«Der Firmenirrsinn färbt ab»

«Der Firmenirrsinn färbt ab»

Herr Wehrle, ihr Buch Ich arbeite in einem Irrenhaus besteht zu zwei Dritteln aus Negativbeispielen aus dem Büroalltag. Ist es um deutsche Unternehmen tatsächlich so schlimm bestellt?

Wehrle: Es ist äußerst schlimm bestellt. Von zehn Mitarbeitern sagt nur einer laut der Motivationsstudie der Unternehmensberatung Gallup «Ich bin wirklich motiviert». Neun sind entweder innerlich emmigriert oder arbeiten gar gegen die Firma. Es gibt eine ganz große Fehlorganisation, eine ganz große Frustration in den Unternehmen.

Warum geraten Arbeitnehmer an Irrenhäuser?

Wehrle: Die Mitarbeiter werden von den Firmen nicht ernst genommen. In großen Unternehmen sind sie heute oft nur Ballast, den man, sobald es geht, über Bord wirft, um Kosten zu sparen. Die Unternehmen haben vergessen, dass sie nicht aus Gebäuden und Bilanzen bestehen, sondern aus Mitarbeitern. Aus Menschen, die das Unternehmen ausmachen, die den Kontakt zum Kunden pflegen. Mitarbeiter spüren diese Missachtung.

Zugespitzt formuliert, fühlen sich die meisten Mitarbeiter wie Kostenstellen auf zwei Beinen?

Wehrle: Das ist wunderbar auf den Punkt gebracht. Es gibt einen Management-Vordenker, Peter F. Drucker, der gesagt hat: «Mitarbeiter müssten eigentlich in der Bilanz nicht auf der Soll-Seite auftauchen als Kostenpunkt, sondern auf der Haben-Seite.» Das Einzige, was Unternehmen in der Wissensgesellschaft von der Konkurrenz positiv abheben kann, sind die kreativen Köpfe der Mitarbeiter, aber nicht das Geschäftsmodell.

Wenn sie eine Diagnose stellen müssten, woran kranken die deutschen Unternehmen am meisten?

Wehrle: Sie kranken sehr an Führungsschwäche. Es werden nicht die befördert, die sozial die Kompetentesten sind, sondern jene, die die härtesten Ellenbogen haben. Wenn ungelernte Führungskräfte an der Spitze stehen, die ihren Job nicht gelernt haben, dann stinkt der Fisch vom Kopf her. Das pflanzt sich nach unten fort und macht den Mitarbeitern ihre ursprünglich vorhandene Motivation madig.

Viele Unternehmen würden sagen «Das ist nicht allein unsere Schuld». Was ist denn die schlimmste Krankheit der Arbeitnehmer?

Wehrle: Die schlimmste Krankheit der Arbeitnehmer ist, sich einfach in den Regen zu stellen und zu jammern, dass es regnet. Ohne zu überlegen «Kann ich einen Regenschirm aufspannen oder kann ich unter ein anderes Dach gehen?». Übertragen heißt das, ich muss überlegen, was kann ich dazu beitragen, dass die Arbeitsverhältnisse besser werden. Dass ich meinen Chef, wenn er schon schlecht führt, dazu bringe mich besser zu führen.

Wie stellt man das an?

Wehrle: Ich mache es an einem Beispiel konkret: Ich kann mich fürchterlich ärgern, dass mein Chef mich niemals lobt. Dass er mir keine Rückmeldung gibt und nur, wenn mal ein Fehler passiert, kritisiert. Ich kann aber auch auf den Chef zugehen und sagen «Ich habe gerade ein Projekt abgeschlossen, sie haben das verfolgt, geben Sie mir bitte mal eine Rückmeldung, wie hat ihnen das gefallen?». Das heißt, ich hole aktiv das, was ich brauche, statt dazustehen und zu warten, dass der Chef mir entweder ein Lob spendet oder es verweigert.

Die Negativhaltung führt dazu, dass man sehr schnell frustriert wird, was psychisch krank machen kann. Die Deutschen waren 2010 rund 29 Tage krank geschrieben. Welchen Anteil hat der Irrsinn in Unternehmen daran?

Wehrle: Die Zahl der Krankheitstage durch psychische Erkrankungen hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Der Irrsinn der Firmen färbt auf die Mitarbeiter ab, macht sie psychisch krank, treibt sie in eine Haltung, in der es sich nicht mehr angenehm arbeiten und leben lässt. Ich bin ganz sicher, und das kann man auch in Statistiken nachlesen, in Betrieben, wo ein produktives Klima herrscht, wo die Mitarbeiter menschlich geführt werden, sie sich einbringen können, dort ist die Krankheitsquote um ein vielfaches niedriger als in irrsinnigen Firmenkulturen.

Können Sie ein Beispiel geben?

