Der Alltag ist Terror genug

Es gibt bei genauerer Betrachtung eine ganze Reihe von Ungereimtheiten bei der Berichterstattung über das Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo und die nachfolgenden Ereignisse. Vermutlich wird nie vollständig aufgeklärt werden, welche Umstände dazu geführt haben, dass die einschlägig vorbestraften und polizeibekannten Täter am hellichten Tag in der französischen Hauptstadt ein offenbar lange vorbereitetes Attentat begehen konnten. Diejenigen, die es wussten, sind tot.

Andererseits denke ich aber nicht, das man da zu viel hineingeheimnissen sollte. Ich habe von Anfang an nicht an ein Mordkomplott mit Staatsbeteiligung geglaubt: Wenn Geheimdienste Leute umbringen wollen, können die das viel eleganter und vor allem diskreter. Und warum sollte welcher Geheimdienst auch immer ein paar Satiriker umbringen wollen – und nicht gezielt investigativ tätige Journalisten, also welche, die irgendwelche Staatsgeheimnisse in der Klasse der Snowden-Leaks veröffentlichen könnten? Wenn plötzlich und unerwartet Journalisten, die beispielsweise für The Intercept recherchieren, sterben würden – dann würde ich eher an CIA und Co. als an alles andere denken. Aber bei einem (zugegebenerweise politisch etwas unkorrekten) Witzblatt?!

Denkbar wäre natürlich, dass Geheimdienste und/oder Polizei aktiv weggeschaut haben, wie sie es in Deutschland angesichts der Verbrechen des NSU offenbar getan haben – wobei die widerliche Kumpanei zwischen Verfassungsschutz und rechtsextremer Szene ja eine Sache für sich ist, sie ist sozusagen systembedingt – die alten Nazis haben den neuen Apparat nach dem Krieg ja mit aufgebaut. Aber Kumpanei von Ermittlungsbehörden mit Dschihadisten?! Glaub ich nicht – zumindest nicht auf dieser Ebene. Dass der Westen auf hohem Niveau mit Islamisten kungelt, sieht man ja an den guten Beziehungen zur völlig undemokratischen, aber kapitalistisch orientierten islamistischen Monarchie in Saudi Arabien: Die haben es zwar auch nicht so mit Menschenrechten und lassen unliebsame Blogger schon mal öffentlich auspeitschen (vermutlich träumt davon auch mancher Presse-Chef hierzulande) – aber ich habe noch keine Kampagne gesehen in unseren Medien gesehen, die fordert, dass König Abdullah weg müsse. Warum auch? Mit dem kann man ja gut Geschäfte machen. Mit dem gemeinen Dschihadisten von nebenan sieht das ganz anders aus – die werden sicherlich mindestens genauso verfolgt wie das ganze linke Gesocks.

Insofern ist es müßig, irgendwelche Verschwörungstheorien um die Charlie-Hebdo-Attentäter zu bemühen: Da braucht es keine. Es ist nun mal nicht möglich, jeden Schulschwänzer und Kleinkriminellen rund um die Uhr zu überwachen, auch nicht, wenn er anfängt, sich für plötzlich den Koran zu interessieren. Da helfen auch Instrumente wie die anlasslose Vorratsdatenspeicherung nicht, nach der hierzulande ja jetzt wieder laut gerufen wird – in Frankreich wird sie seit Jahren praktiziert, dort werden Verbindungsdaten bereits 12 Monate lang gespeichert. Aber wie man sieht, helfen auch die größten Datenberge nicht, wenn man nicht weiß, nach welcher Nadel man im Heuhaufen gerade suchen soll.

Dank der Enthüllungen von Edward Snowden ist inzwischen bekannt, dass die Geheimdienste und allen voran die NSA, sowieso schon alle denkbaren Daten abgreifen und auswerten – man kann davon ausgehen, dass alles, was technisch möglich ist, schon längst gemacht wird – ob das nun legal ist oder nicht. Die wichtigere Frage ist jedoch, was das alles nützt. Und die Antwort ist – offenbar nicht so richtig viel.

