold-Sonnenfeld-Nisko-TransportDeportation mit dem ersten Nisko-Transport am 20. Oktober 1939. Er überlebte in sowjetischen Arbeitslagern und berichtete 1945 nach seiner Rückkehr: „Inzwischen ist die G'schicht kommen mit dem Verschicken. Da sind wir in die Seitenstettengasse reingeholt worden, der Tempel war ja dann zu einem Lager umgearbeitet. Und es hat geheißen, im Oktober muss ich weg, muss ich Österreich verlassen. Wir müssen uns in Polen ansiedeln. Wir sind dann gesammelt worden, und am 20. Oktober 1939 sind wir weggefahren vom Aspangbahnhof. Ich hab mir mein Werkzeug mitgenommen, das ich in dem kleinen Kastl gehabt hab. Da hab ich mir mitgenommen, was ich als Schlosser, als Metallarbeiter brauchen kann. Und die Ärzte haben sich ihre Sachen mitgenommen, Schneidermeister haben sich ihre Sachen in die Waggons verladen, um sich draußen neu anzusiedeln. Am Aspangbahnhof ist unsere österreichische Polizei zugestiegen. Wir haben nicht gewusst, was mit uns ist. In Mährisch-Ostrau ist die Polizei ausgestiegen und die Gestapo zugestiegen. Jetzt haben wir gewusst, was los ist. Sie haben uns alle Dokumente weggenommen, und wir sind weitergefahren und bis in die Nähe von Lublin gekommen. [Es handelte sich um die Gegend von Nisko.] Dort sind wir auswaggoniert worden. Unser Werkzeug haben wir nicht mehr gesehen. Die Schneider und die Schuster haben von ihrem Werkzeug nix mehr gesehen, das ist alles in den Waggons geblieben. Wir sind zu einem Zug formiert worden: marschieren! Da sind wir marschiert ein paar Kilometer bis zu einer Wiese. Dort haben wir uns alle im Kreis aufstellen müssen. Es ist unser Handgepäck auf einen Haufen gelegt worden, alles was wir gehabt haben, alles auf einen Haufen. Wir haben allerdings auf unseren Koffern einen Namen draufgehabt. Auch am Rucksack hat jeder den Namen draufgehabt. Zwei Rucksäcke und ein Kofferl hab ich gehabt, ich kann mich heut noch erinnern. Und wir haben uns im Kreis aufstellen müssen, alle miteinander, 1000 Menschen waren wir. Dann ist der Befehl gekommen: Jeder holt sich seine Sachen. 1000 Menschen stürzen auf den Haufen zu. Das ist in eine Rauferei gemündet. Jetzt hat man endlich ein Stückl gefunden. Das hat man dort auf dem Platz hingestellt. Bis wir das zweite geholt haben, haben die polnischen Banden das andere schon weggenommen gehabt, sodass einem jeden dann nur ein Packl übergeblieben ist, was er zumindest gehabt hat. Dann hat ‘s geheißen: “So, jetzt könnts gehen! Wer im Umkreis von fünf Kilometern innerhalb von drei Stunden angetroffen wird, wird sofort erschossen. Jetzt geht’s zu euren Freunden!” Uns ist nur der Weg geblieben nach Russland. Andere Wege waren ja nicht offen. Einer hat nicht wollen vom Platz gehen, den haben sie erschossen, einer von uns, ein junger Mensch mit 18, 19 Jahr. Der hat nicht wollen. “Ich will meine Sachen haben”, hat er geschrieen. Zuerst haben die ja in die Luft geschossen. Aber der ist dort geblieben. Was ist uns übergeblieben als marschieren! Jetzt waren natürlich auch gebrechlichere Menschen darunter. Da haben wir Offiziere gehabt, jüdische Offiziere, die den Ersten Weltkrieg mitgemacht haben. Darunter war auch der Jellinek, der war auch Offizier im Ersten Weltkrieg. Der hat in den ganzen vier Zügen gebildet zu 250 Mann. Der hat den Weg durch Russland, durch Galizien, gekannt, so halbwegs, hat gesagt, dort und dort sollen wir marschieren, und da sind wir marschiert. [...] Jetzt waren Leute dabei, die haben halt ihren Koffer nicht tragen können, ältere Menschen. Da sind so polnische Fuhrwerker gewesen, die haben aufgeladen. Sie sind vielleicht einen Kilometer