Der Moment, an dem die Welt stillstand

Der Moment, an dem die Welt stillstandWiedermal ein Spiel des Jahres, wiedermal viel Wind um nichts. Damit ja nicht zu viele mitteldeutsche Fußballfreunde auf die Idee kommen, sich das diesmal wieder als Pokalspiel angesetzte Landesderby zwischen dem Halleschen FC und dem FC Magdeburg live anzuschauen, hat der landeseigene Fußballverband in seiner in langen Jahren peinlicher Ansetzungsfestivals erworbenen Weisheit beschlossen, das Viertelfinale seines größten Wettbewerbes diesmal an einem Arbeitstag zur besten Büroarbeitszeit ausspielen zu lassen. Im November war das Spiel aus Angst vor einer Durchführung noch abgesagt worden, nun aber gilt es - und der gastgebende Verein arbeitet kräftig mit an der Ausdünnung des Tribünenbesatzes. Er vergibt die Karten, als wären es welche zur britischen Königshochzeit. Aber schließlich, wer es nicht weiß, reden wir hier vom größten sportlichen Ereignis in der ehemaligen Chemiearbeiterstadt Halle-Neustadt seit der letzten Durchfahrt der Friedensfahrt. Und zugleich dem größten für die nächsten hundert Jahre, denn nach der Saison zieht der HFC zurück ins heimische Kurt-Wabbel-Stadion. Das dann allerdings auch schon wieder anders heißen wird.
Trotzdem oder gerade deshalb sind denn die Ränge in Sachsen-Anhalts derzeitiger Fußballhauptstadt auch nicht restlos gefüllt - und das in einem Stadion, dass eigentlich 10000, zur Feier solcher Begegnungen aber nur 4000 Menschen fasst. Dafür sind die Herren mit Tagesfreizeit da, die Geschicke des Volkes lenken: Neben dem unverkennbaren Bauernschädel des fast schon geschiedenen Bauminister Dähre, taucht wie immer bei absehbaren Fußballfeiern sein SPD-Gegenspieler Jens Bullerjahn auf, auch dessen für Verbote aller Art zuständiger Genosse Rüdiger Erben outet sich angelegentlich des Ereignisses als verkappter Fan, man weiß nur nicht, von wem.
Koalitionsverhandlungen auf der Vip-Tribüne? Bullerjahn, der "langjährige Anhänger des HFC" (Bullerjahn) wird später erst in der 66. min wieder vom Schnittchenschnabulieren kommen, denn er kennt sich aus. Vorher passiert nämlich nicht viel. Die erste Halbzeit hatte bewiesen, dass der FC aus dem Dorf in der Regionalligatabelle zurecht ziemlich weit unten steht, und er hatte zugleich ein Geheimnis darum gemacht, warum der HFC nach einer bescheidenen Hinrunde bisher eine Klasse Rückserie spielt. Ein Kopfball von Magdeburger Seite ans Außennetz und ein Schuss von Lindenhahn über den Kasten ist so ziemlich alles, was altgediente Reporter als "Zählbares" in ihre berühmten "Blöcke" notiert hätten.
Erst als Bullerjahn mit hoffentlich erfolgreich eingetüteten Vorschläge für die Besetzung der wichtigsten Posten im Land mit den wichtigsten Männern weit und breit wieder auf seinem Platz sitzt, nimmt die Partie Fahrt auf. Jetzt wechselt Halles Trainer Sven Köhler Telmo Texeira ein, jetzt zeigt der Gastgeber, warum er weiter oben steht. Wieder ist es Lindenhahn, der beinahe trifft, Magdeburg wackelt, aber Magdeburg fällt nicht. Trainer Wolfgang Sandhowe will sogar noch mehr als einen achtbaren Einzug in die Verlängerung. Mit Biran bringt der Magdeburger einen Stürmer, der früher das Etikett "gefährlich" anhaftete. Ist er auch, vor allem für das eigene Spiel: Nachdem Biran sich im Strafraum hinwirft und Elfmeter reklamiert, sagen ihm mehrere HFC-Spieler, dass er beim Fußball ist und nicht beim Strickkurs. Biran, als gebürtiger Syrer kein Mann, der sich gern belehren lässt, wenn die Belehrung als Beleidigung gemeint ist, fährt der Kopf aus. Telmo Texeira fällt um wie von der sense gefällt. Rote Karte wegen Tätlichkeit.
Der Moment, an dem die Welt stillstandDie Stimmung ist, für Verhältnisse der Stadt, die keine Kulturstadt mehr ist und eben erst den Schock verdauen musste, auch den sinnfreien Titel "Stadt der Wissenschaft" nicht verliehen bekommen zu haben, am Kochen. Halle mit Chancen, Magdeburg mit Hoffnung, dass doch keiner reingeht. Der Favorit stürmt, doch der Favorit wankt auch. Dann Verlängerung. Magdeburg mauert mit zehn Mann, Halle hat noch mehr Chancen. Aydemir wird freigespielt und schießt aus 14 m am langen Pfosten vorbei. Der junge dennis Mast muss raus, Müller kommt und köpft vorbei. Aydemir ebenso. Die Zettel füllen sich mit Notizen über nichts Zählbares. Köhler reagiert noch mal und bringt den verlässlichen Pavel David, der eigentlich von Anfang an erwartet worden war, für Lindenhahn, der sich aufgerieben hat. Der Tscheche nimmt den Ball, geht links als außen sehr geschickt durch, flankt und Bejamin Boltze versenkt den Ball mit dem Kopf. Es ist die 116. Minute, der Moment, an dem die Fußballwelt der Neubauvorstadt stillsteht.
Der Rest sind Tränen der Freude, ist Taumel von der Fanecke bis zur Schnittchenfraktion mit den Großkoalitionären. Halle rächt die schmach vom Ligahinspiel, Halle steht wieder im Halbfinale. Dort wartet mit Landsberg ein Riese von Zwergenwuchs, der Finalgegner des Siegers wird die Elf von Piesteritz sein. Wenn da noch was schiefgeht, liegt es nicht am Gegner.


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