Der Höllenmaschinist - Teil 24 der Fortsetzungsgeschichte

   Was der Lehrer jedoch erwähnte, war, dass es eine Verschwörungstheorie gab, wonach der amerikanische Präsident und vielleicht auch weitere Stellen von dem bevorstehenden Angriff wussten, jedoch nichts dagegen unternahmen, um einen Grund für einen Krieg gegen Japan zu haben. Im Internet kursierten dazu allerlei verrückte Geschichten, im Wortlaut ähnlich wie jene über das Ufo, das angeblich bei Roswell abgestürzt war und in Area 51 vor der Öffentlichkeit verborgen wurde, oder wie jene über die Mondlandung, die in Wirklichkeit nie stattgefunden haben sollte.
   Die Kinder lachten herzlich darüber.  
   Es gab noch viel mehr Informationen, die lächerlich gemacht oder den Kindern vorenthalten wurden. Man sagte ihnen nicht, was die amerikanische Regierung wirklich dazu bewog, die Atombomben auf Japan abzuwerfen. Man sagte ihnen nicht, dass das Kaiserreich zu diesem Zeitpunkt militärisch geschlagen und zu Kapitulationsverhandlungen bereit war. Die Kinder erfuhren auch nicht, welche weitreichenden Folgen der Einsatz dieser furchtbaren Waffen für die Menschheit hatte. Sie erfuhren nicht, dass dadurch große Angst aufseiten derjenigen entstand, die damit rechnen mussten, beim nächsten Konflikt Angriffsziel der Atombomber zu sein. Sie erfuhren nicht, dass dadurch eine Kettenreaktion anlief, dass eine Regierung nach der anderen eine eigene Atombombe verlangte, eine Entwicklung, die bis in ihre Gegenwart hineinreichte und sich nicht nur auf Regierungen, sondern mittlerweile auch auf Terrororganisationen erstreckte. Sie erfuhren auch nichts von der Existenz des Atomwaffensperrvertrages, der nicht nur die Weitergabe von Technologien zur Herstellung von Atomwaffen verbot, sondern auch die bisherigen Atommächte dazu verpflichtete, ihre Atomwaffenarsenale aufzulösen, damit sich niemand mehr davon bedroht fühlte. All das erfuhren die Kinder nicht.
   Obwohl eine der Hauptforderungen der Erwachsenen Niemals vergessen! lautete, hatten sie selbst doch den größten Teil der Geschichte vergessen. Und sie hatten vergessen, welche Konsequenzen sich daraus ergaben. Wenn es aber jemand wagte, sie daran zu erinnern, erkannten sie in ihm, dem Ehrlichen, eine Witzfigur und betitelten ihn als Verschwörungstheoretiker, sofern die Angst ein gewisses Maß nicht überschritt; bei großer Angst aber erkannten sie in ihm den Feind und versuchten ihn zu bekämpfen und zu vernichten.
   Und es gab noch etwas weit Bedeutenderes, das die Erwachsenen den Kindern vorenthielten: Freiheit. Sie sprachen zwar bei jeder Gelegenheit von diesem höchsten aller Rechte, garantierten es sogar in der Verfassung, doch was sie meinten war nicht Freiheit, sondern Auswahl. Sie garantierten die Auswahl zwischen Politikern und Parteien, zwischen Schulen und Universitäten, zwischen Produkten und Dienstleistungen, die sich alle mehr oder weniger glichen. Die Menschen im Land konnten wählen zwischen Coca-Cola und Pepsi, zwischen ABC News und CBS News. Die wahre Freiheit jedoch, ohne Angst leben zu können, verweigerten sie ihnen. Ständig waberte eine gewaltige Blase aus Angst über ihren Köpfen, die Angst vor dem Bösen, die Angst vor den weit entfernten Ungeheuern, den Nazis, Kommunisten und Terroristen, von denen man so viel hörte, obwohl die meisten noch nie ein echtes Exemplar aus diesen Gattungen zu Gesicht bekommen hatten, aber auch die Angst vor denen, die ihnen ganz nahe waren, Diebe und Gewalttäter, die ihnen etwas wegnehmen oder sie verletzen könnten, wodurch sie in Armut und Unglück stürzen würden, was wiederum neue Angst auslöste.
   Darunter litten sie, die Angst versetzte sie in Wut, zuweilen rief sie sogar blanken Hass hervor. Diese Gefühle gaben sie weiter an ihre Kinder, offen und versteckt, so wie sie die Gefühle selbst schon von ihren Vorvätern übernommen und nicht hinterfragt hatten. Mit jedem Jahr wurde das System aus Angst und Wut, Belohnung und Bestrafung weiterentwickelt, es passte sich den Gegebenheiten der jeweiligen Epoche an, manchmal kam es sehr grobschlächtig daher, mit grellen Bildern und lauten Geräuschen, und manchmal verhielt es sich sehr unauffällig, versteckte sich dort, wo es niemand vermutete.