gefahren, dann haben die auf die Pferde eingedroschen als wie und sind davongefahren, weg waren sie, sind mit den Koffern und allem davongefahren. Die Leute haben geweint und geschrieen. So sind wir halt sechs Tage marschiert, bis wir an die russische Grenze gekommen sind. Dort haben wir uns versteckt, weil hinter uns ist ja die SS gerannt. Wir sind ja um unser Leben gerannt, ein jeder. So sind wir gangen, bis wir an die russische Grenze gekommen sind, zum Fluss Bug. Dort haben wir uns in irgendwelchen Bauernhäusern, die verlassen waren – es war ja alles verlassen – versteckt. Da waren Menschenschmuggler, die haben gegen Bezahlung die Leute über die Grenze rübergeschmuggelt nach Russland. Der Bug hat die Grenze gebildet. Aber wir haben dann nur mehr Zehnerschaften gemacht, nicht mehr große Gruppen, weil die Offiziere haben gesagt, 250 Mann bilden eine Angriffsfläche. Zehnerschaften können leichter durch die Wälder. Jetzt haben wir dann verhandelt mit den Menschenschmugglern. Die haben uns angeboten: in der Nacht um halb zwölf einer, einer um eins. Hab ich gesagt, in der Nacht gehen wir nicht, erst in der Früh, wenn 's im Morgengrauen ist. Ich trau denen nicht. Die Menschenschmuggler haben uns an den Bug geführt. Da war ein Baum, der hat von einem Ufer zum anderen rübergeragt. Und über den sind wir wie die Affen rübergeklettert, ans andere Ufer rüber gekrochen. Da haben die Deutschen wieder einen erwischt. Der ist ins Wasser reingefallen, den haben wir zurücklassen müssen. Was können wir machen? Das war ein junger Mensch, dem haben sie nachgeschossen. Wir sind dann rüber und auf russischen Boden gekommen. Jetzt haben uns die Russen nicht reinlassen wollen. So haben wir dort gelagert eine Weile. Der Russe hat gesagt, er muss erst Erlaubnis holen, telefonieren. So sind wir gesessen vielleicht so zweieinhalb Stunden. Sie haben uns dann den Übertritt erlaubt, wir sind dirigiert worden zum nächsten Kommando. Die haben uns gesagt, wo wir hinmüssen. Sie haben uns einmal einquartiert in einer Schule, dort waren lauter Strohlager. In der Früh haben wir uns gemeldet bei dem Kommando. Inzwischen sind die anderen schon nachgekommen, die Zehnerschaften. Da waren wir schon mehr, vielleicht zwei-, dreihundert werden wir gewesen sein. Bei strömendem Regen sind wir draußen gestanden bis halb drei Uhr Nachmittag. Dann haben sie uns rein gerufen, einen nach dem anderen, und haben uns weggenommen, was wir in den Taschen gehabt haben: Bleistift, Uhren, Ringe, alles. Und dann haben sie gesagt: "Und jetzt könnts gehen, marschierts!" So sind wir marschiert sechs Tage bis Lemberg. Gelebt haben wir vom Betteln. Da haben russische Militaristen so Lazarette gehabt. Dort sind wir immer um eine Suppe betteln gegangen. Ein Stückl Brot haben wir gekriegt oder so was. So sind wir gegangen und bis Lemberg gekommen. In der Nacht vom 30. zum 31. Oktober sind wir in Lemberg angekommen.“

Keine 50 Männer der ersten Deportationen nach Nisko überlebten die Zeit der Shoah, kein Mahnmal erinnert an sie und auch in der Geschichtsschreibung ist dieser Nisko-Plan und das Schicksal der Menschen kaum eine Zeile wert…

Weiterlesen:

Madagaskar • Plan zur Deportation europäischer Juden

➼ Die Konferenz von Évian • Ein Scheitern der Welt

darüber hinaus

➼ Antisemitismus • Versuch einer Definition

➼ Adolf Hitlers ‚gläubiger’ Antisemitismus

➼ Die ‚Nürnberger Gesetze’ • Wegbereiter zum Holocaust

➼ Die frühen Deportationen jüdischer Mitbürger

Bild 1: Buchtitel Nisko-Plan – Quelle: google.com · Bild 2: Leopold Sonnenfeld – Quelle: doew.at 


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