Das Projekt "La Fraternidad"
Seit heute bin ich per Rad unterwegs. Es ist in einem Zustand, der hier als Standard, bei uns aber als „reperaturbedürftig“ gelten würde. Wieso? Licht und Kotflügel? Wer braucht das? Bremsen? Verkehrt verkabelt (Vorne ist rechts, Hinten ist links) und nur halb funktionstüchtig, weil die Hinterradbremse ein bisserl im Nichts heumtapst. Seitenständer? Klappt bei jeder Bodenwelle herunter (mich macht darauf jeder aufmerksam, ich versteh aber anfangs einfach nicht, was die von mir wollen ), daher bin ich schon ganz froh, dass ich den Großteil der Strecke auf der Panamericana unterwegs bin, das ist die mir bisher einzig bekannte Straße, die in einwandfreiem Zustand ist. Mit Gangschaltung hatte ich hier, ehrlich gesagt sowieso nicht gerechnet, aber selbst die ist vorhanden. Gut, der vordere Kranz ist beinahe nicht schaltbar und die Präzision insgesamt ist weit entfernt jener, die ich von meinem neuen Rad kenne, aber wie gesagt, ich hatte sowieso mit keiner Schaltung gerechnet. Und es ist um Häuser schneller als zu Fuß: 20 Minuten schnell gehen versus 5 Minuten schnell radeln – da gibt es kein Überlegen mehr.
Der Vormittag verläuft beinahe planmäßig, lediglich eingewiesen muss ich noch werden. Weder ins Hospital noch in die Irrenanstalt, sondern in meine Aufgaben und Tätigkeiten. Rosa Estela entwirft einen Arbeitsplan für die nächsten fünf Wochen, der vorsieht, dass ich jede Woche einen anderen Kurs besuche, damit ich alle kennenlerne aber trotzdem genug Zeit habe mich einzugewöhnen. Diese Woche bin ich in der Nachhilfe und Hausübungsgruppe, wo die Kinder – das überrascht ob ihres Namens jetzt vielleicht ein bisschen – Hausübungen machen und Nachhilfe nehmen können.
Ich verstehe nur Bahnhof, die Kinder beschäftigen sich ja mit ihren Grundschulhausübungen, aber als der Stein ins Rollen kommt, bleiben die Hefte liegen und die Karte wird auf Austria untersucht. Die Karte hängt ein bisschen hoch und als Erstes wird natürlich Australien gefunden. Zudem ist die Karte in in der jeweiligen Landessprache beschriftet, deshalb ist das kleine Land, das mit dem eigenartigen O beginnt vielleicht ein bisschen gewönungsbedürftig. Mal schauen, ob morgen noch jemand weiß, wo ich herkomme
Zwischendrin werde ich dem Stadt(projekte)planer Julio Manuel vorgestellt, der drei Laptops und ein paar Computer für die Alcaldía (gewissermaßen das Rathaus) erhalten hat. Die drei Laptops sollen mehr Arbeitsspeicher erhalten, deshalb kommt er kurzerhand mit allen dreien daher, drückt sie mir in die Hand – und quasselt los. Zum Glück weiß ich von den Laptops und ihrem Problem (zu wenig Arbeitsspeicher ), sonst hätte ich noch blöder dreinschauen müssen, um der Situation die Realität nicht vorzuenthalten. Ich kann ihm dann trotz anfänglicher Verwirrung beider Seiten – das muss man auch erst mal schaffen, dass man sich und sein Gegenüber im Alleingang verwirrt – genau überhaupt nichts sagen, deshalb stellen wir also die drei Patienten ins Büro und ich erkundige mich über Mittag, was eigentlich grad passiert ist.
Dann wird Fangen gespielt. Aber nur die Jungs. Die Mädels bleiben bei Isaela der Leiterin des Kurses, genannt Isa und schreiben. Hausübungen glaube ich, geht ja hektisch hin und her, da verliert man das aus den Augen. Ein Mädchen sieht zu, kommentiert immer wieder, wer grad dran ist und ruft dann immer wieder „Juego“ in die Runde. Also, „Ich spiele“. Nur nimmt das keiner von den Jungs wahr und selbst als ich sie einmal fange bleibt sie sitzen und die Burschen weisen mich gleich zurecht, dass die ja gar nicht mitspielt. Als dann drei Mädels anfangen Fangen zu spielen frage ich, ob wir mit ihnen mitspielen, aber der Kleinste schüttelt bloß den Kopf. Mit zwischen Ungläubigkeit und Verlegenheit pendelnder Miene. Tja … mit 10 Jahren ist man halt den Mädels noch spinnefeind. Sogar hier.
