Der Höllenmaschinist - Teil 19 der Fortsetzungsgeschichte

   Hassan entschied, dass es Zeit war zu kämpfen.
   Als ranghöchster Offizier befahl er, sämtliche noch einsatzfähige Fahrzeuge auf das Gefecht vorzubereiten – im Falle seiner Kompanie waren es fünf Panzer des sowjetischen Typs T-55. Ursprünglich bestand die Kompanie aus vier Zügen mit jeweils vier Kampfpanzern vom Typ T-72 plus Begleitfahrzeuge. Doch die volle Einsatzstärke wurde schon seit Langem nicht mehr erreicht, die meisten Panzer gingen bereits im Kuwait-Krieg verloren und konnten wegen des Waffenembargos nicht mehr ersetzt werden. Darüber wunderten sich viele in seinem Bataillon. Erst bekamen sie so viele Fahrzeuge geliefert, dass sie sie gar nicht alle in den Hallen unterbringen konnten, sie teilweise unter freiem Himmel abgestellt werden mussten, und dann kam plötzlich überhaupt nichts mehr. Auch auf die Instandhaltung wirkte sich das Embargo verheerend aus. Es fehlte an Ersatz- und Verschleißteilen, weshalb viele der verbliebenen Fahrzeuge ausgeschlachtet wurden. Als Resultat dieser Entwicklung musste Hassans Kompanie ihre letzten T-72 an andere Verbände abgeben und wurde auf die alten T-55 zurückgerüstet.
   Der T-55 zählte zu den meistgebauten Panzern der Welt, entwickelt in den späten fünfziger Jahren für die Armeen der Sowjetunion und des Warschauer Pakts. Während der folgenden Jahrzehnte kam er in nahezu allen bewaffneten Konflikten zum Einsatz, meist bewährte er sich dabei. Selbst im für Panzer ungünstigen Gelände, etwa im Dschungel von Vietnam, erzielte er beachtliche Erfolge bei nur geringen eigenen Verlusten. Nicht selten kam es vor, dass bei den Stellvertreterkriegen, die die Supermächte vor allem in Afrika ausfechten ließen, T-55 von allen Parteien genutzt wurden, was bei schlampiger Kennzeichnung zu erheblicher Verwirrung führen konnte. Manche Kommandeure mussten deshalb höhere Verluste durch eigenes als durch feindliches Feuer verzeichnen.  
   Diese Gefahr bestand im Irak nicht. Der Dritte Golfkrieg fand zu Beginn des 21. Jahrhunderts statt, zu einer Zeit, als längst schon modernere Panzer die Schlachtfelder beherrschten. Darüber waren sich Hassan und seine Leute natürlich im Klaren, auch nach Ende des Ost-West-Konflikts kamen ständig neue Waffensysteme auf den Markt, nur waren diese nicht für alle Nationen zugänglich. Die Soldaten der Panzertruppe reagierten darauf mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Ironie, sie mussten es hinnehmen, dass man die Dinge unterschiedlich verteilte. Mal wurde der Iran aufgerüstet, mal der Irak, mal Saudi-Arabien und die Emirate; sie hofften nur, sie wären möglichst bald wieder an der Reihe.
   Ihre Panzer pflegten sie derweil so gut es eben ging. Weil die  T-55 aber schon seit Jahrzehnten keine Kampfwertsteigerung mehr erfahren hatten, wurden sie von denjenigen, die täglich mit ihnen umgehen und im Ernstfall auch kämpfen mussten, als Eisenschweine bezeichnet, was in islamischen Ländern kein Kompliment darstellte. Auch ihre Hauptbewaffnung, eine Hundert-Millimeter-Kanone, trug mit dem Namen Panzerklopfgerät keinen Ehrentitel, denn gegen die Hundertzwanzig-Millimeter-Kanonen und die Verbundpanzerungen ihrer jüngeren Konkurrenten vermochte sie nichts auszurichten. Damit nicht genug, auch die Feuerleitanlagen der T-55 waren veraltet, Höchstgeschwindigkeit und Reichweite entsprachen nicht mehr den heutigen Anforderungen. Somit stand den Irakern etwas bevor, für das man in den westlichen Medien einen neuen Begriff erfunden hatte: ein asymmetrischer Krieg.
   Dennoch war es kein reines Selbstmordunternehmen, in das Hassan seine Männer führte; er rechnete sich eine gewisse Chance aus, einen kleinen militärischen Sieg zu erringen. Die irakischen Generäle hatten eine Strategie entwickelt, mit der sie – auf lange Sicht – den Konflikt für sich entscheiden wollten. Die erste Phase der Invasion wollten sie eingegraben in ihren Bunkern überstehen. Später, in der letzten Phase, planten sie, den Feind in lange und verlustreiche Kämpfe zu verwickeln, sie wollten in Guerillataktik zuschlagen und verschwinden, dabei möglichst viele gegnerische Soldaten verletzen oder töten, so dass der politische Druck an der Heimatfront zu groß werden würde und man unverrichteter Dinge wieder abziehen müsste. In Vietnam und Afghanistan hatte eine ähnliche Strategie zum Erfolg geführt, warum also nicht auch hier?
