Das (sehr profitable) Geschäft mit der Not

Am vergangenen Mittwoch brachte das Handelsblatt unter der Überschrift SOS Europa – Geschäft mit der Not eine mehrseitige Reportage über das weltweite Flüchtlingselend und die Geschäftsmodelle, die kriminelle Schleuserbanden daraus entwickelt haben. Und obwohl das Handelsblatt gewinnbringenden Geschäftsmodellen, der Globalisierung und dem Kapitalismus überhaupt mehr als aufgeschlossen und wohlwollend gegenübersteht – die ganze Zeitung ist genau genommen ja nichts anderes als das Zentralorgan der erfolgreichen deutschen Kapitalisten – war den vielen Zeilen deutlich zu entnehmen, dass der Autor Michael Jürgs diese Geschäftsmodelle gar nicht gut findet. Jürgs kennt sich aus, er hat im vergangenen Jahr das Buch Sklavenmarkt Europa: Das Milliardengeschäft mit der Ware Mensch veröffentlicht.

In dem Artikel für das Handelsblatt erklärt er, wie das Schengen-Abkommen vor 20 Jahren mit einem Europa der offenen Grenzen den international operierenden Menschenhändlern erst zu ihrem aktuell sehr profitablen Geschäft verholfen hat. Er beschreibt die Routen der Menschenhändler, die gefahrvollen Wege, auf denen die Elenden der Welt für viel Geld zum vermeintlichen Ziel ihrer Hoffnungen und Träume, tatsächlich aber in die Illegalität, auf den Arbeiter- oder den Straßenstrich gebracht werden. Aus hunderten, ach was, Tausenden verfeindeter und konkurrierender krimineller Organisationen (‘Ndrangheta, Yakuza, Triaden, russische Mafia, südamerikanischen Kartelle und so weiter) seien nun internationalen Geschäftspartner geworden, deren Bosse sich im bürgerlichen Mainstream bewegen würden, so dass es für die Strafverfolgungsorgane sehr schwer sei, sie zu verfolgen und zu entlarven.

Jürgs erklärt auch, dass die Flüchtlinge zwar einerseits gern für schlecht bezahlte Dienstleitungen (Sex, Gastronomie, Pflege und so weiter) ausgebeutet würden, andererseits nirgends in Europa wirklich willkommen seien, und auch, dass die vielgescholtene europäische Behörde Frontex, der man immer wieder unverhältnismäßig hartes Verhalten gegenüber den Flüchtlingen, die in die Festung Europa zu gelangen versuchen, vorwirft, ja nur das tut, was die Politik in Europa beschlossen habe. Und das stimmt natürlich, mit Mare Nostrum wurden zwar eine Menge Menschen gerettet – aber die wollte dann keiner haben. Also haben die europäischen Regierungschefs – dieselben, die nun Krokodilstränen über die vielen ertrunkenen, erfrorenen, verhungerten und verdursteten Flüchtlinge vergießen, Schande über diese perversen Heuchler!!! – ja auch beschlossen, dass ihnen diese Operation zu teuer sei. “Europa ist überfordert” war ein anderer Artikel im Handelsblatt überschrieben. Das ist natürlich lächerlich, denn wenn die EU in der Lage ist, einen dreistelligen Eurobetrag für die Vernichtung von Getreide, Obst und Gemüse auszugeben, könnte so eine Summe doch auch locker für Rettungsaktionen im Mittelmehr bereit gestellt werden.

Wird sie aber nicht. Und das hat natürlich ganz andere Gründe. “Dass die meisten Menschen dorthin wollen, wo es funktionierende Sozialsystem gibt, ist menschlich verständlich, allzu menschlich. Und allzu unrealistisch.” Na klar, denn wenn alle kommen, gibt es ja keine funktionierenden Sozialsysteme mehr. Unsere Sozialsysteme sind für die Verlierer unserer europäischen Gesellschaft schließlich auch schon kein Spaß. Aus der Perspektive eines afrikanischen Hungerleiders oder eines Bürgerkriegsflüchtlings aus dem Nahen Osten mag die mickrige Existenz eines deutschen Hartz-IV-Empfängers zwar noch paradisisch erscheinen – aber das ist für eine bekennende Überflussgesellschaft, die auf Wachstum und nicht auf Solidarität optimiert ist, eben kein Maßstab. Der Maßstab ist die europäische Durchschnittsexistenz, die es mit allen Mitteln zu verteidigen gilt, denn sonst funktioniert am Ende nichts mehr: In einem auf Verschwendung und Hirnriss ausgelegtem System kann man sich nun mal nicht auf das Lebensnotwendige beschränken. Selbst wenn man damit viele Menschenleben retten würde. Auf die kommt es aber gar nicht an. Sondern nur auf die, die ihre Rechnungen auch bezahlen können!

