Der Camino ist nicht das Glücksbärchi-Land

Respekt vor dem Camino

In einem vergangenen Beitrag habe ich schon einmal meine Gedanken “zu Papier gebracht”, was es heißt, als Frau auf dem Jakobsweg unterwegs zu sein. Eigentlich finde ich diesen Ausdruck unpassend, wenn nicht sogar albern: “als Frau alleine unterwegs” – na und? Mal abgesehen davon, dass wir in einer Zeit leben, in der ein solcher Gedanke mehr als nur veraltet klingt, sollte es für jede auch nur halbwegs emanzipierte Frau kein Problem sein, gerade auf einer mittlerweile touristisch so erschlossenen Route wie dem Jakobsweg ihren Weg zu gehen.

Tatsächlich denkt aber nicht jeder, vor allem nicht jede Frau so. Ich lerne das gerade, durch eine bedauerlicherweise sehr traurige Situation, aber ich lerne es. Die Entscheidung, sich für ein paar Tage oder gleich für mehrere Wochen und Monate auf einen Fernwanderweg zu begeben, ist für einige Frauen keineswegs so selbstverständlich und greifbar, wie für mich oder andere Pilgerinnen, die ich (virtuell) kennenlernen durfte.

Als Frau auf dem Camino

Da sind auf der einen Seite so wunderbar (starke) Frauen wie Frau Holle von Frau Holle auf dem Jakobsweg, die den Camino Francés erst alleine lief, bevor sie mit ihrem Freund vor der Haustür gestartet ist, um dann knapp 2.400km bis nach Santiago de Compostela zu laufen. Oder die, wie ich finde überaus inspirierende und wirklich bezaubernde Elissa von Sometimes She Travels, die im vergangenen Jahr auf dem Camino Francés unterwegs war und dieses Jahr fünf Tage nach mir in Irun startet, um dann 55 Tage lang auf verschiedenen Routen des Jakobswegs zu wandern. Oder aber Sabine, die als Peregrina29 die gedankliche Planung meines Jakobswegs 2015 entscheidend beeinflusst hat, dank der ich schöne Eindrücke des vor mir liegenden Wegs auf dem Camino de la Costa gewinnen konnte und mir Llanes als mögliches Ziel meiner 16-tägigen Wanderreise auf dem Camino de la Costa gesetzt habe.

Auf der anderen Seite sind da aber auch Frauen, die mit… ja wie schreib ich das am besten… weniger Wagemut gesegnet sind… vielleicht kann man sogar so weit gehen und von weniger Furchtlosigkeit sprechen. Ich weiß nicht, irgendwie klingt das irre. Aber vielleicht auch nur aus dem Grund, da es mir nicht so geht. Auf Facebook und in den großen Camino-Foren lese ich aber immer wieder von Sorge, einer Flut von Gedanken und zum Teil sogar von Angst. Ich kann das wirklich nur schwer nachvollziehen, kann es aufgrund der aktuellen Situation auf dem Camino, aufgrund der jüngsten Ereignisse ein bißchen besser einordnen.

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Wo ist Denise Thiem?

Über die Suche nach Denise Thiem hatte ich schon einmal berichtet, möchte und muss das hier aber noch einmal aufgreifen. Meine Namensvetterin aus den USA ist seit Anfang April, also mittlerweile seit über einem Monat vermisst. Auf dem Camino vermisst. Ich muss mir das immer wieder vorsagen, weil das eigentlich so fürchterlich unglaublich klingt.

Der Camino war für mich immer ein Ort, an dem alles ein Stück besser ist. An dem alles ein wenig ruhiger und intensiver ist, an dem die Menschen ein wenig gemeinsamer sind. Trotz der fürchterlichen Tatsache, dass Denise noch immer nicht gefunden wurde und kürzlich auch zwei weitere Menschen unweit des Caminos angegriffen wurden, lasse ich nicht zu, dass dem Camino, meinem Camino ein anderes Bild aufgebürdet wird. Ich habe heute einen Beitrag auf Facebook dazu veröffentlicht, der im Grunde ganz gut meine Sicht zu diesem Thema zusammenfasst:

Der Camino ist nicht das Glücksbärchiland. Er ist Teil dieser Welt, hier passieren genauso schlimme Sachen wie sie anderenorts geschehen können. Aber der Camino hat weitaus mehr Gutes und Schönes zu bieten, als es die anderen Orte können.

