Der Befehl

DER MENSCH, BIOLOGISCH GESEHEN, IST DAS FURCHTBARSTE RAUBTIER, UND DAS EINZIGE, DAS SEINE EIGENE GATTUNG ANGREIFT.
(William James)
Ein halbes Jahr war Jochen nun schon an der Grenze. Er hatte sich damals, wie es sich für den Sohn eines hochrangigen Offiziers der nationalen Volksarmee gehörte, freiwillig zu den Grenztruppen gemeldet. Für den Dienst am antifaschistischen Schutzwall, an dem es, wie man ihm und seinen Kameraden immer wieder eingetrichtert hatte, von westlichen Provokateuren und Agenten des imperialistische Auslandes, Verbrecher, die nur auf ihre Chance warteten, dem Arbeiter und Bauernstaat Schaden zuzufügen, nur so wimmelte.
Ein Wimmeln allerdings, das sich auch nach sechs Monaten nicht so recht einstellen wollte. Denn die einzigen Bedrohungen, die es bis dahin in Jochens Grenzabschnitt zu verzeichnen gab, waren ein paar wilden Kaninchen, die ab und an durch das Gelände hoppelten und ein paar einzelnen Fahrzeugen des Bundesgrenzschutzes, die immer wieder mal auf der anderen Seite des Zaunes vorbei fuhren, für einen kurzen Augenblick anhielten, dann aber sofort weiter fuhren.
Nein. Das alles hatte weder etwas mit der ehrenvollen Aufgabe zutun, von der man ihm und den anderen seiner Truppe immer wieder erzählte, noch mit der Aufregung, die sich Jochen damals versprach, als er sich für diesen Dienst an der Staatsgrenze entschied.
Eine Ereignislosigkeit, die zwar von den meisten seiner vorwiegend älteren Kameraden dankbar angenommen wurde, über die sich aber der noch sehr junge und unerfahrene Jochen bei jeder Gelegenheit beschwerte, die sich ihm bot.
So wie auch in dieser einen Nacht, in der er mit seinem Kameraden Günter und Leutnant Fischer, dem damaligen Wachoffizier auf Patrouille ging. Eine Nacht, in der nicht nur seine Bitte nach Aufregung das erste Mal erhört wurden, sondern in der sich auch sein Leben für immer verändern sollte.
*
Es war eine von diesen Patrouille, wie sie der junge Jochen schon unzählige Male erlebt hatte. Ein Kontrollgang, auf dem man sich entweder und das bei Wind und Wetter, im umliegenden Wald herum trieb, um in ihm nach verdächtigen Personen Ausschau zu halten oder auf dem man stundenlang den Postengang entlang lief, um die Grenzanlagen des zu bewachenden Abschnittes nach verräterischen Spuren eines Grenzverletzers zu untersuchen.
Nichts also, das man als besonders aufregend bezeichnen konnte. Zumindest nicht, bis zu dieser einen Nacht. Als sich Jochen, Günter und Leutnant Fischer beinahe lautlos und auf jede Bewegung und auf jedes Geräusch achtend durch das dichte Unterholz des Waldes bewegten. Als Fischer plötzlich das Zeichen zur Achtung gab und alle drei Männer in die Hocke gingen, ihr AK47 Sturmgewehre durchzogen und mit den Augen angestrengt ihre Umgebung nach einer oder mehreren verdächtigen Personen absuchten.
War das vielleicht der Augenblick, auf den Jochen so lange gewartet hatte? Würde er jetzt endlich etwas Aufregendes erleben? Eine Frage, auf die der junge Soldat nur kurze Zeit später eine Antwort erhalten sollte. Denn kaum, dass der Wachoffizier das leise Knacken im Wald vernommen, kaum, dass er das Kommando zur erhöhten Wachsamkeit gegeben hatte, als die drei Grenzer auch schon den Verursacher dieses Geräusches entdeckten.
Es war ein junger Mann, der sich sehr vorsichtig und in gebeugter Haltung durch den Wald in Richtung Grenze bewegte. Ein Schatten nur, der, sich unbeobachtet fühlend von einem Baum und von einem Busch zum anderen huschte. Ohne jedoch zu ahnen, dass man ihn längst entdeckt hatte. Dass, noch während er hoffte, bald in der ersehnten Freiheit zu sein, drei bereits entsicherte Gewehre auf ihn zielten.
