Für einen ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance. Was im Leben gilt, gilt auch in Geschichten. Wenn der erste Satz nicht dafür sorgt, dass unsere Leser den zweiten Satz lesen wollen, haben wir sie verloren. Es gibt verschiedene Wege, um eine Geschichte zu beginnen und den Leser in die Geschichte zu ziehen.
Ein erster Satz ist ein Türöffner und muss ziemlich viel können: interessant soll er sein, spannend, den Ton der Geschichte anklingen lassen, Erwartungen wecken (die später auch eingelöst werden sollen), die Figur und die Handlung einführen. Einen guten Anfang zu schreiben, braucht Übung und entsteht selten im ersten Entwurf. Eine Formel oder ein allgemeingültiges Muster gibt es nicht. Inspiration für erste Sätze und Geschichtenanfänge finden wir daher in der Literatur.
Wie beginnt man eine Geschichte?
Ein guter Anfang gibt dem Leser ein Gefühl für die Geschichte, er lernt die Hauptfigur(en) und das Setting kennen.
Aus dem ersten Satz oder Absatz lässt sich mindestens Folgendes ablesen:
- Erzählperspektive
- Zeitform
- Hauptfigur
Darüber hinaus erfüllt der Beginn einer Geschichte weitere Funktionen:
- Atmosphäre, Ort und Zeit beschreiben
- Thema der Geschichte benennen
- Konflikt andeuten
- Erzählstimme anklingen lassen
- Erwartungen wecken
Alles davon in den ersten Sätzen unterzubringen, würde sie überfrachten. Ein Anfang bewegt sich Satz für Satz in einem Wechselspiel aus Fragen und Antworten. Er gibt gerade so viele Informationen preis, wie im Moment für das Verständnis nötig sind und streut nach und nach weitere Informationen ein, ohne die zunächst Fragen beim Leser entstehen.
Der richtige Moment für den Einstieg
Wann ist der richtige Moment, um in die Geschichte einzusteigen? Das hängt davon ab, wie die Geschichte und ihr Ende konzipiert sind. Ebenso von der Textsorte: In einer Kurzgeschichte fällt die Einleitung eher knapp aus und startet in der Regel in medias res. Generell gilt, nicht zu früh und lieber etwas später in die Szene einzusteigen.
„Ab ovo“ (lateinisch „vom Ei an“)
Für den Zeitpunkt gibt es zum Beispiel diese Möglichkeiten:
Diese Erzählungen beginnen beim Ursprung. Sie starten beispielsweise mit der Vorgeschichte der Hauptfigur und erzählen ab da chronologisch.
„In medias res“ (lateinisch „mitten in die Sache hinein“)
Dieser Anfang fällt mit dem ersten Satz mit der Tür ins Haus. Die Geschichte beginnt mittendrin in einer spannenden Szene oder Handlung.
„In ultimas res“ (lateinisch „von den letzten Dingen an“)
In dieser Variante beginnt die Geschichte mit dem Ende – oder kurz davor. Danach setzt die Erzählung bei der vorangegangenen Handlung ein und zeichnet den Weg bis zum Ende nach und am Schluss schließt sich der Kreis.
Beispiele für Geschichtenanfänge
Ich habe mich durch die Leseproben verschiedenster Romane und Kurzgeschichten gelesen und die Satzanfänge in Kategorien unterteilt. Das ist übrigens mein Tipp an dich: Um ein Gespür für gute Anfänge zu bekommen, solltest du viele Anfänge lesen. Eine größere Auswahl als das heimische Bücherregal findest du in den Leseproben der Verlagsseiten oder Online-Shops.
Neun Wege, um Geschichten zu beginnen
1. Mit einem Dialog oder einer Frage
„Was hast du gesagt?“
„Ich habe gesagt, daß ich mit ihnen wegfahre. Es wird ihnen guttun, ein bißchen rauszukommen.“
„Und wann?“ Fragte meine Schwiegermutter.
