Der bürokratische Typus

Gürtner drängte auf die sofortige Einstellung. Die heimliche Tötung Geisteskranker musste ein Ende nehmen. Nicht irgendwann - jetzt gleich. Die Bevölkerung gab den Justizbehörden diesbezüglich Hinweise. Sie wussten ja auch nichts. Man weihte sie ja nicht ein. So erfuhr auch Gürtner, nicht weniger als Reichsjustizminister, von den Vorgängen. Diese Zustände schienen ihm unhaltbar, sie konnten nicht weiterhin aufrechterhalten werden. Bewirkt hat sein Protest nichts. Erst später, Gürtner war mittlerweile verstorben, hob man die heimliche Euthanasie auf und verfrachtete sie in eine noch heimlichere Heimlichkeit.

Gürtner - ein Name, mehr nicht. Zudem eine Parabel auf einen Typus, wie wir ihn heute, unter freilich doch sehr anderen, ja auch menschlicheren Umständen, immer noch kennen. Eichmännische Gemüter, die das jeweilige in Kraft stehende Gesetz als Gewissen melden. Denn Gürtner beunruhigte es weniger, dass da wehrlose Menschen, die eigentlich Schutzbefohlene der Gesellschaft sein sollten, in den Tod gespritzt und gehungert wurden - ihn beunruhigte das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage. Der heimliche Erlass, den Hitler einigen ausgewählte Ärzte - welche Ehre, ausgewählt geworden zu sein! - zukommen ließ, stellte keine gesetzliche Grundlage dar. Das war Mauschelei, waren nur Absprachen zwischen dem Ideologieklüngel - ein moderner Staat konnte so nicht sein.

Sonst war er doch auch nicht zimperlich, der Gürtner. Er wirkte bei der Außerkraftsetzung der Bürgerrechte der Weimarer Verfassung mit; diente juristisch dem "deutschen Blut und der deutschen Ehre", half also der Rassenschande in die Galoschen; sprach sich dafür aus, dass jüdische Männer Israel, jüdische Frauen Sara heißen sollten. Wobei er humanistisch geschult genug war, denn die Todesstrafe, wie man sie bis dato vollstreckte, nämlich mit einem Handbeil, wollte ihm nicht gefallen - er schlug dem Führer vor, künftig die Guillotine verwenden zu lassen.

Erschreckend ist vielmehr, dass Gürtner gar kein Nazi war. Der Mann wurde erst 1937 Mitglied der NSDAP - da war er schon fünf Jahre Reichtsjustizminister. Das war er schon im Kabinett Papens und Schleichers. Es geht auch gar nicht um Gürtner, er fungiert als Gleichnis, könnte man sagen. So wie man Eichmann gelegentlich als Allegorie verwendet. Der hat auch unschuldig beteuert, nur der Knecht seiner Herren gewesen zu sein. Pflichtgefühl und Gehorsam gegenüber dem Gesetz und den Gesetzgebern - so hat man es gelehrt bekommen. Den Platz einnehmen, den die Gesellschaft einen erteilt und dann gehorsam das tun, was gesetzlich verbürgt verlangt wird. Ohnehin ist es doch so, dass jemand anderes am Platz säße, wenn man selbst seinen Hintern nicht draufschöbe - es ändert sich also nichts, wenn man zu viel Gewissen zeigt; selbst entledigt man sich der undankbaren Aufgabe zwar, aber ein anderer Erfüllungsgehilfe fände sich ja doch immer.