Um 10 Uhr verschwinden die Kinder urplötzlich: Sie müssen sich waschen, essen und dann um 12 in der Schule sein. Jetzt beginnt die Nachhilfezeit, also sollten Kinder kommen. Es taucht aber lediglich ein kleiner Junge auf, der in die Vorschule geht. Anscheinend grassiert die Grippe, da fallen dann immer die Kinder aus. Der Bub ist überhaupt nicht bei der Sache (er sollte a, e, i, o, u üben) und erzählt von seiner Familie und dass er oder sein Bruder – bin ich nicht ganz sicher – eine Waffe kauft mit vielen Kugeln und irgendwen umbringt. Aber mehr so als Fantasie. Und dann kommt was, was ich glücklicherweise am Vortag gelernt habe: Panza ist Bauch. Vor allem im Bezug auf Schwangere. Und er erklärt uns, dass Kinder von dort kommen. Wie sie rauskommen erklärt er auch, da fängt dann Isa an zu lachen, ich verstehe es, vielleicht zum Glück nicht. Auf die Frage, wie er „herausgekommen“ ist, meint er, er sei käme aus dem Rock seiner Mutter. Und eine absolut grausliche Angewohnheit pflegt der Junge: Er kaut auf seinen Blei- und Buntstiften herum. Aber nicht nur kiefeln, sondern richtig reinbeißen bis die Spreissel fliegen. Und nicht nur am hinteren, stumpfen Ende sondern auch vorne. Drum muss er auch ständig spitzen, weil immer die Spitzen verschwinden. Und zwischen den Zähnen tanzend immer wieder auftauchen. Grauslich, sag ich ja.
Der zweite Halbtag gestaltet sich weit schwieriger. Es sind mehr Kinder da, die sind zu allem Überfluss auch noch lauter und sie schlagen sich gegenseitig aus Spaß die Köpfe ein. Da wird getreten, gezogen, geschlagen und gespuckt, bis irgendwer weint. Und ich mittendrin mit keinem Vokabular für solche Fälle. Immerhin ist eine Lehrerin (Alma Ligia) da, die offenbar immer Nachmittags vorbeikommt und unentgeltlich Nachhilfe gibt. Laut Rosa Estelas Plan sollte ich die erste Stunde mit einem Spiel gestalten, das nimmt dann aber die profesora in die Hand, weil ich keinen blassen Dunst habe, was in dem Spielebuch eigentlich drinsteht. Es gäbe zwar auch ein Anderes, in deutsch gehalten, aber die Hälfte besteht aus Ballspielen, die andere Hälfte lässt sich gar nicht oder nur schwer drinnen abhalten. Deshalb übernimmt Alma Ligia das Kommando und versucht Herrin der Lage zu werden, es entstehen ein paar Spiele, aber schon beim Ersten scheitert es an den komplizierten Spielregeln. Dann werden die Spiele immer leichter, die Kinder immer lauter und immer weniger wollen mitspielen, weil die Rowdys immer mehr werden.
Nach einer Stunde ist der Spuk vorbei, mehr als die Hälfte verschwinden wieder in anderen Kursen oder gehen nach Hause, nur ein paar wenige bleiben für die Nachhilfe. Drei Burschen kugeln mit ihren Murmeln am Boden herum, zwei Mädel malen und schreiben am Whiteboard die Stifte leer und nach einer kurzen und zu heftigen Partie Uno (das hier Solo heißt) der Murmelkugler wird es fast gespenstisch ruhig. Erst als es Refrigerio gibt wird es augenblicklich wieder wahnsinnig laut. Und auf einmal sind wieder alle Kinder hier. Refrigerio ist quasi eine Jause, die aus einem Keks und einem Becher Saft besteht und wird den Kindern in der großen Pause gratis angeboten. Und das Projekt bekommt diese Unterstützung eben auch.
Nach der großen Fütterung setze ich mich noch geschwind an die drei Laptops des Bürgermeisters, inzwischen weiß ich was zu tun ist. Fünf Minuten später ist auch das getan und es geht nach Hause.
Ich weiß noch, dass ich eine Vorstellung meiner Gastfamilie geben wollte, aber das geht sich schon wieder nicht aus. Denn jede Minute mehr, die man in sein Kastl starrt gilt man mehr und mehr als ruhig die Umwelt ignorierend, befürchte ich.
Und so bitte nicht!