„Jetzt.“
„Jetzt? Das meinst du nicht im Ernst.“
„Und ob.“
Anna Gavalda: Ich habe sie geliebt
2. Mit der Beschreibung der Umgebung / des Settings
Die Kerzenflamme und ihr im Wandspiegel gefangenes Ebenbild flackerten kurz auf, als er den Flur betrat; und noch einmal, als er die Tür schloss.
Cormac McCarthy: All die schönen Pferde
Die Luft in ihrem Zimmer roch abgestanden nach Zigaretten und Parfüm.
Anna Stothard: Pink Hotel
3. Mit einer allgemeingültigen Wahrheit
Unser Zeitalter ist dem Wesen nach tragisch, daher weigern wir uns, es tragisch zu nehmen.
D.H. Lawrence: Lady Chatterly
Es ist seltsam, dass man durch den größten Lärm hindurch ein ganz leises Geräusch hört, wenn man darauf gewartet hat.
Peter Stamm, Die Erwartung
4. Mitten in der Handlung
Vom Büro bis zum OP-Saal waren es genau fünfzig Schritte.
Jessica Schulte am Hülse: Verrat. Sieben Verbrechen an der Liebe
Sie sah den Brief. Und sie fand ihre Gefühle nicht. Er war tot, so stand es da. Einmal quer über den Briefumschlag, in großen roten Buchstaben: Gefallen für Großdeutschland.
Anne Gesthuyen: Wir sind doch Schwestern
Ich bin gerade sechs geworden, als Olof Palme erschossen wird.
Jonas T. Bengtsson: Wie keiner sonst
5. Mit einer Vorausdeutung
Es wird immer wahrscheinlicher, dass ich tatsächliche jene Reise unternehme, die meine Fantasie bereits seit einigen Tagen mit einer gewissen Ausschließlichkeit beschäftigt.
Kazuo Ishiguro: Was vom Tage übrig bleibt
6. Mit einer Erinnerung
Immer wenn ich an Maria denke, fällt mir ein Abend ein, an dem sie für uns gekocht hatte.
Peter Stamm: Passion
7. Mit dem Motiv der Geschichte
Ich träume vom Wasser, bis heute.
Susan Fletcher: Austernfischer
Ich bin einer von denen, die atmen. Ich muss mit der Musik atmen, ihr und mir Luft zuführen, damit sie nicht erstickt und ich auch nicht. Nicht jedes Stück braucht viel Luft, aber manche bringen mich völlig außer Atem.
Katharina Mevissen: Ich kann dich hören
Erst war es nur ein Wort. Das Wort, flink und wendig, überfiel mich, wie alle diese sechzehnn Wörter, aus dem Hinterhalt. Nie hatte ich es bisher geschafft, mich zu wehren, stets zwangen sie mir aufs Neue ihre Botschaft auf; da ist noch eine andere Sprache, deine Muttersprache, glaube ja nicht, die Sprache, die du sprichst, wäre deine Sprache.
Nava Ebrahimi: Sechzehn Wörter
8. Mit einem erzählerischem Anfang
Vom Juli seines zweiten Jahres an der Universität bis zum Januar des folgenden Jahres dachte Tsukuru Tazaki an nichts anderes als an den Tod.
Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
9. Mit etwas Ungewöhnlichem
Drei Männer sind nötig, um die Leiche aus dem Wasser zu ziehen.
Christine Mangan: Nacht über Tanger
Hier gibt es weitere Beispiele für schöne erste Sätze.
Vom ersten Satz zum ersten Absatz
Der erste Satz einer Erzählung oder eines Romans kann nicht alle Funktionen der Exposition auf einmal erfüllen. Dafür sind die weiteren Sätze und Absätze da.
Ein Beispiel:
Nun starrt sie auf das Meer hinaus.