Es ist seit 9/11 bestimmt deutlich schwieriger geworden, Flugzeuge zu entführen und als Waffen zu benutzen. Aber dank der guten Geschäfte der Rüstungsindustrie und der zahlreichen Konflikte auf der Welt sind dermaßen viele Waffen in Umlauf, dass jeder, der unbedingt ein Attentat begehen will, auch an die dafür benötigten Utensilien heran kommt, ohne dass die Behörden das gleich auf dem Schirm haben. Wie eine belgische Zeitung berichtet, sollen die Attentäter von Paris einen Granatwerfer und eine Kalaschnikoff in Brüssel am Bahnhof gekauft haben – für weniger als 5.000 Euro.

Und dann haben sie auch noch ein vergleichsweise umspektakuläres Ziel wählt: Eine Zeitungsredaktion ist unauffälliger und schlechter geschützt als beispielsweise eine Metrostation oder die Zentrale eines Großkonzerns. Andererseits gibt es für die Ermordung von Journalisten (oh heilige Pressefreiheit!!!) maximale Aufmerksamkeit. So gesehen also ziemlich clever.

Gemessen an dem, was Westeuropa in den 70er und 80er Jahren an Terroranschlägen und Attentaten erlebt hat, ist es in der letzten Zeit doch vergleichsweise ruhig gewesen. Was haben die früher um sich geschossen und gebombt, die Leute von IRA, RAF, ETA und nicht zu vergessen die zum Teil verheerenden Anschläge der Nato-Geheimtruppen, um gezielt Angst und Unsicherheit zu schüren. Da war ganz schön was los in Europa. Nebenbei: Diese Terrorgruppen waren alle nicht islamistisch, sondern alles mögliche sonst, katholisch, protestantisch, separatistisch, linksextrem, rechtsextrem. Aber seit einigen Jahrzehnten ist es mit dieser Art von Terror weitgehend vorbei. Einerseits, weil Staat und Polizei mächtig aufgerüstet haben, zum anderen, weil einige radikale Gruppen auch eingesehen haben, dass ihr anstrengender und verlustreicher Guerillakrieg nicht die gewünschten Effekte hatte: Der Terror gegen das verhasste System macht eben dieses System immer hassenswerter. Es ist eben nicht so, dass das Volk aufsteht und sich mit den vorgeblichen Freiheitskämpfern solidarisiert. Im Gegenteil: Es wird nach mehr Staat und mehr Sicherheit und nach der Wiedereinführung der Todesstrafe gerufen. Ein besseres Leben lässt sich nicht herbei bomben.

Das ist es aber, was der Westen im Magreb und im nahen Osten immer wieder versucht. Der vergleichsweise neue dschihadistische Terror ist die Quittung dafür. Und dank der westlichen Milliardenhilfen in den vergangenen Jahrzehnten sind islamistische Terrororganisationen in jeder Beziehung besonders gut ausgerüstet. Interessante Artikel über die Unterstützung des Westens für Dschihadisten gibt es beispielsweise auf German Foreign Policy.

Bittere Erkenntnis für den Westen: Globalisierung funktioniert auch in die andere Richtung. Vor dem Terror, mit dem die westlichen Mächte die Welt überziehen, können sie sich an der Heimatfront nicht (mehr) wirksam schützen. Ich fürchte, dass es in Zukunft wieder ungemütlicher wird. Denn auf eins kann man sich verlassen: Wenn der Staat Gesetze verschärfen will, tut er das. Wenn er aufrüsten will, tut er das. Wenn er Truppen in den Krieg schicken will, tut er das – egal, was die Leute auf der Straße darüber denken.

Das haben wir doch ständig – willkommen in der westlichen Demokratie: Gemacht wird, was sein muss, um die Nation voran zu bringen. Ob es den Leuten gefällt oder nicht. Das macht die Leute vielleicht ein bisschen “politikverdrossen” – aber das juckt die Politik nicht besonders. Was sein muss, muss sein, da werden Sozialleistungen gestrichen, Schulen geschlossen, das Gesundheitssystem kaputt gespart und dafür ein neues Rüstungsprogramm aufgelegt: Mutti erklärt uns das in der nächsten Weihnachtsansprache auch noch einmal. Es ist überhaupt nicht nötig, irgendwelchen Terror zu inszenieren, damit die Leute Angst haben und leichter zu beeinflussen sind: Der Alltag ist für den Normalbürger schon Terror genug.



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