Wer sich nun nicht komplett verschrecken lässt, sollte einfach auf Habseligkeiten aufpassen, notfalls in Gruppen gehen und einfach auch mal die Augen offen halten. Ich war 2010 auf dem Francés alleine und werde in eine Monat auf dem Camino de la Costa alleine unterwegs sein. Ich bin nicht die Ängstliche, habe aber schon Respekt und weiß, dass es auch auf dem Camino und daneben schlechte Menschen geben kann und gibt. Ich bin nicht naiv. Aber vorsichtig und verliere mein Vertrauen nicht.

Und ich lasse mir den Camino und all das Wunderbare, das er schenkt nicht rauben.

Angst? Nein.
Respekt? Aber sicher doch!

Klar, wer seine Ruhe braucht und mal für sich sein möchte, findet auch auf dem Camino Francés diese Momente. Aber im Grunde ist hier niemand allein, der es nicht sein möchte. Gerade auf diesem klassischen Jakobsweg ist es doch fast immer so, dass man in Sicht- meistens auch in Hörweite andere Pilger hat. Das war zumindest bei mir im Jahr 2010 so. Einsam habe ich mich während der ersten Tage meines ersten Caminos gefühlt – ja. Aber allein? Nein, eigentlich nie. Vielleicht war das auch der Grund dafür, dass ich niemals Grund zur Furcht hatte. Ich habe während dieser vier Wochen selbst keinen Schaden genommen (mal abgesehen von Muskelkater und ähnlichen körperlichen Gebrechen) und habe weder in meinem direkten Camino-Umfeld noch über den Camino Telegraph irgendein Verbrechen mitbekommen.

Das soll keineswegs die aktuellen Ereignisse herunterspielen. Ich denke täglich an Denise Thiem und hoffe mit ganzem Herzen, dass die Pilger-Gemeinschaft, vor allem aber ihre Familie bald eine gute Nachricht erhält. Ich finde schlimm, dass diese beiden Menschen in Spanien kürzlich von Fremden angegriffen und verfolgt wurden und ich bedaure jede einzelne Geschichte, die gerade jetzt in den einschlägigen Foren auftaucht. Geschichten, die Pilger auf ihren Reisen erlebt haben, die sie aber bisher nicht erzählt oder für relevant erachtet haben. Das alles ist tragisch, aber es ist ganz normal, dass dies gerade jetzt alles auf einmal kommt. Das ist normal für uns Menschen und sicherlich noch ein bißchen normaler in einer Gemeinschaft, die durch ein Erlebnis und ein Gefühl miteinander verbunden ist, obwohl sich diese Menschen noch nie getroffen haben.

Trotzdem muss es ins rechte Licht gerückt werden. Trotz aller Tragik muss hier die Relation wieder hergestellt werden. Diese fürchterlichen Dinge, die benannten aktuellen drei Ereignisse und die Geschichten von Pilgerreisen vergangener Jahre bilden den Bruchteil des Bruchteils des Bruchteils eines Bruchteils an Geschehen auf dem Jakobsweg. So etwas kann auch auf dem Camino geschehen, aber: DAS IST NICHT NORMAL!

Ich werde meinen Camino, der im übrigen heute in 22 Tagen beginnt, mit allen Sinnen genießen. Ich werden ihn erleben, fühlen, schmecken und bis zum Höchstmaß auskosten. Ich werde die Augen offen halten, keine Frage. Ich werde vorsichtig sein und aufpassen.

Aber ich werde den Camino aus vollem Herzen genießen.
Ohne Wenn und Aber!

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