Dieser bürokratische Typus, der nicht ideologisch ist, aber dennoch tut, was die Ideologen wollen, der mag die wirkliche Gefahr jedes Totalitarismus sein. Klar, die verbohrten Betonköpfe, die die Welt in ideologische Kategorien stürzen, die kann man nicht als ungefährlich einstufen. Aber was wären sie ohne den bürokratischen, den dienstbeflissenen Typus, der sein Gewissen hinter Paragraphen hält? Was wären sie ohne die Oberpriester der Dienstwilligkeit und des Gehorsams? Gürtner dient hier nur als Name - es gürtnert doch allezeit. Auch jetzt. Natürlich schicken sie niemanden unter das Fallbeil. Die Mittel sind perfider geworden. Sie haben einen menschlichen Anstrich erhalten. Das dürften auch die damaligen Erfahrungen gemacht haben - der faschistische Totalitarismus hat bewirkt, dass der Totalitarismus des ungezügelten und deregulierten Marktes etwas sanftmütiger daherkommt, etwas humaner tut, sich Floskeln des Mitfühlens erfunden und bereitgestellt hat. Die nationale Größe, in deren Dienst man terrorisierte, mordete und brandschatzte, hat als Begriff ausgedient - heute nennt sich das Wohlstand und meint, etwas weniger rassistisch konzipiert: dasselbe.

Gleichwohl zählt für die Erfüllungsgehilfen nicht das Gewissen. Es kann manchmal durchblitzen - das ist nur menschlich. Aber man muß wissen, dass zwischen Gesetz und Gewissen zu scheiden ist. "Das moralische Gesetz in mir", wie Kant es mal nannte, es ist irreführend, weil das kein Gesetz sein darf - es darf ein Gefühl sein, eine kleine Sentimentalität, aber bloß nichts Gesetztes. Gesetze stehen in Gesetzesbüchern, nicht in einem selbst, in seiner moralischen Gesittung. Das Gesetz hat "der Himmel über mir" zu sein, um nochmal kantisch zu reden. Gewissenhafte Bürokraten - das meint paradoxerweise Leute, die am Gesetz bleiben, nicht am Gewissen. Gewissenhaft ist er nur, wenn er gewissenlos ist. Gürtner war kein Nazi, die Tötung Geisteskranker mag ihn auch getroffen haben - aber Kriterium war nicht das Aufheulen der Nächstenliebe in ihm, durfte es nicht sein. Es gab kein Gesetz dazu und es musste eines geschaffen werden, was ihm wahrscheinlich menschlich nicht gefallen hätte, bürokratisch aber nicht zu beanstanden gewesen wäre. Die kleinen menschlichen Regungen im Griff zu haben: so wickelt man die Gesellschaftsgeschäfte ab, egal unter welchen Herren.

Natürlich braucht es die Bürokratie - ohne geht es nicht in einer Massengesellschaft. Man stelle sich vor, man betritt eine Behörde und dort würde das "moralische Gesetz in mir" wüten - mancher Kleingeist, der es in den Staatsdienst geschafft hat, würde seine kleinbürgerliche Moral austoben und Lebensumstände kritisieren und beschimpfen. Natürlich braucht es Menschen, die im Dienste der Gesellschaft "Bürokratie machen", ohne jeden vorstelligen Bürger in die moralische Mangel zu nehmen. Maul halten, Dienst machen, Gesetze abwickeln. Das hat schon auch seine Vorteile. Aber wo hat das Gesetz aufzuhören und das Gewissen zu beginnen? Kann das Gesetz noch Vorrang haben, wenn man den Menschen in den Hunger schickt, in die Obdachlosigkeit, ihn ohne Krankenversicherung in eine krankmachende Welt?

Die ethische Philosophie hat sich bemüht, zwischen der Notwendigkeit und der Unerträglichkeit zu vermitteln. Heute stirbt die Philosophie, ist eine Nischendisziplin - daher machen wir uns keine Gedanken mehr über Gesetz und Gewissen. Hin und wieder unkt es, dass mehr Gewissen ins Gesetz soll - die christlichen Kirchen können das ganz gut. Aber solange es noch nicht drin ist, soll das gewissenlose Gesetz befolgt werden. Widerstand wird nie empfohlen. Auch hier nur Gürtnerei. Mitmachen, wenn es sich nicht ändern läßt. Staatsdienstbeflissene malochen gewissenlos - es sei nochmals gesagt: sie reichen niemanden an eine Todesmaschinerie weiter. Was aber auch zu optimistisch gesagt ist. Lebt man innerhalb deutscher Grenzen, dann ist man davor sicher - aber was ist mit denen, die aus ihrer Heimat hierher flüchteten, die aber zurückgeschickt werden, auch wenn dort Folter und Tod warten? Die werden tatsächlich gehorsam in den Tod manövriert - Buchstabe für Buchstabe korrekt, weil es das Gesetz so sagt.