Und darüber ist dann auf den insgesamt vier Seiten gar nichts zu lesen: Es wird zwar erwähnt, dass die “moralfreien Großmachtsinteressen Chinas, Russlands, der USA” (man beachte die Reihenfolge, und Europa als armes Opfer hat natürlich keine) als Ursache der weltweiten Flüchtlingsströme anerkannt würden. Aber der Kapitalismus, der die moralfreie Grundlage des Geschäftsmodells von Ausbeutung jeglicher Natur ist, der wird, wie immer, diskret ausgeblendet. Kapitalismuskritik geht nämlich gar nicht. Und wenn, dann nur an den ungewollten Auswüchsen. Am System an sich kann es gar nicht liegen – denn das hat ja den kalten Krieg gewonnen, muss also das Überlegene sein. Genau wie Dummheit das überlegene Konzept ist, weil der Klügere ja nachgibt.

Wobei – so gesehen ergibt diese Reihenfolge natürlich Sinn: In China tobt sich der Kapitalismus derzeit ja in Reinkultur aus – in chinesischen Produktionsstätten herrschen Zustände wie im finstersten Manchester-Kapitalismus. Und wenn Konzerne wie Apple nicht aus Imagegründen um ihren guten Ruf als menschenfreundliche Kapitalistenschweine besorgt wären und deshalb dafür sorgen würden, dass sich nicht noch mehr verzweifelte Arbeiter sich bei Foxconn und Co nicht mehr reihenweise vom Dach stürzen, dann gäbe es dort halt noch mehr Tote. China ist, entgegen anderslautender Behauptungen, nämlich kein kommunistischer Staat. Ein solcher würde seine Menschen vor Ausbeutung schützen. Jedenfalls vor solcher Ausbeutung.

Da fällt mir prompt der Ausspruch eines russischen Arbeiters ein, der in Deutschland zu einem Ein-Euro-Job genötigt wurde: “Und ich war immer gegen den Kommunismus! Dumm bin ich gewesen!”

Zurück zu Jürgs und dem Handelsblatt. Es ist schon faszinierend, wie konsequent die eigentlichen Ursachen des ja nun tatsächlich vorhandenen und auch korrekt beschriebenen Elends ausgeblendet werden. Es wird anschaulich geschildert, wie die besonders betroffenen EU-Staaten an den südlichen und östlichen Außengrenzen – Italien, Griechenland, auch Bulgarien, Albanien und Rumänien die Flüchtlinge unter Umgehung der geltenden – für sie jeweils ungünstigen – Regeln wieder los zu werden suchen. Bis hin zu den zynischen Auswirkungen, das der Marktwert für Organe verfällt – der Preis für eine Niere ist von 10.000 Euro auf 4000 Euro gefallen – dank der Flüchtlinge, die nun alles tun, um aus den Lagern herauszukommen. Die Empfänger in Westeuropa, den USA oder den Vereinigten Arabischen Emiraten wird es freuen.

Und was macht die Politik? Die verabschiedet eine neue Richtlinie. In einer bereits im April 2014 verabschiedeten Richtlinie des Europäischen Parlaments heißt es: “Das Streben nach Profit ist die wichtigste Triebfeder der grenzüberschreitenden Kriminalität, einschließlich mafiaänlicher Organisationen. Folglich sollten die zuständigen Behörden die Mittel erhalten, um die aus Straftaten erlangten Erträge ermitteln, sicherzustellen, verwalten und einziehen zu können… die Beträge die in der Union aus Erträgen aus Straftaten abgeschöpft werden, erscheinen unzureichend im Vergleich zu der geschätzten Höhe dieser Beträge.”

Das ist ja in der kompletten Hirnrissigkeit der ganzen Richtlinie schon wieder rührend: Das Streben nach Profit ist nämlich nicht nur die Triebfeder von Kriminellen, sondern von Geschäftsleute jeglicher Art. Ich persönlich finde absolut, dass das Streben nach Profit als kriminelles Ansinnen unter Strafe gestellt werden sollte – damit hätte sich der ganze verdammte Kapitalismus ein für alle Mal erledigt. Das Stillen von Hunger oder anderen elementaren Bedürfnissen finde ich als Triebfeder für menschliches Handeln total in Ordnung, aber dabei kann man es bitte schön ja auch belassen.

Dann ist nämlich auch klar, dass man selbstverständlich Menschen aus Seenot rettet und Flüchtlinge aufnimmt. Und wenn das Streben nach Profit überhaupt erstmal als kriminell und verdächtig gilt, dann haben sich auch viele aktuelle Konflikte und Krisen erledigt. Aber das steht natürlich nicht im Handelsblatt. Sonst müssten die ihren Betrieb dicht machen. Was kein Verlust wäre. Vielleicht kann die Belegschaft dann ja mal wirklich was Sinnvolles tun. Flüchtlinge retten. Unkraut rupfen. Oder Organe spenden.



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