So lautet der erste Satz aus Amy Sackvilles Roman Reise nach Orkney. Für den Leser zeichnet sich damit das Bild einer Frau am Meer ab. Die Erzählweise wirkt ruhig, nachdenklich. Die Frage, wer sie ist, was sie dort tut und wer hier erzählt, beantworten die weiteren Sätze:
Meine junge Frau. Eingewickelt in die lange, grüne Jacke, steht sie auf dem kahlen Strand, im Scherbengeröll aus Kieseln und Krebsen. Sie starrt hinaus, während das Wasser zu ihren Füßen kriecht und sich wieder zurückzieht, und wenn der sanfte, unermüdliche Sog der Gezeiten nah genug ist, um an ihren Zehen zu nuckeln, weicht sie einen Schritt zurück. Bald wird vom Strand nicht mehr viel übrig sein als ein schmaler Streifen Sand, und sie wird auf die Steine ausweiten müssen; dann kommt sie vielleicht zurück zu mir.
Unterdessen beobachte ich vom Fester aus, wie sie aufs Meer hinausstarrt.
Wohin, frage ich, soll ich dich nach der Hochzeit entführen? „Ans Meer“, antwortete sie. „Würdest du bitte mit mir ans Meer fahren?“
In den ersten Sätzen erfahren wir, dass es um den Ich-Erzähler und seine „junge Frau“ geht, die sich auf Hochzeitsreise befinden. Der Ort wird nicht erwähnt, deutet sich aber bereits im Titel des Romans an. Dass die Frau jung ist, ist eine wichtige Information, da sich im Verlauf zeigt, dass sie einen deutlich älteren Mann geheiratet hat.
Interessant an der Einleitung ist die räumliche Distanz: Er beobachtet sie von drinnen und hofft, dass sie zu ihm zurückkommt. Damit deutet sich eine emotionale Distanz an. Ebenso die Wortwahl ‚entführen‘ klingt sehr vieldeutig. Die Naturbeschreibungen wirken kühl und die Ebbe kann als eine Vorausdeutung ihrer Beziehung verstanden werden.
In diesem Anfang steckt bereits so viel Potenzial, eine interessante Konstellation, offene Fragen und eine eigentümliche Atmosphäre, die Erwartungen weckt und den Leser einnimmt.
Den Anfang zum Schluss schreiben
Die Ansprüche an einen ersten Satz sind hoch und führen häufig dazu, dass wir wie erstarrt vor dem leeren Blatt sitzen. Beginne deine Text ganz ohne Druck und in dem Wissen, dass du den Anfang jederzeit ändern kannst.
Viele Autor*innen überarbeiten den Anfang am Schluss, wenn das Ende der Geschichte feststeht. Dann überarbeiten und straffen sie die ersten Sätze und sorgen für den sprachlichen Feinschliff, etwa die Reihenfolge der Wörter solange umzustellen oder nach einem anderen Wort zu suchen, bis der Satz sitzt.
Das ist aus zwei Gründen sinnvoll: Einmal, um Anfang und Ende aufeinander abzustimmen. Zum anderen, um den richtigen Zeitpunkt zu finden, wann die Erzählung einsetzt. Bis wir uns in eine Geschichte eingeschrieben haben, brauchen wir ein paar Zeilen. Prüfe deshalb, ob du die ersten Zeilen streichen kannst und so aus einem späteren Satz dein erster werden kann.
Jedes Kapitel ist ein neuer Anfang
Denk daran: Mit jedem neuen Kapitel in einer Erzählung oder in einem Romans schreibst du einen neuen Anfang. Hierfür gilt das gleiche, was für Seite eins gilt: Ein Satz soll zum nächsten führen. Achte darauf, dass du die Satzanfänge der einzelnen Kapitel variierst und sie nicht alle nach dem gleichen Schema beginnen. Wie du Kapitel abwechslungsreich beginnst, hat Melanie von Storyanalyse ausführlich beschrieben.
Zu jedem Anfang gehört ein Ende. Meist deutet es sich bereits in den ersten Zeilen an. Im nächsten Monat liest du hier im Federschrift-Magazin, wie du das Ende einer Geschichte schreibst.