Gewissen ist in neoliberalen Zeiten eine gefährliche Angelegenheit. Wenn man zwei Jahrzehnte in Schulung war, dort gezeigt bekam, dass der Druck auf Menschen die gesellschaftliche Konstante sei, die man gar nicht als böse auffassen soll, sondern als aktivierende Kraft, als Anreize verteilende Größe, so schleift sich daran auch das eigene Gewissen. Irgendwann glaubt man, dass der ausgeübte Druck sinnvoll und richtig ist - und er läßt sich plötzlich mit dem eigenen Gewissen vereinbaren. Schlecht ist daran nichts mehr. Er ist schlicht notwendig und eigentlich auch fürsorglich. Er ist die Vereinbarung von Gewissen und Gesetzeskonformität. Wer unter dem Druck zusammenbricht, der hat sich der Fürsorge verweigert - man war doch gewissenhaft, aber es hat nichts genutzt.

Heute gleicht nicht dem Gestern. Aber es ging doch nie darum, das Gewissen aus den Gesetzeslage zu bannen - man wollte doch eh und je, dass die Menschen glauben, sie handelten gewissenhaft, wenn sie sich an das geltende Gesetz halten. Heute ist es der Druck, mit dem man den Mensch belegt, der aber verbrämt wird als heiligen Wächter des Wohlstandes - damals waren es die Ausbünde an Sozialrassismen, die für besonders gewissenhaft gegenüber der Volksgemeinschaft galten. Eichmann war nicht gewissenlos, wie man das oft zu vereinfachend liest. Sein Gewissen war nur anders sozialisiert - nicht an unverbrüchliche Moralinstanzen, nicht an "moralische Gesetze in ihm" gebunden, sondern an die Predigten seiner Zeit. Das moralische Gesetz, Gutes zu wollen, das ist nicht unbedingt genauso anerzogen, wie das Lebens- und Menschenfeindliche. Precht beschreibt das anschaulich - Kropotkin hat es als evolutionäres Prinzip entlarvt.

Im sozialen Wesen, das sich Mensch nennt, ist das Miteinander verankert, nicht nur anerzogen. Wir retten Menschenleben, weil es dem Überleben der menschlichen Rasse dient - so sagt es die Evolution; wir retten Menschenleben, weil wir auch gerettet werden wollten - so sagt es der Utilitarismus. Gute Gründe. Menschen zu töten - welches begründbare Motiv steht dahinter? Man muß sich welche schmieden, erfinden, den Menschen in den Kopf pflanzen - und es zu deren Gewissenslage machen. Dann kann das Gesetz auch Schrecken verbreiten, wenn der am Gesetz arbeitende Staatsbedienstete es als Gewissen anerkennt, dann lebt es sich damit ohne Gewissensbisse.

Mag sein, dass Gürtner nicht nur die fehlende gesetzliche Grundlage störte. Vielleicht war da auch was in ihm, dass das Ermorden von Menschen als Übertreten seiner moralischen Hemmschwelle definierte. Schlimmer als jene, die ihr Gewissen so modifizieren, dass das Töten zu einer gewissenhafte Aufgabe wird, sind solche, die ihr Gewissen unterdrücken und dennoch weitermachen. Der sinnbildliche Gürtner war so einer, bis zu dieser Schwelle. Bald darauf starb er - übrigens eines natürlichen Todes. Genug gibt es heute, die glauben, sie handeln mit reinem Gewissen, wenn sie Drangsal verordnen - genug gibt es, die sich Gewissen verbeißen und trotzdem mitmachen. Was für ein vergeudetes Potenzial, die Gesellschaft doch noch zu verändern...


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