Der Kanzler, der gekonnt, wenn er gewollt hätte

Steinbrück gab dem »Spiegel« kürzlich ein viel beachtetes Interview. Er gab zu, dass er und seine Partei Fehler im Wahlkampf 2013 gemacht hätten. Man hätte parteiintern ein falsches Bild vom Land gehabt und gemeint, die Sozialdemokratie könne als Erlöser auftreten. Themen hätte man zudem verfehlt. Es war auch viel unausgereifter Unsinn bei seinen Erklärungen dabei. Ein besonders großer Quatsch war die Sache, dass er keine Chance auf die Kanzlerschaft hatte.

Der Kanzler, der gekonnt, wenn er gewollt hätte

Foto: Alfred Steffen/SZ-Magazin

Schon im Frühjahr 2013 sei die Sache gelaufen gewesen. Aus vielen Gründen. Er habe Fehler im Bezug auf seine Honorare gemacht, die er einstrich und über die er nicht wirklich sprechen wollte. Außerdem hätten die Deutschen ein Verlangen nach einer Sachwalterin des »Weiter so!« gehabt und sie in Frau Merkel gefunden. Es war ihm seither eigentlich klar, dass das Projekt gescheitert war. Später ist man ja klüger und kann so tun, als habe man es immer schon gewusst. Aber eine Randnotiz erwähnt der Mann mit keiner Silbe. Er hätte am Abend des 22. September 2013 faktisch Bundeskanzler sein können. Es hätte nicht mehr gebraucht als die Bereitschaft, sich mit den Linken an den Tisch zu setzen.

Klar, bereits an diesem Abend haben Sozialdemokraten die sich anbahnende rot-rot-grüne Mehrheit als Gerücht abgewimmelt. Dazu werde es niemals kommen. Kam es ja auch nicht. Aber der Mann sollte sich nicht hinstellen und so tun, als habe er keine Chance gehabt. Er hatte sie. Und nicht nur das. Er hatte eine realistische Aussicht darauf, seine Bundeskanzlerschaft zu erlangen. Ob das jetzt ein herber Verlust ist, dass er es letztlich nicht wurde, sei mal dahingestellt. Nur so eindeutig war die ganze Angelegenheit jedenfalls nicht. Und dass er in dem Interview kein Sterbenswörtchen darüber verliert, dokumentiert bloß, wie es mit dem kollektiven Gedächtnis bestellt ist.

Denn Leute wie Gysi, Wagenknecht oder Ernst haben zumindest Gesprächsbereitschaft signalisiert. Sie wollten den Mindestlohn ad hoc umsetzen. Einen, der bei zehn Euro in der Stunde liegen sollte. Ein Bekenntnis dazu und in dem Moment wäre Steinbrück faktisch Kanzler gewesen. Trotz seiner Geschichte vom Frühjahr 2013, wo schon alles verloren schien. Aber die Sozialdemokratie wollte nicht. Sie vereitelte den Mindestlohn zunächst und erarbeitete später einen, der ein sonderbares Gemisch aus Ausnahmeregelungen und Sonderfällen ist.
Steinbrück sagt dem »Spiegel« übrigens auch noch, dass eine kleine Unternehmerin im Wahlkampf auf ihn zuging und ihm sagte, dass der Mindestlohn zwar gut sei, aber sie habe weniger als den Mindestlohn als Selbstständige. Wo mache er sich denn für sie und ihre Interessen stark? Sein Fazit: Seine Partei habe die falschen Themen behandelt. Sie hätte mehr auf Unternehmer zugehen müssen. Dass aber ein gut dotierter Mindestlohn auch den Selbstständigen geholfen hätte, weil deren Kundschaft plötzlich etwas besser bei Kasse gewesen wäre, blendet der Mann, der Volkswirt ist und von sich behauptet, ökonomisches Verständnis zu haben, einfach mal wieder aus.
So gesehen, vielleicht ganz gut, dass er der Kanzler ist, der nicht gewollt hat. Andererseits, was haben wir stattdessen? Man kann es drehen und wenden wie man will, irgendwie alles schrecklich desillusionierend.

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