   Als Lori von der Schule kam, stellte sie gleich den Computer an. Ihre jüngeren Brüder hatten bei dem Spiel, das ihnen ihr Vater zu Weihnachten schenkte, einen höheren Punktestand erreicht als sie, das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen. Obwohl Lori das Spiel selbst nicht besonders mochte. Es handelte vom Vietnamkrieg, die Aufgabenstellung lautete, möglichst viele feindliche Flugzeuge abzuschießen, Waffenlager zu zerstören oder den Ho-Chi-Minh-Pfad zu unterbrechen, ohne in den Feuerbereich des Gegners zu gelangen. Als Einsatzflugzeug wählte Lori eine F-4 Phantom und bewaffnete sie mit Sidewinder-Raketen und ungelenkten Bom-ben, zu ihrer Heimatbasis bestimmte sie den Flugzeugträger Kitty Hawk. Dann zog sie in den Krieg.
   Bis zum Abend hatte sie über einhundert nordvietnamesische MIGs abgeschossen, drei Fabriken und elf Waffenlager zerstört und über siebzig Mal den Ho-Chi-Minh-Pfad angegriffen. Dabei wurde sie selbst zwar einmal von der Flak und zweimal von sowjetischen SAM-Raketen abgeschossen, konnte sich aber jeweils mit dem Schleudersitz retten. Kurz bevor Mona ins Zimmer kam und ihrer Tochter endgültig verbot, weiterzuspielen, hatte sie es geschafft: Eine Fanfare ertönte, Loris Name erschien ganz oben auf der Siegerliste. Wie eine Königin stieg sie ins Erdgeschoss herab, um die Nachricht zu verkünden.
   Den Rest des Abends verbrachte sie mit ihrer Familie vor dem Fernseher. Im Kabelnetz lief ein Kriminalfilm, allerbeste Hollywood-Ware. Normalerweise erlaubte Mona ihren Kindern nicht, solche Filme anzusehen, doch dieser hatte immerhin fünf Oscars gewonnen. Im Zentrum der Handlung stand ein Polizist, dessen Familie Jahre zuvor von einer Gangsterbande getötet worden war und der nun auf Rache sinnte. Es erforderte langwierige Ermittlungen, um die Verbrecher aufzuspüren, die sich als biedere Bürger tarnten. Einer bekleidete sogar ein hohes politisches Amt, er behinderte die Arbeit des Helden, wo er nur konnte. Mit Einsetzen der Schlussmusik hatte der Rächer aber auch den letzten Täter gefunden und zu Tode gebracht.  
   Peter schaltete den Fernseher ab. Er war zufrieden. Die beiden Jungs zitterten zwar, wahrscheinlich würden sie in der folgenden Nacht schlecht schlafen, doch das war wenig im Vergleich zu der Lektion, die sie gelernt hatten: Der Kampf zwischen Gut und Böse währt ewig, und am Ende siegt immer das Gute.
   Lori küsste ihre Eltern und ging nach oben. Als sie schon im Bett lag, klingelte ihr Telefon. Eine Freundin war dran, erzählte mit atemloser Stimme, was sie an diesem Tag im Einkaufszentrum erlebt hatte. Lori hörte sich alles geduldig an, fragte, kommentierte und brach immer wieder in Gekicher aus. Wie jede Heranwachsende interessierte auch sie sich für Mode, Jungs und Popmusik, wobei die Reihenfolge der Bedeutung fast jede Woche wechselte. Im Gegensatz zu ihren Freundinnen ließ sie sich aber nicht von diesen Themen beherrschen. Lori war zielstrebig, hatte einen festen Lebensplan.
   Mondlicht fiel durch das Fenster in ihr Zimmer. An der Wand leuchtete das Bild einer Zeremonie auf. Ihr Vater trug seine Ausgehuniform und bekam soeben einen Orden an die Brust geheftet; er wirkte stolz, sehr stolz. Entstanden war das Foto bei seiner Entlassung aus dem Militärdienst, Mitte der neunziger Jahre. Niemand erwartete damals, dass er noch ein zweites Mal in die Armee eintreten und sie danach wieder verlassen würde, mit noch mehr Orden an der Brust.
