“Gute liebe FAZ”, schrieb die Titanic gestern, “es ist ja nie so einfach, den passenden Einstieg in einen Text zu finden.” Stimmt so, aber der eigentliche Aufhänger für mich waren vor allem die weiterführenden Fragem, die gestellt wurden: “War es Unfähigkeit oder einfach Unvermögen? War es der unfähige Praktikant oder schlicht ein FAZ-Redakteur?”
Solches ging mit durch den Kopf, als ich heute in der FAZ lesen musste: “Der Kapitalismus ist nicht an allem Schuld” – psychische Krankheiten seien so schlimm wie noch nie und der Schuldige sei längst gefunden – “der ach so böse Kapitalismus.” Alles Quatsch findet die FAZ-Redakteurin Bettina Weiguny. Und dann legt sie los, und nicht alles was sie schreibt, ist totaler Unsinn, denn Burnout ist ja nun tatsächlich eine Modekrankheit, und es klingt viel interessanter, wenn man ein Burnout-Syndrom hat und nicht einfach Grippe, Kater, oder was man früher halt hatte, wenn man sich arbeitsunfähig fühlte.
Dann setzt aber mit der Frage “Warum leiden wir jetzt wieder an der Seele, wo es uns besser geht denn je?” der Unsinn massiv wieder ein. Denn ganz offensichtlich ist die Lebenswelt einer FAZ-Autorin eine ganz andere als die normaler Menschen in Deutschland, denen es eben nicht besser geht denn je – “uns” geht es keineswegs gut und schon gar nicht besser.
Da muss man nur mal die vielen Burnout-Kandidaten fragen, die bei Amazon zum Mindestlohn jeden Tag 20 Kilometer durch Lagerhallen hetzen oder die Pakete ausfahren, die Alte und Kranke im Akkord versorgen müssen, anderen Menschen für einen Hungerlohn bezahlbare Mahlzeiten zubereiten, Klamotten zusammennähen, die sie sich selbst nicht leisten können, Betten machen, Toiletten putzen, im Discounter hinter der Kasse sitzen, wenn sie nicht gerade Regale nachfüllen müssen – es gibt so viele unglaublich schlecht bezahlte Scheißjobs, in denen man trotzdem Stress ohne Ende hat: Das sind eben nicht die Burnout-Promis, die sich Luxusprobleme leisten – auch wenn es die natürlich auch gibt, sondern die vielen Menschen, die für ihr Überleben hart arbeiten müssen, und zwar immer härter.
Und die Anforderungen steigen ja nicht nur im Job, wo ständig und immer an der Kostenschraube gedreht wird – und in vielen Bereichen lässt sich halt nur an den Personalkosten sparen und da wird gespart, dass es quietscht. Auch sonst spüren die Leute die Kostenschraube, denn außer ihrer Arbeit wird alles immer teurer: Mieten, Energiekosten, Ernährung und so weiter – erstaunlich, dass man als freie Redakteurin für den Wirtschaftsteil der FAZ offenbar so viel verdient, dass man die Sorgen und Nöte von “uns” da draußen in der freien Wirtschaft gar nicht mitbekommt: “Wir arbeiten viel weniger als unsere Eltern und Großeltern. Sind seltener krank. Die Zahlen der Frühverrentung sinken seit vielen Jahren. Wir haben mehr Urlaub, interessantere Tätigkeiten und viel mehr Freiheiten als früher.”
Echt jetzt?
Okay, meine Eltern hatten in ihrer Jugend nix zu lachen, die wurden Ende der 50er, Anfang der 60er nach Strich und Faden ausgebeutet. Aber in den 70er und 80er Jahren lief es richtig gut für diese Generation: Die haben mit einem Alleinverdiener-Haushalt ein Haus gebaut, ein Mittelklasse-Auto und Familien-Urlaube mit den Kindern waren trotzdem noch drin. Klar hat mein Vater viel gearbeitet, 40-Stunden-Woche halt, und pflichtbewusst wie er war, auch immer noch Akten mit nach Hause mitgenommen. Meine Mutter als Hausfrau hat sich unglaublichen Stress mit dem Haushalt gemacht – aber die haben beide alle paar Jahre zusätzlich zum Urlaub mal eine Kur finanziert bekommen, drei bis vier Wochen plus ein, zwei Wochen Nachkur versteht sich – da kriegt man so schnell keinen Burnout.
Für einen vergleichbaren Lebensstandard muss man heute aber wirklich ranklotzen – ich kenne kaum jemand, der das unter aktuellen Bedingungen hinkriegt. Also es gibt schon welche, die gut verdienen, die haben dann aber keine Familie und schon gar keine Kinder. Diejenigen, die Kinder haben, so wie ich, die haben dann halt nicht die geilen Jobs, sondern welche, von denen man unter heutigen Bedingungen irgendwie über die Runden kommt.
Und dazu kommt, dass ich beide Jobs meiner Eltern mache – ich bin Alleinverdienerin und komplett für Haushalt und Kinder zuständig. Das ist zugegebenermaßen ein Sonderfall, den ich so nicht angestrebt habe, aber das passiert in heutigen Zeiten gar nicht so selten. Wobei: Ist kriegsbedingt ja auch früher passiert, meine Oma musste als Kriegerwitwe drei Kinder alleine aufziehen. Sie hatte einen Job bei der Post – der ihr später eine überdurchschnittliche Rente eingebracht hat. Damals, als die Post noch staatlich war. Davon können die DHL-Auslhilfskutscher heute nur träumen.