   Dazwischen lag aber noch die mittlere Phase, und die war die schwierigste. Der irakische Plan sah vor, die amerikanischen und britischen Angriffsspitzen zu spalten, in der Fläche zu zerstreuen, um sie in vielen kleinen Gefechten aufzureiben. Zunächst sollten ihnen schwache irakische Einheiten entgegentreten, sollten den Eindruck erwecken, der Gegner sei zahlenmäßig klein und mit veraltetem Material ausgestattet. Dann sollte plötzlich die Republikanische Garde auf dem Schlachtfeld erscheinen und das Blatt zugunsten der Verteidiger wenden. Saddam Husseins Elitetruppe war nicht nur besser ausgebildet und besser bezahlt als der Rest der irakischen Armee, sie war vor allem auch besser ausgerüstet. So verfügte ein ganzes Bataillon über den Löwen von Babylon, einer Weiterentwicklung des T-72, der dank seiner starken Panzerung und Bewaffnung und seiner leistungsfähigen Feuerleitanlage den alliierten Verbänden durchaus Paroli bieten konnte. Darauf verließ sich Hassan, als er gemeinsam mit seinen Soldaten in den Kampf zog.
   Leider waren ihm einige sehr wesentliche Umstände nicht bekannt. Der Oberbefehlshaber der Republikanischen Garde hatte vom amerikanischen Geheimdienst fünfundzwanzig Millionen Dollar bekommen, damit er seine Truppen in den Kasernen hielt. Mehrere Generäle der regulären irakischen Armee waren ebenfalls fest zur Untätigkeit entschlossen, weil sie eine sichere Niederlage erwarteten und bereits darauf spekulierten, in die Armee des neuen Staates, nach der Ära Saddam Hussein, übernommen zu werden.
   Hassan, den man für einen treuen Anhänger der Bath-Partei hielt, wurde darüber nicht informiert. Seine Kompanie gehörte zu den wenigen, die überhaupt am Krieg teilnahmen.
   Zunächst jedoch schien sein Plan aufzugehen. Hassan fasste die verbliebenen fünf Panzer zu einem Zug zusammen und übernahm persönlich den Führungspanzer. Bei Tagesanbruch starteten sie ihre Motoren. Hassan sah ein letztes Mal zum Himmel hinauf. Weit oben zogen Flugzeuge Kondensstreifen hinter sich her. Keine Tiefflieger auszumachen. Bevor sie ihren Unterstand verließen, befahl er seinen Männern, sich selbst einzunebeln. Es war ganz einfach, sie mussten nur einen Hebel umlegen, schon spritzten die T-55 Dieselöl in ihre Auspuffanlagen. Der Kommandant hoffte, im Schutz der Rauchwolken von der gegnerischen Luftaufklärung nicht bemerkt zu werden. Unter all den Rauchsäulen, die über der Stadt standen, würde eine mehr nicht auffallen.
   Besonders die Drohnen fürchtete Hassan. Diese unbemannten Flugkörper waren dazu imstande, stundenlang über ihrem Einsatzgebiet zu kreisen und dabei sämtliche Truppenbewegungen zu beobachten und aufzuzeichnen. Selbst kleinste Details erkannten ihre hoch auflösenden Kameras, sie identifizierten einzelne Personen, lasen die Kennzeichen von Autos und speicherten sie in irgendwelchen Computern, erstellten Bewegungsprofile und gaben Prognosen über zukünftige Bewegungen ab. Eine teuflische Technik. Einige der Drohnen konnten sogar aktiv in die Kämpfe eingreifen, sie waren mit Raketen und Bordkanonen ausgestattet. Gelenkt wurden sie meist nicht von Soldaten vor Ort, sondern von solchen, die Hunderte, manchmal Tausende Kilometer entfernt in sicheren und klimatisierten Gebäuden saßen, Satelliten übernahmen den Datentransfer. Für diese Operator war der Krieg bereits zum Videospiel geworden. Sie betrachteten das Kampfgeschehen auf einem Bildschirm und entschieden per Mausklick, wer leben durfte und wer sterben musste – wobei sie selbst überhaupt kein Risiko eingingen. Wie ganz normale Arbeitnehmer meldeten sie sich auf ihrem Stützpunkt – vielleicht bedienten sie sogar eine Stechuhr –, erledigten eine Acht-Stunden-Schicht und fuhren danach nach Hause zu ihren Familien. Davon konnten sie in Bagdad nur träumen, hier wurde noch selbst geschwitzt, gekämpft und gestorben.
Fortsetzung folgt.
Unter diesem Link finden Sie die bisher erschienen Teile.
Der Höllenmaschinist - Teil 19 der Fortsetzungsgeschichte
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Der Höllenmaschinist - Erzählung
2. Auflage
112 Seiten  Gedrucktes Buch EUR 7,90  E-Book EUR 3,99
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