   Dieser Lebensweg schwebte auch Lori vor. Sich erst zur Armee melden, dem Präsidenten und dem Land dienen und anschließend in die Wirtschaft gehen. Nur noch drei Jahre, dann hatte sie die Schule endlich hinter sich gebracht. Karrierechancen würde es auch dann noch in ausreichender Zahl geben, daran zweifelte sie nicht. Die alten Feinde waren nicht endgültig besiegt, und am Horizont tauchten bereits neue Feinde auf. In ihrer Umgebung hörte man viel von der Bedrohung durch die Chinesen. Sie überschwemmten den amerikanischen Markt mit ihren billigen Produkten, vernichteten dadurch amerikanische Arbeitsplätze, sie spionierten bei amerikanischen Unternehmen und dem Militär. Außerdem hatten die Chinesen Tibet überfallen, Taiwan wollten sie zurückerobern. Und dann gab es ja noch das Problem mit den Terroristen, und in Südamerika waren die Kommunisten wieder auf dem Vormarsch…
   Lori schlief ein. Das Bild löste sich auf.  
   „Nein, nein, nein!“ Peter schüttelte den Kopf, schüttelte die Arme. Hätte er einen Tisch zur Verfügung gehabt, hätte er mit den Fäusten darauf getrommelt. „Lori soll gleich in die Wirtschaft gehen. Sie darf keine Uniform tragen. Sie soll Ärztin werden. Oder Anwältin. Sie ist so ein hübsches und intelligentes Mädchen.“
   „Das stimmt.“
   „Ich kümmere mich um ihre Zukunft. Vor ein paar Wochen erst habe ich sie in die Kanzlei meines Anwaltes mitgenommen. Der hat ihr gezeigt, wie spannend die Arbeit an einem Fall ist. Man kann doch überall für das Gute kämpfen, auch in einem Gerichtssaal.“  
   „Sie fand es langweilig. Lori nannte es Aktenwälzen und Staubschlucken. Beim Militär gibt es mehr Aufregung.“
   „Ich verbiete es Ihr!“, brüllte er. Peter brüllte Helena an, als ob sie seine Tochter wäre. „Ich lasse es nicht zu! Lori geht nicht zur Armee.“
   „Peter, beruhige dich. Du hast keine Macht über sie. Lori kann es tun, sobald sie volljährig ist. Vielleicht wird deine Tochter eines Tages auf Hassans Sohn treffen. Vielleicht werden sie auf derselben Seite stehen, vielleicht werden sie aber auch gegeneinander kämpfen. Vielleicht wird deine Tochter den tödlichen Schuss aus einer Panzerkanone abgeben. Oder sie wird selbst den tödlichen Schuss abbekommen, vielleicht wird sie im Panzer verbrennen…“  
   „Genug, das ist genug! Ich will das nicht hören.“ Peter wandte sich von Helena ab, ging zum Fenster. „Deshalb tun wir das doch alles! Deshalb kämpfen wir! Damit unsere Kinder eines Tages in einer besseren Welt leben. Einer gerechten Welt, einer Welt, in der es keinen Hass und keine Gewalt mehr gibt. Davon träume ich, davon träumen alle guten Menschen. Und du wirst sehen, eines Tages werden wir unser Ziel erreichen. Mit Gottes Hilfe…“
   Er hob seinen Kopf und blickte zuversichtlich aus dem Fenster, obwohl er draußen nichts sah, außer einer alles verschluckenden Dunkelheit. Es war ihm so, als hörte er aus der Ferne die Nationalhymne erklingen, und irgendwo dort hinten, so glaubte er, musste die Flagge im Wind wehen. Beinahe automatisch, ohne dass er lange darüber nachdachte, fand seine Hand den Weg zur Schläfe. Peter salutierte, Tränen standen ihm in den Augen. „Mit Gottes Hilfe werden wir es schaffen.“
   Im ersten Moment dachte Helena, er wollte einen Scherz machen. Doch Peter meinte es ernst.
   Sie stellte sich neben ihn und sprach mit besonders sanfter Stimme. „Peter, nimm es mir nicht übel, aber du bist ein Vollidiot. Du kapierst rein gar nichts. Ständig wiederholst du die alten Gefühls- und Gedankenmuster. Und obwohl du immer wieder die gleichen Resultate erlebst, änderst du nichts daran. Man kann es dir auf drei verschiedene Weisen erklären, doch du kapierst es immer noch nicht. Jedes Argument parierst du mit einem Gegenargument, und sei es noch so dämlich. Vielleicht ist es ganz gut, wenn du in eine andere Umgebung gelangst. Vielleicht hilft es dir, in einer anderen Welt über deine Lebensweise nachzudenken.“
Fortsetzung folgt.
Unter diesem Link finden Sie die bisher veröffentlichten Teile.
Der Höllenmaschinist - Teil 24 der Fortsetzungsgeschichte
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Der Höllenmaschinist - Erzählung
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