Und nicht nur die träumen – ich habe in meinem bisherigen Arbeitsleben, das ich zugegebenermaßen spät begonnen habe, weil ich mir ein relativ langes Studium mit insgesamt 14 Semestern inklusive Auslandsjahr und einem Semester Baby-Urlaub gegönnt habe, noch nicht eine einzige Kur genehmigt bekommen. Ich weiß nicht, ob ich einen interessanteren Job habe als mein Vater – auf jeden Fall habe ich einen sehr viel schlechter bezahlten, obwohl ich einen besseren Abschluss gemacht habe. Wenigstens in diesem Detail habe ich den Erwartungen meiner Eltern entsprochen.
Ein interessanteres Leben habe ich möglicherweise schon – zwangsläufig kenne ich mich sowohl mit wirtschaftlicher Haushaltsführung als auch im Arbeitsleben aus, ich bekomme unfallfrei ein genießbares Essen auf den Tisch, kann Haushaltgeräte im Schlaf bedienen, mich mit dem Finanzamt um Kinderfreibeträge streiten, Mützen stricken, Smartphones und Computer einrichten, Dielen abschleifen, ich habe schon Vergaser-Lehrlaufdüsen ausgewechselt und Wände verputzt, bin als Praktikantin in einem Verlag für die Chefsekretärin eingesprungen und für meinen aktuellen Chef bin ich Mädchen für alles in leitender Funktion, die eigentlich sehr spezifisch ist und Fach- und Branchenkenntnisse ohne Ende voraussetzt, aber natürlich nicht entsprechend vergütet wird.
Und ja, liebe FAZ, daran natürlich ist der Kapitalismus schuld – dieses Wirtschaftssystem beschert “uns” nämlich keinen Wohlstand – im Gegenteil, es enthält ihn uns vor! Mir hat der Kapitalismus noch nie irgendwas geschenkt – egal, was ich haben will, ich muss Geld dafür auf den Tisch legen. Oder vom Konto abbuchen lassen. Und das hat mir auch keiner geschenkt. Selbst wenn zu einem erfüllten Leben Arbeit gehört, wie du schreibst. Klar ist es ganz nett, sinnvolle Dinge zu tun. Aber den ganzen Tag in der Tretmühle – das ist halt nicht erfüllend, sondern auszehrend. Frustrierend. Es macht einen kaputt.
Und wenn die Leute das jetzt Burnout nennen, wofür sie vorher keinen Namen hatten, dann ändert es nichts an der Tatsache, dass das Leben im Kapitalismus sie verschleißt – selbst wenn jetzt wieder weniger Burnout-Fälle bei Krankenkassen gemeldet werden. Die Leute haben vermutlich keine Zeit, zum Arzt zu gehen, weil sie noch mehr arbeiten müssen. Und die Krankenkassen haben ja seit Jahren eine sehr originelle Strategie, Kosten zu sparen: Sie limitieren einfach die Budgets, die Ärzte mit ihnen abrechnen dürfen und oh Wunder: Plötzlich sind die Leute viel weniger krank.
Auch das ist das segensreiche Wirken des Kapitalismus: Früher, als die Ärzte alles abrechnen konnten und durften, sind die Erkrankungen und damit die Gesundheitskosten gestiegen – war ja auch ein prima Geschäftsmodell. Als sich herausgestellt hat, dass die Krankenkassen da nicht hinterher kommen, wurde das geändert und das neue Geschäftsmodell ist, dass die Leute wie früher mit ihren Krankheiten wieder selbst klar kommen sollen, nur trotzdem brav in die Krankenkassen einzahlen.
Wenn sich nun herausstellt, dass es zu teuer wird, die Leute wegen Burnout krank zu schreiben, weil sie ja lieber ranklotzen sollen, egal, wie es ihnen dabei geht, dann gibt es halt plötzlich weniger Burnout. Ist auch in anderer Hinsicht praktisch – wenn die Leute ihren Burnout nicht mehr auskurieren können, dann sterben sie wieder früher und man spart bei der Rente. Eine echte Win-Win-Situation. Und daran ist definitiv der Kapitalismus Schuld.
Ehrlich gesagt, hab ich auch nicht kapiert, was jetzt eigentlich die Message dieses FAZ-Artikels war, da steht ja vieles drin, etwa, das Stress voll normal ist und dass es schon immer viele nervöse und zappelige Kinder gegeben hat. Und dass sich “schon immer” 20 bis 30 Prozent der Menschen in einer Gesellschaft müde oder erschöpft gefühlt haben – das sei 1900 nicht anders gewesen als 1970 oder jetzt.
Wobei liebe FAZ, mir ist ja peinlich, dass du da offenbar Nachhilfe benötigst: Die Leute haben auch vor mehr als 100 Jahren schon unter kapitalistischen Bedigungen gelebt und gearbeitet – insofern ist der Kapitalismus da heute genauso schuld wie früher. Nur dass den Arbeitern, die Anfang des 20 Jahrhunderts in den Fabriken für die Kapitalisten geschuftet haben, zumindest zum Teil viel bewusster gewesen ist, wer sie ausgebeutet hat.
Da waren die Fronten klar, entsprechend formierte sich ja auch eine Arbeiterbewegung. Die dann Errungenschaften wie den 8-Stunden-Tag, bezahlten Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und so weiter erkämpft hat – was heute schleichend im Namen der Flexibilisierung wieder abgeschafft wird. Woran auch wieder der Kapitalismus schuld ist. Man kann es drehen und wenden, wie man will – am Ende ist eben doch der Kapitalismus Schuld.
Egal, was die FAZ schreibt.