Wehrle: Bei Recherchen für ein neues Buch habe ich von einem Betriebsleiter in Hamburg gehört, der die Produktion für eine Firma leitet. Ihm wurden immer mehr Mitarbeiter gestrichen – aus Sparwahn. Das ging so lange, bis die Mitarbeiter sich körperlich verletzt haben, sich die Unfälle in der Produktion versechsfachten. Mit der Vervielfachung haben sich immer mehr Mitarbeiter krankschreiben lassen, obwohl sie nicht verletzt waren, sondern weil sie diesen Druck nicht mehr ausgehalten haben. Es ist ein riesiges Problem, dass die Leute heute ungeheuer unter Druck stehen, immer weniger Leute immer mehr Arbeit schultern sollen.

Was sie da beschreiben, sind Extremfälle. Bei welchen Anzeichen kann man sich sicher sein, dass man in einem Irrenhaus gelandet ist?

Wehrle: In meinem Irrenhaus-Test geht es unter anderem darum, ob die Firma das, was sie nach außen verkündet, nach innen lebt. Wenn eine Firma nach außen sagt, wir sind demokratisch, wir wollen Mitarbeiter, die mitreden, im Haus herrscht aber eine richtige Diktatur und der Mitarbeiter hat nur zu gehorchen, sieht man schon, dass eine Schizophrenie vorliegt. Dass die Firma etwas anderes darstellt als sie ist. Daraus wie eine Firma ihre Kunden behandelt, können Sie interessante Rückschlüsse ziehen. Geht es nur darum, an das Geld der Kunden zu kommen, behandelt eine Firma ihre Mitarbeiter sehr wahrscheinlich ähnlich rücksichtslos. Was auch wichtig ist: Wie ist der direkte Vorgesetzte? Kann ich mal es mir erlauben, wenn ich wirklich krank bin, auch zu Hause zu bleiben? Oder muss ich bei ein paar Tagen Krankheit fürchten, dass das negative Konsequenzen für mich hat? Wenn ich auf solche Fragen mit einem «Ja» antworte, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass eine ungesunde Firmenkultur oder, um es zugespitzt zu sagen, ein Irrenhaus vorherrscht.

Mehr zum idealen Bewerber und Umgang mit Irrenhäusern auf Seite 2

Sie sprechen etwas an, was laut Statistiken ein Trend ist: Immer mehr kranke Arbeitnehmer schleppen sich ins Büro. Woran liegt das, an Angst vor dem Jobverlust oder eher an Selbstzweifeln?

Wehrle: Das ist knallharte Angst vor dem Jobverlust einerseits. Die Leute denken, wenn ich oft krank bin, rücke ich auf der Abschussliste nach vorne. Und es ist zum Zweiten ein ganz perfider Mechanismus. Wenn sie in einer Abteilung immer mehr Leute wegstreichen, heißt das, sobald einer krank wird, müssen die, die noch da sind, die Arbeit für ihn mitmachen. Viele Leute gehen dann ins Büro, weil sie sagen «Ich will mich nicht auf die Abschussliste setzen lassen» und andererseits möchten sie die Kollegen nicht im Regen stehen lassen. Sie tun das nicht für die Firma, sondern weil sie nicht wollen, dass die anderen Kollegen nicht vollends überlastet werden.

Auf ihre Aussagen gestützt, wie sieht das Idealbild eines Bewerbers für deutsche Unternehmen aus?

Wehrle: Deutsche Unternehmen sehnen sich nach glatten Lebensläufen, nach geraden, stromlinienförmigen Lebensläufen. Nach Leuten, die schnell studiert oder ihre Ausbildung abgeschlossen haben. Nach Leuten, die in den Firmen mindestens drei bis fünf Jahre geblieben sind und die keinerlei Auffälligkeiten, keinerlei Lücken im Lebenslauf haben. Diese Personalpolitik führt dazu, dass man allenfalls durchschnittliche Bewerber bekommt. Aber die exzellenten Leute sind oft anti-stromlinienförmig, sie sind oft Umwege gegangen, haben ein paar Jahre Pause eingelegt, oft während ihres Arbeitslebens die Richtung gewechselt und etwa Neues angefangen. Diese Typen, die in einer gesunden Unternehmenskultur Leben in die Firmen bringen, sorgen für neue Gedanken. Bei uns fallen sie durch das Sieb einer beschränkten Personalauswahl.

Das erweckt den Eindruck, als ob in deutschen Unternehmen der Großteil der Beschäftigten hirnlose Funktionsmaschinen sind.

Wehrle: Ob sie es sind, will ich nicht sagen. Aber sie werden so behandelt als seien sie es. Es wird immer noch so gehandelt, als würde oben gedacht und unten gemacht. Das war in Zeiten der Industrialisierung wirklich so. Doch das hat sich fundamental gewandelt. Weil heutige Fachkräfte über ein solches Wissen verfügt, dass der Vorgesetzte gar nicht mehr mithalten kann. Die Unternehmen müssen erkennen, dass eben nicht nur das Management denkt, sondern dass man sehr wohl auf die Mitarbeiter hören muss. Die haben das Fachwissen, sie sprechen täglich mit den Kunden. Alles, was irgendwann negativ in den Geschäftszahlen einschlägt, lässt sich viel früher herausfinden, wenn man wirklich einen klaren Informationsfluss von den Mitarbeitern zum Management gewährleistet und nicht nur umgekehrt.