*
Ja. Nun war es endlich so weit. Endlich passierte etwas, das Jochen als wirklich aufregend bezeichnen konnte. Als etwas, von dem er den anderen Kameraden erzählen, von dem er sagen konnte, dass er dabei war. Er war noch zu unerfahren und konnte daher, als er da neben Günter und Leutnant Fischer auf dem Waldboden kniete und wie sie seine AK47 im Anschlag hielt nicht ahnen, welch einen Weg dieses von ihm so lang ersehnte Abenteuer noch nehmen würde. Er konnte nicht wissen, dass dieser Mann, den man inzwischen sehr deutlich erkennen konnte und auf den ihm Leutnant Fischer plötzlich befahl, das Feuer zu eröffnen, kein westlicher Provokateur oder Agenten war, sondern nur jemand, der sein, dem Menschen gegebenes Recht wahr nehmen wollte, in Freiheit zu leben.
*
„Schießen Sie, Schütze Schröder.“ Befahl der Leutnant mit leiser aber betonter Stimme. „Machen Sie schon, sonst entkommt uns dieses verdammte Veräterschwein.“
Ein Befehl, der Jochen, obwohl er so lange auf einen solchen Moment gewartet hatte, wie ein Vorschlaghammer traf. Und das nicht nur, weil er in seinem ganzen Leben noch nie auf einen Menschen geschossen hatte, sondern auch, weil dieser Befehl all dem widersprach, das er im Laufe seiner Ausbildung gelernt hatte.
Ein Befehl, dem nicht etwa ein „Halt stehen bleiben“ oder ein paar Warnschüsse in die Luft voraus gingen, sondern der ganz klar sagte, dass Jochen ohne Vorwarnung das Feuer auf diesen Mann eröffnen sollte. Auf einen Mann, von dem er inzwischen ziemlich sicher war, dass dieser kein Spion oder Provokateur sein konnte. Von dem er überzeugt war, dass er nicht, wie erwartet aus dem Westen kam, sondern in diesen fliehen wollte.
*
Nein. Jochen konnte nicht einfach auf diesen Mann schießen. Auch nicht, ob wohl dieser offensichtlich gerade im Begriff war, sein Heimatland zu verraten. Obwohl er damit etwas tat, was Jochen selbst zutiefst verachtete. Es war ein Mensch, den er da vor seinem Lauf hatte. Jemand, den man zwar stoppen und für seine Tat bestrafen musste, den man aber nicht einfach, wie einen Hasen über den Haufen schießen durfte.
Eine Ansicht, die Leutnant Fischer, als Jochen seine Waffe senkte und seine Bedenken darlegte nicht im geringsten interessierte. Im Gegenteil. Denn kaum, dass Jochen seine Meinung geäußert hatte, als Fischer ihm auch schon die Waffe entriss und den Befehl, den er zuvor ihm erteilt hatte, an seinen Kameraden Günter weiter gab.
**
Jochen wurde damals wegen der von Leutnant Fischer gemeldeten Befehlsverweigerung vor ein Militärgericht der Nationalen Volksarmee gestellt und zu einer Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten verurteilt, die er bis zu ihrem Ende im DDR Militärgefängnis Schwedt verbrachte.
Leutnant Fischer, der den Schießbefehl gegeben hatte und Schütze Günter Reinert, der diesen Befehl zur Tötung des Flüchtigen mit Erfolg ausführte, wurden für die Verhinderung einer Verletzung der Staatsgrenze der DDR vor ihrem Regiment mit einer Auszeichnung und ein paar Tagen Sonderurlaub belohnt.
Zwei Mörder, die erst nach dem Fall der Mauer, nach dem Untergang des DDR Regimes zur Rechenschaft gezogen wurden.
Und Jochen. Er lebt heute in seiner Wahlheimatstadt Lübeck. Dort wo er, wie nur wenige mit gutem Gewissen sagen kann, keine Befehle befolgt zu haben.
Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.

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