Das spielt auf ein Phänomen an, das Sie in ihrem Buch ansprechen: die Geschäftsführerkrankheit. Die Geschäftsführer kennen Bilanzen und duzen die wichtigsten Leute, erkennen aber nicht die Probleme im eigenen Unternehmen. Woran liegt das?

Wehrle: Erstens liegt es daran, dass keiner den Mut hat, dem Chef die Wahrheit zu sagen. Denn diejenigen, die dem Chef nach dem Mund reden, die sagen «Es läuft alles super», diejenigen sind hoch bei ihm angesehen. Wer sagt, «Da geht etwas daneben, da läuft was schief», läuft Gefahr, als Bote geköpft zu werden. Das Zweite ist, dass sehr viele Manager den Alltag vollkommen aus dem Blick verlieren, nur noch in ganz großen Visionen und an Globalisierung denken. Dabei versäumen sie es, mal in eine Filiale ihres Geschäftes zu gehen, mit Kunden zu sprechen, den Alltag anzuschauen und diese ganz bodenständige Arbeit zu erledigen.

Sie sagen in ihrem Buch aber auch, dass das Funktionieren zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein Wechselspiel ist. Sie sprechen davon, dass Werte wichtig sind. Welche Werte sollte man haben, um eine Grundzufriedenheit im Beruf zu erreichen?

Wehrle: Ich kann die Werte nicht vorgeben. Das ist ganz individuell. Wichtig ist, dass man Werte hat. Man kann Werte herausfinden, indem man sich fragt «In welchen Situationen meines Lebens geht es mir richtig gut, wann fühle ich mich so richtig wohl?». Wenn sich ein Mensch wohlfühlt, wenn er mit seinem Wohnmobil auf Reisen ist, heute hier, morgen da, dann kann er zu der Überzeugung kommen, das Unabhängigkeit für ihn ein wichtiger Wert ist, dass er gerne flexibel und beweglich ist. Dann muss er in seinem Unternehmen schauen, ob er dort diesen wichtigen Wert verwirklichen kann. Wenn er feststellt, dass in seinem Unternehmen die Betonköpfe herrschen, er nichts flexibel machen kann und abhängig vom Vorgesetzten ist, dann kommt er vielleicht zu der Erkenntnis, sich ein anderes Unternehmen zu suchen. Wenn man ständig wichtige Werte unterdrückt, macht das krank und unglücklich. Darum ist es wichtig zu reflektieren, worauf es jemandem im Leben persönlich ankommt. So findet man seine Werte heraus.

Sie schreiben in ihrem Buch zudem, das Unternehmen einerseits Flexibilität erfordern, andererseits aber vor hohen Wechselquoten zurückschrecken. Wann ist die Wechselquote ein Warnzeichen für ein Unternehmen?

Wehrle: Idealerweise beträgt die Wechselquote drei Jahre. Wenn man vor der Frist von drei Jahren geht, erweckt das den Verdacht, man habe die Aufgabe nicht geschafft. Ausnahme ist der Wechsel in eine höhere Position. Wenn ich also nach zwei Jahren aus einer Position als Abteilungsleiter in ein anderes Unternehmen als Bereichsleiter wechsele, ist das ein schlüssiger Wechsel. Was die Wechsel insgesamt angeht, kann man sagen, es sollten im Durchschnitt Verweilzeiten von vier bis fünf Jahren sein. Damit können die Unternehmen leben.

Der Trend, den sie beschreiben, steht konträr zur Personalpolitik vieler Unternehmen, Arbeitsverträge auf zwei Jahre zu befristen und lieber neue Mitarbeiter einzustellen als höhere Gehälter zu zahlen.

Wehrle: Das ist wahr. Und die Unternehmen tragen selbst dazu bei, dass Mitarbeiter früh gehen. Kein Mitarbeiter geht gern schon nach einem Jahr aus dem Unternehmen. Meistens treibt der Leidensdruck die Arbeitnehmer davon. Ich finde es sehr kleinkariert, dass dieselben Unternehmen, die kurzfristige Verträge abschließen, die ihre Mitarbeiter unzufrieden werden lassen, kurze Verweilzeiten in Unternehmen nur dem Arbeitnehmer anlasten. Gute Arbeitgeber erkennt man daran, dass dort viele Leute lange Jahre bleiben und nicht abstumpfen, sondern immer noch motiviert sind.

Martin Wehrle ist Karriereberater, Jobcoach und Buchautor. In seinem aktuellen Buch Ich arbeite in einem Irrenhaus. Vom ganz normalen Büroalltag berichtet er vom Wahnsinn, dem sich deutsche Arbeitnehmer täglich stellen.

Quelle:
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Jobs in Deutschland – «Der Firmenirrsinn färbt ab»

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